Hunderteinundneunzigste Geschichte

[211] geschah: Rabbi Akiwe, der war einmal im Bethhakneses (Bethaus) un hat eine köstliche Perle in seiner Hand, das war, gar viel Geld wert. Un wie er das Perl in seiner Hand hat, so war da ein Mann auch im Bethhakneses, der ging gar schlecht in den Kleidern, daß die Leut nit meinten, daß er einen Gulden zu bezahlen hat. Un saß in dem Bethhakneses auf einem Fleck zwischen den Armen, daß jedermann meint er war sehr arm. Un da derselbige Mann das köstliche Perlen in der Hand von Rabbi Akiwe sah, da fragt er Rabbi Akiwe, ob er das Perl wollt verkaufen. Un gab Rabbi Akiwe die besten Worte, daß er mit ihm sollt heimgehn. Der Rabbi Akiwe ließ sich überreden un ging mit dem Mann heim, der so gar zerrissene Kleider an hat. Also ging Rabbi Akiwe vor, un seine Talmidim (Schüler) nach, bis er kam vor dem Mann sein Haus. Da kamen ihm entgegen seine Knechte un nahmen den Mann un setzten ihn auf einen goldenen Stuhl un wäschten ihn un bedienten ihn un gab allsobald dem Rabbi Akiwe das Geld für seine Perl. Un der Mann gebot, man soll den Rabbi Akiwe viel Ehren antun mit seinen Talmidim. Also bracht man einen Tisch vor sie, um zu essen. Da esset Rabbi Akiwe mit seinen Talmidim un sie waren fröhlich. Un da sie nun gegessen hatten, da sagt Rabbi Akiwe wider, den Mann: »Mein lieber Freund, dieweil der Heilige, gelobt sei er, dich hat geleutseligt, un hat dir beschert einen solchen Kowed (Ehre) un einen solchen Reichtum, den ich bei dir gesehen hab, warum hast du solche zerrissene Kleider an un hast dich so schofel (armselig, gering) gemacht? Un hast dich gesetzt zwischen die Armen im Bethhakneses (Bethaus)?« Da antwortet der Mann: »Lieber Rabbi, das will ich euch sagen, der Posuk (die Schrift) sagt, der Mensch is zu einem Hewel (Nichts) geglichen. Die Tage des Menschen sind wie ein Schatten, der vorüber fährt un geht hinweg. Also is der Mensch auch. Heut lebt er, morgen is er tot. Un wenn einer heut schon reich is, morgen kann es kommen, daß er, Gott bewahre, wieder arm wird, denn das Gilgal (Weltrad) geht in der Welt herum. Heut is einer reich un morgen arm. Darum hab ich mir gedacht, wenn ich bei den Armen sitz, das is mir gar gut derwartend, daß ich mich mit meinem Reichtum nit berühme. Un noch mehr, wenn ich mich sollt choschew (vornehm) halten, un sollt mich gar obenan setzen, un der Heilige, gelobt sei er, sollt mich, Gott bewahre, strafen, daß ich wieder arm sollt werden, da müßt ich[211] auf einen schoflen (geringen) Platz sitzen gehn. Aber jetzundert bleib ich auf meiner Stelle sitzen. Un noch mehr, mein lieber Rabbi Akiwe, warum soll ich mich hoffährtig halten mit meinem Geld? Wir haben doch alle einen Gott, gelobt sei er, ein Gott hat uns beschaffen. Un warum soll sich denn ein Mensch mehr halten als der andere auch? Hat doch der Heilige, gelobt sei er, den Menschen gar feind, der sich hoffährtig hält, un das Gehinnem steht vor ihm offen. Un warum soll ich mich berühmen mit meinem Geld? Un auch, wenn ich bei den armen Leuten untenan sitz, so kann ich hören, was ihnen abgeht in ihren Häusern.« Un wie Rabbi Akiwe solche Rede von dem Mann hört, da gefiel es ihm gar wol, un lobt den Mann gar sehr un benscht (segnet) ihn un sprach: »Du tust nit wie unser Geschlecht pfleget zu tun. Denn wenn einer jetzundert Geld hat, da berühmt er sich gar sehr. Un darum kommt, mit Gottes Willen, oftmal, daß ihm der Reichtum nit bleibt.« Derhalben ihr Leut, seht was der Mensch bedeut. Wenn einer schon viel Geld hat, so soll er sich doch nit hoch halten gegen die Leut. Wie dieser Mann auch getan hat, der sich gar schofel (gering) hat gehalten, un is sehr reich gewesen, un hat in seinem Haus viel Gutes an arme Leut getan. Diese Geschichte steht im Midrasch.

Quelle:
Allerlei Geschichten. Maasse-Buch, Buch der Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch nebst Volkserzählungen in jüdisch-deutscher Sprache, Nach der Ausgabe des Maasse-Buches, Amsterdam 1723, bearbeitet von Bertha Pappenheim, Frankfurt am Main: J. Kauffmann Verlag, 1929, S. 211-212.
Lizenz:
Kategorien: