Hundertneunundachtzigste Geschichte

[207] geschah in Tagen Raschi. Raschi macht: Rabbi Schlaumo Jizchok. Der Raschi war ein geborener Zorfaus (Franzose) aber in Worms hat er gewohnt. Un da hat er ein Bethhamidrasch (Lehrhaus) un hat auch einen Oraun hakaudesch (Heiligen Schrein) drinnen, denn er hielt es mit einem als ein Bethhakneses (Bethhaus), das man heut des Tages noch heißt Raschi-Schul. Un die Leut pflegten alle Erew Roschchaudesch (Vorabend des Monatanfangs) Jomkipur koton (kleiner Versöhnungstag, monatl. Fasttag) drinnen zu machen. Un die Bocherim (Schüler) pflegten alle Simchas Thauroh (Fest der Gesetzesfreude) Schul drinnen zu halten. Das tät man als Raschi zu ehren. Nun, es geschah einmal auf eine Zeit, daß der Herzog von Lothringen, welcher genennt war Gottfried von Bouillon mit einem großen Volk, un wollt nach Jeruscholajim ziehn, um mit den Türken Milchome (Krieg) zu halten. Also hat er viel hören sagen von der Chochme (Weisheit) von Raschi, als daß ihn die Umaus (Völker) so wol für einen Chochom (Weisen) halten, als die Jehudim auch. Denn er war für einen Nowi (Propheten) gehalten, wie auch die Wahrheit gewesen is. Also schickt der Herzog nach Raschi, daß er zu ihm kommen sollt, denn er wollt eine Ezeh (Rat) von ihm nehmen. Aber Raschi wollt nit zu ihm kommen. Wie das der Herzog sah, daß Raschi nit zu ihm kommen wollt, so verdrießt es den Herzog gar sehr, als daß ein Jehude an ihm sollt mored sein (sich auflehnen). Also macht sich der Herzog auf, mit all seinem Volk, un zieht bis nach Worms, un ging vor Raschi sein Haus. Da fand der Herzog all die Türen offen, un die Seforim (Bücher) lagen auf dem Tisch offen. Aber er sah keinen Menschen im Haus. Da hebt der Herzog an zu rufen mit lauter Stimme: »Schlaume, Schlaume, wo bist du?« Da antwortet ihm Raschi: »Was begehrst du, Herr?« Da sagt der Herzog: »Schlaume, wo bist du?« Da antwortet Raschi: »Da bin ich, mein Herr.« So oft als ihn der Herr ruft, so oft gab ihm Raschi Antwort. Aber er sah niemand. Welches der Herzog mächtig drüber verwundert war. Un ging wieder heraus. Da kam einer von Raschi seinen Talmidim (Schülern). So fragt er ihn: »Wohnt Raschi hinnen?« Da antwortet ihm der Talmid: »Ja, er is mein Meister.« Da sagt der Herzog: »Sag deinem Meister, daß er zu mir kommt. Ich schwör bei meinem Haupt, daß er keinen Schaden von mir empfangen soll.« Wie nun Raschi das hört, da ging er zu dem Herzog un fiel ihm zu Füßen. Aber der Herzog hebt ihn wieder auf un sagt: »Jetzundert hab ich deine Weisheit gesehen. Nun will ich dir mein Begehr sagen, warum daß ich hierher zu dir bin gekommen. Mein Begehr is, daß du mir sollst raten, in einer großen Sach, die ich vor hab zu tun. Ich hab vorbereitet ein großes, mächtiges Volk zu Fuß un zu Pferd. Un mein Sinn[208] is, daß ich Jeruscholajim will bezwingen. Denn ich bin versichert in Gott, ich werd den Türken wol beikommen, daß sie keine Milchome (Krieg) werden mehr halten. Derhalben bitt ich dich, laß mich deinen Rat hören, un sag mir frei heraus. Du bedarfst dich nit zu ferchten, ob du mir gut oder bös sagst. Denn wie du mir ratest, will ich dir folgen. Denn ich weiß, daß du ein halber Nowi (Prophet) bist. Also, daß du einem die Wahrheit kannst sagen, wie es einem gehn kann in dem Krieg. Derhalben bitt ich dich, du wirst mir den Emes (Wahrheit) sagen, ob ich den Krieg gewinnen werd oder nit.« Da sprach Raschi mit wenig Worten: »Mein Herr, ich will euch die Wahrheit sagen. Ihr werdet im Anfang groß Glück haben. Un ihr werdet Jeruscholajim bezwingen. Un ihr werdet drei Tage darinnen königen. Aber am vierten Tag, da werden sich die Ismaelim wieder versammeln un werden dich wieder heraus treiben. Un ihr werdet müssen flüchten. Un euer meistes Volk wird euch derschlagen werden. Un die euch werden überbleiben, die werden unterwegen sterben. Un ihr werdet wieder in die Stadt kommen mit drei Mann un einem Roßkopf. Derhalben mögt ihr nun tun, wie ihr wollt. Nun habt ihr meine Meinung wol gehört.« Wie nun der Herzog die Rede von Raschi hört, tät es ihm gar bang. Un sagt wider Raschi: »Es mag wol sein, daß du mögst wahr haben, un es mag mir geschehn, wie du mir sagst. Aber das sag ich dir zu, wenn ich werd wieder kommen mit vier Mann, so will ich dein Fleisch den Hunden zu essen geben, un will all die Jehudim in meinem Land töten lassen.« Un also zieht der Herzog weg mit all seinen Reitern, aber es ging ihm gleich wie Raschi gesagt hat. Un kam wieder nach Worms mit drei Mann un drei Pferden un er un sein Pferd is der Vierte gewesen. Das hat wol vier Jahr gewährt. Denn er war wol vier Jahre im Krieg gewesen. So lang hat der Krieg gewährt. Da er nun nahe bei Worms war, gedacht er der Rede von Raschi, wie er ihm gesagt hat, er sollt mit drei Pferden wieder kommen un er kam nun mit vier Pferden wieder. Un sein Sinn war, Gott behüte, daß er Raschi, Gott bewahre, wollt töten. Denn er hat es verheißen, wenn er wieder mit vier Pferden wird kommen, so will er Raschi sein Fleisch den Hunden zu essen geben. Aber der Heilige, gelobt sei er, verstört die Gedanken der Bösen. Denn, wie der Herzog zu Worms in das Tor wollt hinein reiten, so fällt ein Balken mit eisernen Spitzen, wie sie gemeinlich an den Toren von den Orten pflegen zu haben, un zu Kriegszeiten läßt man sie herab außenwendig vor das Tor. So fällt das selbigemal die Balken von sich selbst herab. Da war eben der Herzog mit drei Mann nach Worms gekommen, un der vierte Mann is nit mit dem Herzog in die Stadt gekommen. Denn der Balken schlug seinem Roß den Kopf ab. Da mußt der Mann, der drauf geritten hat, haußen bleiben. Da derschrak der Herzog gar sehr, un bekennt,[209] daß ihm Raschi recht prophezeiht hat, als daß er nit mit vier Pferden wieder in die Stadt hinein kommen wird. Un der Herzog wollt zu Raschi gehn, eh er in sein Haus wollt hinein treten, un wollt sich neigen un bücken gegen ihn un wollt sich um sein Newius (Prophezeihung) bedanken. Wie er nun vor Raschi sein Haus kam, da lag er noch in seinen Oraun (Sarg), daß man ihn noch nit hat zu Grabe getan. Wie nun der Herzog hört, daß Raschi gestorben war, da trauert er gar sehr auf Raschi, wie nun wol billig war, die Trauer auf einen solchen Mann zu treiben. Unser Herrgott soll uns sein Sechus (Verdienst) genießen lassen an ganz Jisroel. Omen.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 207-210.
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