[195] 70. Der Ursprung des Honigfestes

Es waren einst zwei Brüder. Der eine machte sich eine Jagdhütte in der Krone eines Azywaywabaumes, auf dem sich die Araras zu versammeln pflegten, um die Blüten zu fressen. Er hatte schon viele Araras geschossen, als zwei Jaguare kamen. Sie brachten Stücke von Kürbisflaschen mit, die sie mit Nektar anfüllten, den sie aus den großen, gelben Blüten des Azywaywa auspreßten. Der Mann sah ihnen verwundert zu, getraute sich aber nicht, auf sie zu schießen. So beobachtete er sie täglich lange Zeit hindurch.

Eines Tages wollte sein Bruder auch in der Jagdhütte ansitzen. Da erzählte er ihm, daß er dort die beiden Jaguare treffen werde, und warnte ihn, er solle nicht auf sie schießen. Der Bruder begab sich in die Jagdhütte. Als aber die beiden Jaguare gekommen waren und sich dicht bei ihm auf die Äste setzten, glaubte er wenigstens den einen töten zu können, und schoß zwei Pfeile auf ihn ab, die nicht die geringste Wirkung taten. Darauf schoß er auch zweimal auf den anderen Jaguar, mit dem gleichen Erfolg. Nun bemerkten aber die Tiere, daß er in der Jagdhütte war. Da verursachten sie einen heftigen Sturm, der die Jagdhütte samt dem Jäger zur Erde schleuderte und zerschmetterte. Die Jaguare aber stiegen herab und schleiften den Leichnam nach dem Eingang zur Unterwelt, der nur so groß war wie ein Ameisenloch. Durch diese Öffnung zogen sie ihn hinab.[195]

Am anderen Tage dachte sich der Bruder des Toten gleich, daß jener seine Warnung nicht beachtet hätte und verunglückt wäre. Er ging, um ihn zu suchen, fand die herabgestürzte Jagdhütte und folgte der Blutspur bis zu dem Ameisenloch. »Hier müssen sie ihn hinabgezogen haben,« sagte er sich und verwandelte sich in eine Ameise. Er kroch durch das Loch hinab und kam bald auf eine breite Straße, die nach dem Dorf der Jaguare führte. Schon von weitem hörte er von dort deren Gesänge. Er sah in dem Dorf ein großes Haus, vor dem der Leichnam seines Bruders in der Sonne an einem Holzkreuz angebunden war. Er ging in das Haus hinein und sah an einer Stange unter dem Dach viele Gefäße mit Honig aufgehängt. Darunter tanzten und sangen die Jaguare des Nachts, und der Mann fand dieses Fest so schön, daß er seinen toten Bruder ganz vergaß und nur noch den Wunsch hatte, mittanzen zu dürfen. Er lernte die ganzen Gesänge, und schließlich meinte er, die Jaguare würden ihn wohl auch in Menschengestalt nicht erkennen. So verwandelte er sich allnächtlich in einen Menschen und sang und tanzte mit den Jaguaren, und tagsüber wurde er zur Ameise.

So trieb er es, bis er den Jaguaren alles abgelauscht hatte und ihrer überdrüssig war. Dann kehrte er durch das Ameisenloch an die Oberwelt zurück und erzählte seinem Volk, was er gesehen und gelernt hatte. – »Laßt uns heute singen!« sprach er zu den Leuten, aber diese antworteten: »Wie singt man denn?« – Da lehrte er sie singen. – »Laßt uns nun Honig holen! Ich weiß, wie man unter dem Honig singt.« – Sie taten es und brachten den Honig in das Dorf unter Freudengeschrei. Nun lehrte er die Frauen unter den aufgehängten Honiggefäßen singen, und einen Monat später zeigte er auch den Männern, wie man den Honig mit Wasser mischt und auf dem Dorfplatz das Fest feiert.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 195-196.
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