Sonnentod

[78] »Morgen fallen die Blätter, und ich

Denke kommender Ernten Gold;

Und so herrlich wird sein kommender Ernten Gold,

Daß wir nimmer gedenken fallender Blätter.«

»Wenn alle Blätter gefallen sind,

Dann bleiben am Baum noch zwei oder drei,

Und diese Blätter denken den ganzen Winter dran,

Daß sie den Kummer haben sollen,

Unterm Frühlingshimmel zu fallen.«


(Der Rhapsode der Dimbovitza.)

Fern in Winterdunst versunken

Liegt die graue Stadt. –

Auf bereifter Wiese

Träumt ein Frühgeborener

Von einer Stadt des Lichtes. – – –


In frostigen Dünsten, die zum Himmel qualmen,

Verblutet die Sonne.

Ein weißes Birkenkind mit bebenden Reisern

Starrt bang in die Blutung:

O stirb nicht, Mütterchen Sonne!
[79]

Im zarten Gezweige hängt

Rotkehlchen mit blutiger Brust,

Das Gefieder schaudernd gesträubt:

Die Sonne stirbt, –

Wie Blätter und Mücken starben!


Ein karges Weilchen am Nachmittag

Erhob sie sich und schaute matt

Und schräge über die Wiese;

Dann ward sie ein verweintes Auge,

Und nun ein Tropfen Blut ...

Sie stirbt, – wie jüngst die Blätter starben.


Lebwohl, lebwohl!

Deine Kinder behalten dich lieb.

Sieh, drüben das Häuschen,

Das oft du belächelt,

Grüßt dich wehmütig

Mit glühender Fensterscheibe ...


Und dicker qualmen die frostigen Dünste.

Anfangs müssen sie leuchten wie Nordlicht;

Doch ihr rauchiger Schleier siegt,

Und düster blutend,

Gleich verglühender Kohle,

Erstickt im Qualme die Sonne.


Russige Wolken ragen empor,

Die auf riesigen Rumpfen

Unendliche Flockenlasten zusammentragen,

Die Welt zu verschütten.
[80]

Dämmrung stürzt lawinengleich

Von Wolkengebirgen;

Aus Wolkenklüften haucht der Frost

Schneidend über frierende Gräser.

Krächzend und flügelklatschend

Hastet die Krähe hinweg;

Rotkehlchen ist fort, wie sturmverweht;

Die verwaiste Birke erschauert,

An den Wimpern erfrorene Thränen ...

Die Sonne ist tot! – – –


In Finsternis versunken liegt die ferne Stadt.

Auf erfrorener Wiese

Träumt ein Frühgeborener

Von einer Stadt des Lichtes.

Quelle:
Bruno Wille: Einsiedler und Genosse. Berlin 1894, S. 78-81.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Flucht in die Finsternis

Flucht in die Finsternis

Robert ist krank und hält seinen gesunden Bruder für wahnsinnig. Die tragische Geschichte um Geisteskrankheit und Tod entstand 1917 unter dem Titel »Wahn« und trägt autobiografische Züge, die das schwierige Verhältnis Schnitzlers zu seinem Bruder Julius reflektieren. »Einer von uns beiden mußte ins Dunkel.«

74 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon