Bebenhausen

[211] Die Dämmerung, die über des Kandidaten militärischem Dasein lag, wurde wie von einem Blitz erhellt. An Uli schrieb er, es bestehe die Wahrscheinlichkeit, daß er als untauglich aus dem Dienst entlassen werde. Beim Turnen sei er vom Reck gestürzt und habe den linken Arm gebrochen. Der sei zwar geheilt, aber schief. Wenige Tage nach dieser brieflichen Aeußerung erschien Hainlin persönlich. Witwe Schneckle, seine frühere Wirtin in der Neckarhalde, beherbergte ihn. Er machte sich überaus stattlich im bunten Rock und trug die Gefreitenknöpfe. Den Arm hatte er noch in der Binde. Daß dieser kernhaft deutsche Jüngling solche Beschädigung erlitten hatte, war seinen Bewunderern ein schmerzlicher Gedanke. Wir trösteten uns mit der Aussicht, unsern großzügigen Geistesführer nunmehr für die Dauer zu haben. Er hatte sich nämlich entschlossen, mit dem Amtieren als Lehrer einen Versuch zu machen, und sich zu einer Vakanz an Tübingens oberer Mädchenschule gemeldet.

Zugleich war er von Herrn Ritter, der in Stuttgart Bankdirektor war, gewonnen worden, sich mehr planmäßig Ulis anzunehmen. Uli war dazu von Herzen willig und gestand mir, es sei ihm – das fühle er selber – eine Unbändigkeit eigen, die gezügelt werden müsse, freilich mit Liebe und Verständnis. Dafür wisse er keinen andern als den Kandidaten Hainlin. Seinem Vater hatte Uli wiederholt Grund zur Sorge gegeben. Zunächst durch Schülerstreiche, die seine Entfernung vom[212] Stuttgarter Gymnasium herbeigeführt hatten. Dann durch seine erwachte Männlichkeit. Hochgeschossen, in blühender Kraft, war dieser Sechzehnjährige wie ein brausender Student. Daß er auf seinem Stübchen Bier trank und Pfeife qualmte, erregte bei uns, seinen jüngeren Freunden, zwar Bedenken, aber auch Bewunderung. Welch ein Kerl! dachte ich – und turnen kann er, schwimmen, fechten sogar! Schade, daß Herzog Ulerichs Zeiten vorüber sind! Sonst wäre unser Uli ein zweiter Georg von Sturmfeder.

Es traf sich gut, daß in die Tage des Hainlinschen Urlaubs der Geburtstag Ulis fiel – er vollendete sein siebzehntes Jahr. Zur Feier hatte der Kandidat einen Ausflug nach Kloster Bebenhausen versprochen, und ich durfte, ebenso wie Wendelin, teilnehmen; weiter war niemand geladen. Der Kandidat hatte angeordnet, er wolle am frühen Nachmittag nach Bebenhausen gehen, und zwar mit Uli allein – mit dem hab er unter vier Augen zu sprechen. Daraufhin hatte Wendelin mit mir verabredet, eine Stunde früher als diese beiden im Kloster einzutreffen. Wendelin wollte den Kreuzgang abzeichnen – und ich indessen Flöte blasen. Ich hatte mir nämlich eine Blechflöte zugelegt, um auf diesem schlichten Instrument das seelenvolle Spiel des Kandidaten nachzustümpern.

Zur verabredeten Zeit ging's an Wendelins Seite am Goldersbache hin. Das Tal entlang, zwischen Waldhöhen führt die mit Obstbäumen eingefaßte Landstraße. Auf den Buchenwald zur Rechten deutete Wendelin: »Der Olgahain! Den besucht unser Könik gern, wenn er seine Sommervakanz in Bebenhausen zubringt. Das Kloschter hat er zum Jagdschloß eigrichtet.« Links, wo sich das Wiesental weitet, war jetzt das Kloster sichtbar. Ueber bäuerische Häuschen, Obstbäume, Gemüsegärtchen hoben sich Bauten mit vielen Fenstern, hohen Dächern und einem gotischen Türmchen. An der Landstraße lag das Gasthaus zum Posthörnle, wo wir später den Kandidaten und[213] Uli treffen sollten. Den Wirt bat Wendelin: wenn die andern kämen, solle er sagen, wir seien einstweilen im Kreuzgange.

Im Weitergehen betrachteten wir das deutlich werdende Kloster. Von einer mittelalterlichen Mauer mit Wehrtürmchen war's umschlossen und wirkte vornehm durch die stolzen Giebel und großzügigen Ziegeldächer. Vom Kalkbewurf hob sich dunkelbraun, in reicher Verschränkung, das wuchtige Gebälk ab. Empor zu sommerlichen Wölkchen strebten ein paar Dachreiter. Deren einer war ein stattliches Kunstwerk: ein Glockenturm, aus schmalen Steinpfeilern gotisch zusammengewoben, so daß die Glocke hervorlugte. »Vor achthundert Jahren« – meinte Wendelin – »hat's da net so großartik ausgsehn. Eine dürftige Klause war da am Goldersbach gekauert, dem heiligen Babo geweiht. Begüterte Mönche hänt später Bebenhause zum Kloschter gestaltet, immer stattlicher ist's worde.«

Bewundernd standen wir vor dem hohen Gemäuer aus gewaltigen Quadern. Efeu nebst wildem Wein schlingt sich dran empor. Wie eine mittelalterliche Feste schaut's drein. Das Bogentor führt zu einem Zwinger; dessen Schießscharten lugen auf Umwallungsgraben, Gesträuch und Wiese. Durch ein Pförtchen links gelangten wir in einen dunklen Treppengang und stiegen Steinstufen empor; ganz ausgetreten sind sie von den Füßen derer, die hier während mehrerer Jahrhunderte gegangen sind. »Den Fuchsbau heißt mr dees,« sagte Wendelin. – Wir kamen wieder ins Freie und standen bald vor dem eigentlichen Klosterbau. »Da schau dees wunderbare Kreuzgängle!« Wendelin meinte den gewölbten Gang, der in Form eines Quadrats um den Klostergarten führt. Zwischen den schlanken Säulen der offenen Fensterbogen blickt man hindurch, auf Rosen, Blumenbeete. Umwoben von wildem Wein, dessen Blätter sich leicht röteten, war mitten im Garten ein steinerner Springbrunnen. Von Becken zu Becken fiel raunend das Wasser. Rings blühten weiße Rosen.[214]

»Oh, diese Kreuzwölbungen!« schwärmte Wendelin, der Sinn für harmonische Form hatte. »Wie zart fügt sich dees alles! Pflanzenhaft scheint der Stein emporzuwachsen, zur Decke rankt er – da hat's zierliche Gewebe. Gelt? wie reich an Abwechslung die Schnörkel da sind! Alle paar Schritt kommt ein neues, eigen erfundenes Schlußstück. Alles so schön mathematisch. In eme Kloschter, wo man so wandeln kann, in lieblicher Ordnung – da könnt i's allefalls aushalte, trotz Geißelkammer ond so Zeugs. Guck die Schwälble da, wie die sich wohl fühle!« Und er deutete auf Schwalben, die ihre Nester zwischen das steinerne Rankwerk geklebt hatten – mit anmutiger Hurtigkeit, geisterhaft lautlos schwebten sie durch die Kreuzgänge. Mücken haschten sie, ihr Jauchzen mischte sich ins sanfte Geraume des Brunnens.

Bald saß Wendelin in einer Nische, mit dem Stift in sein Skizzenbuch zeichnend. Ich aber hatte im Klostergarten Platz genommen, bei dem singenden Brünnlein und den weißen Rosen. Weiche Töne suchte ich meiner Blechflöte zu entlocken. Ich liebte eine Weise, die am Sommerabend Lustnauer Mädchen sangen:


»Durchs Wiesetal gang i jetzt na,

Brech lauter Batenke dort a ...«


»Fertik!« sagte Wendelin und wies mir seine Zeichnung. Klar und innig gab sie den Kreuzgang wieder. »Komm jetzt weiter!« Ich folgte in eine offene Halle. Mitten stand auf einem niedrigen Sockel das Steinbild eines bärtigen Ritters. »Graf Aeberhard im Bart!« sagte Wendelin – und ich bestaunte die kraftvolle Gestalt im Harnisch, das gebieterische Gesicht mit dem wallenden Bart.

