[303] 115. Der alte Latrapai

[303] Der alte Latrapai hatte zwei Töchter. »Sie sollen mir arbeiten,« sagte er. »Ich werde meine beiden Töchter verkaufen.« Er hatte aber auch zwei Neffen. »Meine beiden Neffen werden mir arbeiten; dafür sollen sie sich mit meinen Töchtern verheiraten,« sagte der alte Latrapai.

Da machten sich die beiden Brüder auf; der eine hieß Konkel, der andere Pediu; und sie kamen beide an. Da wurden ihre beiden Sitze ganz mit Nadeln gespickt.

»Wenn ihr mir beide arbeitet, meine Söhne, so will ich euch meine beiden Töchter geben,« sagte er zu ihnen.

»Gut!« sagten sie, »was sollen wir arbeiten?«

»Fällt mir meine uralten Kerneichen,« sagte der alte Latrapai und gab ihnen zwei schlechte Äxte. »Mit einem Streich müßt ihr die Kerneichen umhauen.«

Sie gingen hin, und man zeigte ihnen die hohen Kerneichen. Und sie hieben darauf los, um die Bäume mit einem Streich zu fällen. Da zerbrachen die beiden Äxte, die ihnen der Alte gegeben hatte. Nun gingen sie zu ihm und sagten: »Unsere beiden Äxte sind zerbrochen; jetzt werden wir mit unseren eigenen Äxten arbeiten.«

»Mir ist's recht,« antwortete der alte Latrapai.

Da gingen sie zu einer hohen Eiche und sagten: »Hier werden wir die Äxte herbeirufen.« Und sie schauten beide nach oben.


»Komm herab, Axt des Pillan!

Komm herab, Axt des Pillan!«


»Sei uns gnädig, Herrscher der Menschen, wirf uns zwei Äxte herab, die auf einen Streich fällen!« so riefen sie.

Da erdröhnten ganz hoch oben die Äxte des Pillan.


»Komm herab, Axt des Pillan!

Komm herab, Axt des Pillan!«[304]


Da erdröhnten in halber Höhe die Äxte des Pillan.

»Sei uns gnädig, Herrscher der Menschen, wirf uns die Äxte herab!«

Abermals riefen sie:


»Komm herab, Axt des Pillan!

Komm herab, Axt des Pillan!«


Da erdröhnten in geringer Entfernung die Äxte des Pillan.

»Sei uns gnädig, Herrscher der Menschen; wirf uns unsere Äxte herab!« sagten sie wiederum.


»Komm herab, Axt des Pillan!

Komm herab, Axt des Pillan!«


Da kamen die Äxte des Pillan herab, und sie erdröhnten im Wipfel der Eiche. Und Konkel und Pediu ergriffen die beiden Äxte und gingen hin, um die Kerneichen zu fällen. Sie kamen an und fällten die Kerneichen. Auf einen Streich taten sie es und warfen die Kerneichen nieder. Da fällten sie alle die Kerneichen, immer auf je einen Streich eine Kerneiche. So vollendeten sie ihre Arbeit und wollten ihre Frauen heimführen.

»Ehe ihr euch mit meinen Töchtern verheiratet, müßt ihr mir die uralten wilden Stiere erjagen,« sagte der alte Latrapai.

»Gut,« sagten die beiden Männer. Da führte man sie zu den wilden Stieren. So wie sie ankamen, erjagten sie alle die wilden Stiere. Darauf kehrten sie nach Hause zurück und machten Hochzeit.

Kurze Zeit darauf sprach der alte Latrapai: »Sie werden mir auch meine Strauße und Huanakos erjagen.«

»Gut,« sagten sie, und man führte die beiden Männer zu den Straußen und Huanakos; der Fuchs führte sie und so kamen sie zu den Straußen und Huanakos. Der Fuchs aber lief so schnell wie ein Pferd. »Ei, Fuchs,« sagten sie zu ihm, »dein Pferd rennt gut.« – »Ja, mein Pferd ist gut,« antwortete er.

Als sie nun angekommen waren, da jagte der Fuchs den[305] Straußen nach, aber er konnte keinen einzigen erreichen. Da kehrte der Fuchs wieder um und ließ die beiden Männer dort allein zurück. So kam er wieder bei dem alten Latrapai an.

»Hast du die beiden Männer dort gelassen?« fragte man ihn.

»Ja, ich habe sie dort gelassen,« antwortete er.

Zwei Tage später wurden Boten nach ihnen ausgeschickt.

»Sind denn meine Neffen noch nicht angekommen?« sagte der alte Latrapai. »Geh einmal hin und sieh zu, ob die beiden noch nicht ankommen,« sagte er zum Fuchs.

Da machte sich der Fuchs auf und kam zu den beiden Frauen.

»Sind eure beiden Männer angekommen?« fragte er sie.

»Nein, sie sind nicht angekommen,« war die Antwort.

Da machte sich der Fuchs wiederum auf und kam zum alten Latrapai. »Sie sind wirklich noch nicht angekommen?« sagte er ihm.

Kurze Zeit darauf wurde wieder Botschaft ausgesandt.

Wiederum machte sich der Fuchs auf. »Sind eure Männer angekommen?« fragte er. »Nein, sie sind noch nicht angekommen,« antworteten die beiden Frauen. Da kehrte der Fuchs wieder um und kam zum alten Latrapai. »Sie sind nicht angekommen,« sagte er. »Dann wollen wir sogleich die beiden Frauen, meine beiden Töchter, töten,« war die Antwort.

Als nun der Fuchs wieder als Bote geschickt werden sollte, stellte er sich lahm.

»Gleich geh' und töte die beiden Frauen,« sagte man zu ihm. »Ich bin lahm,« antwortete er. »Geh' nur hin, du kannst ja langsam gehen,« sagte der Alte. Da machte sich der Fuchs auf.

Unterwegs fing der Fuchs an zu singen:


»Spindelgleich hüpft auf und ab mein Fuß;

Solchen Boten schickt der alte Latrapai.

Spindelgleich hüpft auf und ab mein Fuß;

Solchen Boten schickt der alte Latrapai.«[306]


So sang der Fuchs. Darauf kam er bei den beiden Frauen an und tötete sie; in gleicher Weise tötete er beide. Mit dem Gesicht nach unten ließ er sie liegen.

Eine Zeit darauf kehrten die beiden Männer zurück. Mit dem Gesicht nach unten lagen die beiden Frauen. Als die beiden Männer nun ankamen, da sagte jeder von ihnen: »Ei, zum Donnerwetter, da liegen die beiden und schlafen und schlafen.« Da prügelte jeder seine Frau, aber die Frauen rührten sich nicht. Da drehten sie ihre Frauen auf den Rücken und erkannten, daß die Frauen tot waren, und begannen gar sehr zu weinen. Dann sagten sie: »Sogleich wollen wir fortgehen.« Eine Weile darauf gingen sie fort. »Der Hund, der alte böse Latrapai soll gleich sterben,« sagten sie. Eine Weile darauf erblickten sie den Fuchs und nahmen ihn gefangen. Dann sagten sie: »Nie wieder soll Leben sein; vier Jahre wird Nacht sein.« Damit warfen sie die Nacht in einen Topf. Da versammelten sich alle Vögel, Schwalben, Adler, Geier, Habichte, Ibisse, Papageien, Ringeltauben, wilde Tauben; alle Vögel zusammen versammelten sich und sagten zu Konkel und Pediu: »Wir wollen euch unsere Töchter geben.« – »Gut,« sagten die beiden.

Eine Weile darauf legten sie sich auf den Boden. Zuerst kam nun die Tochter des Adlers heran. »Mach, daß du hinauskommst, du arger Krötenfresser!« sagten sie zu ihr.

Eine Weile darauf kam die Tochter des Geiers heran. »Mach, daß du hinauskommst, du stinkiger Atem!« sagten sie zu ihr.

Wieder eine Weile später kam die Tochter der Schwalbe.

»Diese scheint uns passend als unsere Frau,« sagten da die beiden Männer. Da setzte sie sich einem auf den Kopf. »Komm doch ein bißchen mehr herunter,« sagte man ihr. Da setzte sie sich hinter ihn. »Setz dich doch ein bißchen mehr nach vorne.« Da setzte sie sich wieder auf den Kopf. »So gar klein ist das Vögelchen,« sagte man ihr. Da näherten sich die Vögel alle zusammen, aber keiner gefiel ihnen. »Sogleich wird vier Jahre Nacht sein,« sagten sie.[307]

Es wurde Nacht und wollte nicht mehr tagen.

Da hielten die Vögel eine Ratsversammlung, und das Rebhuhn ersann eine List.

»Ich werde, so schnell wie ich kann, dem Maultier unter dem Bauch hervorkommen. Wenn dann ihr (Konkel und Pedius) Maultier erwacht, wird es den Topf mit der Nacht umwerfen.« Da flog das Rebhuhn schnell unter dem Bauche des Maultiers hervor, dort wo Konkel und Pediu waren.

So tagte es wieder. Der alte Latrapai aber war vor Hunger gestorben. Weil es nun tagte, so blieben die Vögel am Leben.

Nun weinten die beiden Männer.

»Das ist uns nicht geglückt,« sagten sie und weinten. Da erblickte der Strauß sie.

»Was ist euch denn zugestoßen, ihr beiden armen Männer?« sagte er zu ihnen.

»Ach, unsere beiden Frauen sind gestorben,« antworteten sie.

»Singt mir etwas, ihr Männer,« sagte der Strauß.


»Lochnase, Strauß,

Plappermaul, Strauß,«


»nennt man mich,« sagte der Strauß. Da nannten sie ihn so. In einem Loche drehte er sich und tanzte.


»Plappermaul, Strauß,

Lochnase, Strauß,«


sagten sie zu ihm. Gar wunderschön war sein Tanz. Da kamen zwei alte Weiber heraus.

Darauf sagte der Strauß wieder: »Nennt mich noch einmal so, ihr Männer.« Da nannten sie ihn wieder so.


»Lochnase, Strauß,

Plappermaul, Strauß.«


Da tanzte er weiter. Eine Weile darauf kamen zwei hübsche Jungfrauen heraus, aber jeder fehlte auf einer Seite ein Auge.

»Das sind eure Frauen, ihr Männer,« sagte er zu Konkel[308] und Pediu. Sie blinzelten beide und sagten: »So scheint es uns.«

Da setzten die beiden alten Weiber den beiden Jungfrauen ihre Augen ein. Nun hatten sie wieder schöne Augen. Da verheirateten sie sich mit den Frauen und nachher wurden sie wieder beide glückliche Männer.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 303-309.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Goldoni, Carlo

Der Diener zweier Herren. (Il servitore di due padroni)

Der Diener zweier Herren. (Il servitore di due padroni)

Die Prosakomödie um das Doppelspiel des Dieners Truffaldino, der »dumm und schlau zugleich« ist, ist Goldonis erfolgreichstes Bühnenwerk und darf als Höhepunkt der Commedia dell’arte gelten.

44 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon