Der Hallelujah-Mister

[336] Ueber Enzio hatte ich im Wirtshaus »Zum Maierhöfle« folgendes in Erfahrung gebracht: Der die Choräle singe, wohne seit Wochen im Hause gegenüber zwei Treppen hoch. Der Volksmund heiße ihn den Aemörriken- oder Hallelujah-Mister. Er nenne sich Köttler und sei ein Schweizer, der lange in Amerika gelebt habe. In Württemberg hab' er als Kriegslieferant zu tun.

Als ich im bezeichneten Hause die Treppe emporstieg, ging vor mir eine weibliche Gestalt, die aus der Wohnung des ersten Stockwerks gekommen war und auf einem Präsentierbrett Kaffeegeschirr trug. Im zweiten Stockwerk klopfte sie an eine Glastür, und gleich darauf wurde geöffnet – von einem kurzen, gedrungenen Mann mit geschorenem Graukopf und schwarzem Borstenbart.

Als er das Fräulein mit dem Kaffee hatte eintreten lassen, zog ich den Hut: »Entschuldigen Sie, Herr Köttler! Darf ich Sie sprechen?« Er stutzte und schwieg. Wie dann das Fräulein mit leerem Tablett herauskam, ließ er mich eintreten. In der Helligkeit des Zimmers erkannte ich Enzios kohlschwarze Augen – mißtrauisch funkelten sie mich an, während er knurrte: »Waas wöllet Sie von mir?« – »Wenn Sie gestatten, alte Bekanntschaft erneuern. Mein Name ist Wille – Ihr ehemaliger Mitschüler bin ich.« – »Wa –?« Sein Mund blieb offen,[337] während er mich anstarrte. – »Ja, Ihr Kamerad vom Glasberg-Bunde bin ich!«

Jetzt verzog sich sein Gesicht zu einem seltsamen Gemisch von Bestürzung, Lächeln und Wehmut. Noch immer schwieg er – wie versteinert –, nur daß aus seiner Brust ein mattes Glucksen kam. Seine seelische Bewegung rührte mich – ich streckte ihm die Rechte hin. Er griff nicht zu, ließ den Kopf hängen und konnte, abgewandt, ein Aufschluchzen nicht unterdrücken. »Enzio!« begütigte ich. Schüchtern blickte er auf – mit einer Gebärde lud er mich ein, am Tische Platz zu nehmen. Er stand derart am Fenster, daß sein Gesicht im Schatten blieb, während er mich beobachten konnte.

»Hänt Sie von mir ghört?« begann er – »von meinem Lebenslauf?« Ich nickte, und düster fuhr er fort: »Im – Zuchthaus bin i gsi! Sell ischt Ihne bekannt?« – »Ich weiß.« – »Ond auch – weswege i neikomme bin?« – »Auch das.« – »Ond dees – tut Sie net abschrecke?« – »Beim Naso haben wir den Spruch gelernt: Homo sum – nichts Menschliches bleibe mir unverständlich!«

Er seufzte stöhnend: »Gelt? Ond irren – irren ist menschlich!« Nun setzte er sich auf einen Stuhl. »I – dank Ihne – daß Sie trotz ...«

Er verstummte. Während ich ihn schweigend betrachtete, irrte sein Auge zum Fenster hinaus. »Dort!« sagte er träumerisch – und seinem Blicke folgend, sah ich die Burg, die den steilen Berg krönte. »Dort hänt wir Räuberles gspielt – beim Hungerturm Schillers Räuber. Ond i bin dr Spiegelberg gsi. Wer hätt dazumal ahne könne, daß i mei Spiegelbergrolle noch emal sollt im Ernscht spiele, he?«

Im Geiste sah ich die Szene, wie Enzio in Banditentracht den Dolch schwang. Und als errate er meinen[338] Gedanken, murmelte er dumpf: »Meuchelmörder! Von hinte meucheln – ja, dees han i wölle, dees stimmt! I mag mi net verteidige – Hiob hat recht: Ich weiß fascht wohl, daß ein Mensch nicht rechtfertik bestehe mag gegen Gott. Ha no! Bloß daß i zur Steuer dr Wahrheit sag: Jury and morality sind zweierlei: Nach dem law, wie's die Jurischte ahnwende, bin i koin Mörder! Den Gassemaier han i net vergiftet, noi noi!«

Ich suchte ihm ins Herz zu spähen: »Enzio! Wie? Unschuldig wärst du?« – »Ohnschuldik? Dees sag i net! Schuldik bin i nach dr morality! Gedankesünd han i begange, sell ischt woahr! Aber vor der Ausführung hat mi mei Herrgott bewahrt!« – »Enzio! Vor mir hättest du nicht nötig zu leugnen. Ich möchte die Menschen ja bloß verstehn – nicht verdammen!«