»Aus Sandstein ist er, scheint's,« sagte ich zu Wendelin, der wieder zeichnete. Um die Steinart festzustellen, wagte ich die Hand zu befühlen, die der Majestätische mir entgegenstreckte. Und ermutigt, weil er sich das gefallen ließ, klopfte ich mit der Blechflöte ein wenig an Eberhards Zeigefinger. Wie erschrak ich,[215] als der Finger knack machte und – abgebrochen auf der Steinfliese lag. – Himmel, was hatte ich angerichtet! Erst glaubte ich, mich narre eine Sinnentäuschung. Aber da lag der Finger, an der Hand war ein Stumpf. »Wendelin!« stöhnte ich. »Etwas Schreckliches ...« Er stand an meiner Seite und sah die Bescherung. »O Himmel! Dees ischt e beese Gschicht!« Schon hatte er das Skizzenbuch in seiner Jackentasche geborgen und die Schülermütze aufgesetzt, während ich den abgebrochenen Finger aufgehoben hatte und anstarrte. Wie gelähmt war ich, als jetzt hastige Schritte nahten ... Der König kommt! dachte ich.

Doch ich durfte aufatmen – der da kam, war Freund Uli. »Ach, Uli!« klagte ich und berichtete, was geschehen. »Fort! Net lang gfackelt!« drängte Wendelin. Aber Uli beschwichtigte: »Immer kalt Blut! Zeig dees Fingerle her! Vielleicht kann mer's napappe! Hat keiner e bisle Leim?« Mit gekneteter Brotkrume suchte er den Finger an den Stumpf zu kitten – vergebens. Das Fragment fiel ab.

»O Brunole!« sagte Uli geringschätzig – »bischt du e Kerle! Ond damit net genug! Auch noch d Linda tuscht uns auf den Hals lade!« – »Wieso? Linda? Ich hätte –? Linda Kuttler? Unsinn!« – »Doock! Sie ischt komme, mit ihrem Bruder, doran bischt doch du schuld. Dem Enzio hascht gesagt, daß mr in Bebehause send mit dem Kandidate.« – »Das hab ich allerdings gesagt – aber nicht, daß er mitkommen soll! Die Linda einzuladen, wäre mir erst recht nicht eingefallen. Ich weiß ja, der Kandidat kann sie nicht ausstehn!« – »Also! Grad deshalb war's onvorsichtik von dir, zum Enzio zu schwätze. Du solltest doch wissen, wie aufdringlich die Linda dem Kandidaten nachstellt.« Und es erzählte Uli, er sei mit dem Kandidaten den Waldpfad dahergekommen, der die Landstraße begleitet, – da hab' er die Linda mit dem Enzio bemerkt. Weil sie Bebenhausen[216] zugingen, habe sich der Zusammenhang erraten lassen. Der Kandidat sei nun stehen geblieben: Mit der Linda mög' er net zusamme sein, um keinen Preis. Er schlag' daher vor, daß man ein andres Ziel als Bebenhausen wähle. Uli solle nach dem Kloster springen, Wendelin und mich verständigen – Treffpunkt Olgahain. »Also jetzt, da bin i, ond ihr wißt Bescheid. Auf, ganget mr! Daß ons dr Enzio net trifft ond die Linda!«

Aber da kam er schon. An unserer unfreundlichen Miene merkte er sofort, er sei nicht willkommen – mißtrauisch rollten ihm die schwarzen Augen. Der freimütige Uli sah ihn fest an: »Du, Enzio? Waas willscht denn du bei ons? Heut hänt mr deine Gesellschaft net gern. Der Kandidat Hainlin, grad heraus gsagt, mag mit der Linda net zusammetreffe. Ond jetzt ganget mr! Nix wird aus dr Partie! Du bischt schuld, daß die Linda mitkomme ischt – deescht einfach taktlos!«

Roten Kopfes stammelte Enzio: »Dees – dees ... Mei Vatter hat mir den Ausflug bloß gestatte wolle, wenn die Linda mitkam.« – »Na hättescht selber wegbleibe solle,« entschied Uli kühl. – »Aber – aber ... was ischt denn mit der Linda? warom mag dr Kandidat sie gar net?« – »Also Enzio – wenn du's wisse willscht: die Linda ischt e charakterloses Weibsbild!«

»Enzio!« sagte ich beklommen. »Ohnehin könnten wir nicht in Bebenhausen bleiben. Wir müssen uns gleich aus dem Staube machen. Sieh doch, hier fehlt dem Eberhard der Finger.« – »Ha,« sagte er stutzig – »wie ischt dees komme?« – Und ich erwiderte kurz: »Abgeschlagen ist er – mit der Flöte! Fort müssen wir, ohne Verzug – sonst kriegt man's noch mit der Polizei zu tun.« Ich hatte noch so viel Besonnenheit, den Finger in eine Ecke des Refektoriums zu legen – damit er dort beim Fegen gefunden würde. Enzio blickte finster und verkrümelte sich.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 211-217.
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