Lawīnen

[271] Lawīnen (auch Lauinen, Lauwinen, in den Ostalpen Lahnen), Schneemassen, die von ihrem Lager an den Bergabhängen hoher und steiler Gebirge talwärts abgleiten. Diese Erscheinung findet zumeist im Frühjahr, in gefährlichster Weise im März und April, statt, wenn die Schneelagen durch das sie durchdringende Tauwasser vom Boden losgelöst werden und dieser zugleich schlüpfrig gemacht wird. Die zusammenhängenden Schneemassen kommen zunächst in eine rutschende Bewegung, die dann von geringer Geschwindigkeit bleibt, wenn die Abhänge wenig steil sind; derartige L. nennt man Rutsch- oder Schleichlawinen, auch Schlüpfe. Sind jedoch die Abhänge steil, so gleitet oder rollt die Schneemasse mit stets wachsender Schnelligkeit niederwärts und vergrößert sich durch die in ihrer Bahn liegenden Schneemassen, Felsblöcke, entwurzelte Bäume etc. fortwährend und oft sehr rasch. Die Schnelligkeit dieser kolossalen Schneemassen wird so groß, daß schon der ihnen voranstürmende Luftdruck Menschen und Tiere, Bäume und Häuser niederwirft oder fortschleudert. Erreicht die Lawine einen jähen Abhang, so stürzt sie unter furchtbarem Donner hinunter. Diese Grund- oder Schlaglawinen zerschmettern und begraben alles, was sie in der Tiefe des Tales antreffen. Minder gefährlich sind die Staublawinen, die im Spätwinter fallen, aus trocknem, lose herabrollendem Schnee bestehen und nur durch ihre ungeheure Masse verheerend wirken können. In den höhern Gebirgsregionen entstehen im Sommer Eis- oder Gletscherlawinen dadurch, daß sich bei länger andauernder Wärme Teile steiler Gletscher ablösen und in Bewegung setzen. Solche Einstürze von Gletschern haben bisweilen entsetzliche Zerstörungen angerichtet, z. B. jener des Biesgletschers (Wallis) 1819, der das Dorf Randa verwüstete. Zum Schutz vor L. errichtet man hinter den Häusern Lawinenbrecher, keilförmige, mit der Schärfe nach der Berghöhe zugekehrte Steinbaue, welche die heranbrausende Lawine in zwei vom Hause selbst abgelenkte Teile trennen sollen. Ähnlichen Schutz kann unter Umständen ein Wald gewähren, der dann, wie bei Andermatt im Urserental, als Bannwald nicht gefällt werden darf. In neuerer Zeit verbaut man die Stellen, wo mehr oder minder regelmäßig L. losbrechen, die Lawinenzüge, mit Pfahlwerken, Flechtzäunen, Schneebrücken und Mauerwerk und sucht durch Aufforstung kahler Hänge das Losbrechen der L. an ihrer Ursprungsstelle zu verhindern; Alpenstraßen werden auch an gefährdeten Stellen so überbaut, daß die L. über die Dächer hinweggehen. Der Nutzen der L. besteht in dem Wegräumen des Schnees von hochgelegenen Matten, die sonst manchmal den ganzen Sommer hindurch schneebedeckt blieben. Vgl. Coaz, Die Lauinen der Schweizeralpen (Bern 1881); V. Pollak in der »Zeitschrift des österreichischen Ingenieur- und Architektenvereins, 1889«; Landolt, Die Bäche, Schneelawinen etc. und die Mittel zur Verminderung der Schädigung durch dieselben (Zürich 1887); Ratzel, Die Schneedecke (Stuttg. 1890).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 271.
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