Er stand vor mir, Aufrichtigkeit im Gesichtsausdruck, und mit wehmütigem Lächeln reichte er mir die Hand: »Grüß di Goot, Bruno! Wo du so zu mir rede tuscht, send mr wieder Kamerade, gelt?« – Wir schüttelten einander die Hände, er fuhr fort: »Gotwillche, Gotwillche! Eure Rede sei ja ja, nein nein, ond waas darüber ischt, daas ischt vom Uebel, gelt? Drum so sag i: Ja! Die Hand da, wo i dir reich' – von Mord ischt sie rein! Ja die Hand! Wenn auch leider net's Herz. Den Gassemaier han i net umbracht, by Got!«

Ich konnte nicht umhin, dem ehrlichen Ausdruck zu trauen, erschüttert starrte ich ihn an: »Aber, Enzio! So hättest du unschuldig im Zuchthaus gesessen?« Abwehrend hob er die Hand: »Ohnschuldik? Des Gotlosen Herz ischt voll Trugs – ond er lauert in seiner Höhl als ein Löwe, zu erwürgen den Ohnschuldigen! Mei Straf han i verdient – reichlich! Aber – dem Gassemaier han i's Leben net gnomme, koi Mensch ischt von mir getötet, by Got!«[339]

»Enzio, erkläre mir: Woran ist Gassenmaier denn gestorben?« – »An Pilzvergiftung, dees stimmt! Bloß daß net i die Giftpilz neitan hab in Lindas Körbli – sie selber war's.« – »Was? Sie hätte ihren Mann vergiftet?« – »Versähentlich!« – »Und du, Enzio, hättest gar nichts damit zu tun?« – »Dooch, dooch! Den Giftmord han i tun wölle, dees stimmt! Die Gedankesünd han i begange – ond dicht vor dr Ausführung selbigen Giftsmords bin i gstande! Wohl, wohl! I bin e arger Sünder! Bin ja auch vom Weibe geboren! Ond siehe, unter Gottes Heiligen wird keiner befunden ohne Tadel – die Himmel sogar sind net fleckelos vor unserm Herrn Zebaoth. Um wie viel wäniger dr Mensch, wo Unrecht saufe tut wie die Kuh Wasser.«

Schwärmerisch hatte er gesprochen, die Hand erhoben wie zur Predigt. Mir kam der Verdacht, diesem Fanatiker sei's vielleicht nicht ganz richtig im Kopfe. »Enzio! Ich bin nicht gekommen, dich aufzuregen. Laß dich nicht stören! Man hat dir den Kaffee gebracht – er wird kalt.« – »Ha jo!« sagte er seufzend und strich sich über die Stirn – »aber du! Nimmscht au ebbes? I han mancherlei Guts da – es wäre mir e Freid', di zu bewirte. Waas also wischt? Echten Mokka? Oder Schokolad? Schwyzer Fabrikat! Da schau!« Und einen Schrank öffnend, holte er Schokoladetafeln heraus, drückte dann auf den Knopf der elektrischen Klingel: »Jetzt, Kamerad, tu dir bstelle, waas du magscht! Also gelt? Schokolad!« Als ich seine Gastbereitschaft zu dämpfen suchte, fügte er mit herber Wehmut hinzu: »Gift – ischt net drin, glaub mir's!«

Dem eintretenden Fräulein gab er den Auftrag, von den überreichten Tafeln Schokolade zu kochen. Dann wollte er mir Zigarren aufnötigen: »Alles han i da! Bloß Alkohol kriagscht koinen! Satanas gehet ja im Rausch umher als e brüllender[340] Löwe ond suchet, wen er verschlinge. Des Menschen Fleisch ischt halt net von Stoin ond seine Kraft nicht ehern. Mi hat's Biersaufe mit dene Studente ond dr Whisky zum Lumpe gmacht. Bis daß dr Herr in seiner Gnad mich dem Löwenrachen entrisse hat ond herausgholt aus dem Walfischbauch wie den Jonas. I tu dir's verzähle, gelt?«

Als die Schokolade gekommen war und duftig dampfte, saßen wir auf dem Sofa. Die Fremdheit, die zuerst trennend gewirkt hatte, war im Schwinden, da jeder in des andern Gesicht Züge aus der Knabenzeit entdeckte. Eine Last war mir vom Herzen, seit ich glauben durfte, Enzio sei kein Mörder. Mit Spannung sah ich seinem Bericht entgegen.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 336-341.
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