Wie Urysmag von einem Riesen gefangen wurde.

[364] Einst kehrte Urysmag heim von seiner Wanderschaft: die Narten sassen im Unterhaltungsgemach wie es schien, in kleinmütiger Stimmung; sie begrüssten ihn kaum, als er ihnen guten Tag sagte. »Was ist denn mit den Narten geschehen,« fragte Urysmag die Sátana, »dass sie so kleinmütig sind.« »Sie hören ihre Magen knurren,« antwortete Sátana. »O, ihr jungen Narten, ihr seid so niedergedrückt, dass man glauben muss, jeder hätte eben das, was ihm das liebste auf der Welt war begraben!« rief Urysmag der Nartenjugend zu, als er in das Gemach trat. »Auf, wer ein Mann ist, zu Ross! Lasst uns zusehen, ob wir nicht etwas erbeuten!« Und die auserlesensten Narten ritten mit Urysmag fort und ritten lange, sehr lange. Endlich waren sie so sehr angegriffen von der Müdigkeit, und dem Hungern, dass sie anhalten und etwas die Beine ausstrecken wollten. Da bemerkte Urysmag plötzlich am Fusse eines Berges einen Hirten von riesenhaftem Wuchs mit einer[364] Schafherde. »Nun, Kinder, wer sprengt dahin und holt uns zum Abendessen einen Schafbock aus jener Herde?« fragte Urysmag seine Leute, Aber niemand meldete sich. »Es scheint, dass euer Ältester sich selbst auf den Weg machen muss,« sprach Urysmag und flog gleich einem Pfeil zum Hirten. Sobald er herangekommen war, sprang er wie ein Jüngling vom Pferde und fing den besten Schafbock, welcher die Grösse eines gehörigen Stiers hatte. Aber er konnte den Schafbock nicht halten: der Bock zog ihn nach sich, und so geriet Urysmag in die Hände des einäugigen Riesen. »O, Bodsol, (Name des Widders) du meine Sonne! Ich danke dir, dass du mir etwas verschafft hast, womit ich heute abend mindestens die Lippen und die Finger benetzen kann,« so redete freudig der Riese zu seinem Schafbock und warf den Urysmag in seine Hirtentasche. »Was bist du so unruhig darinnen? Wenn ich dich etwas drücke, so zerbreche ich dir alle Rippen im Leibe! Verhalte dich still,« so drohte der Riese dem Urysmag, welcher sich in der Tasche hin- und herbewegte, indem er sich an die Speisevorräte des Riesen machte. Unterdess ging die Sonne unter; der einäugige Riese trieb seine Herde nach hause – in eine Höhle, vor deren Eingang er einen kolossalen Felsblock wälzte, der Felsblock verschloss den Eingang so sicher, dass auch nicht ein einziger Lichtstrahl in die Höhle fallen konnte. »Geh und bringe mir den Bratspiess, mein Söhnchen, ich will mir den leckern Bissen zubereiten, den heute mir der Bock Bodsol heimgebracht hat,« sprach der Riese zu seinem Sohne. Der brachte geschwind den eisernen Bratspiess herbei. Der Riese nahm den Bratspiess, schob den Urysmag auf denselben und setzte ihn ans Feuer; selbst aber müde und hungrig legte er sich an den Herd schlafen, bis das Essen fertig würde. Der Bratspiess hatte aber den Urysmag nicht durchbohrt, sondern war zwischen dem Körper und dem Gewände durchgegangen; sobald der Riese sich nun niedergelegt hatte, und zu schnarchen anfing, sprang Urysmag vom[365] Bratspiess, machte den Bratspiess am Feuer glühend rot und stiess ihn dem Riesen in das Auge. Der Riese brüllte laut, raste, aber erblindet musste er sich beruhigen und drohte nun, dass er trotz seiner Blindheit an den Kleinen, der ihn überlistet, kommen würde. Urysmag erschlug auch den Sohn des Riesen. Der Riese aber aus Ärger und Bosheit biss sich selbst in die Finger, alles war vergeblich, natürlich: er, der Blinde, konnte sich nicht rächen. Am Morgen fingen die Schafe an zu blöken – der Tag war angebrochen, und es war Zeit sie auf die Weide zu lassen. »Nun kommt das Unheil an dich! Du entgehst mir nicht!« so drohte der Riese, wälzte den Felsblock vom Eingang der Höhle, setzte sich darauf, und liess jedes Schaf einzeln vorbeipassieren. Nun war in der Herde des Riesen ein grosser weisser Widder mit langen Hörnern, das war der Lieblingswidder des Riesen. Urysmag tötete in der Eile diesen Widder, zog ihm das Fell mit den Hörnern ab, hüllte sich selbst in das Fell und kroch auf allen Vieren als erster aus der Höhle. »Du bist Gurschi (Name des Widders), gehe mein kluges Tier, geh und hüte die Herde bis zum Abend und treibe sie dann nach hause; ach, ich bin schon blind, allein den, der mich überlistet, will ich bestrafen!« Der Riese streichelte das Fell des Widders und liess ihn vorbei. So entkam Urysmag und er wartete nun, bis die ganze Herde herausgekommen war. Als das geschehen war, schrie er: »Und ich bin doch hier, du blinder Esel!« Der Riese aber starb vor Ärger.

Urysmag trieb die grosse Herde zu den Narten; er fand sie kaum lebend. Und nun fing er an, einige Widder zu schlachten und die Narten zu bewirten. »Nun, ihr Narten, seid ihr zufrieden?« fragte Urysmag. »Zufrieden sind wir und satt,« sagten die Narten. Was von der Herde noch übrig blieb, das trieben sie mit sich nach Hause. Hier verteilten sie die Herde gleichmässig unter allen Narten. »Nicht so, nicht so, ihr Männer,« sagte ein Narte, »dem Urysmag gebührt noch der Anteil des Ältesten, wenn[366] der Weissbärtige (Urysmag) uns nicht geführt hätte, so wären wir alle Hungers gestorben – alles hat uns nur Urysmag verschafft!« Niemand hatte etwas einzuwenden: jeder einzelne gab einen bestimmten Teil seiner Beute an Urysmag und dieser erhielt somit den Anteil eines Ältesten. Die Narten aber begannen fröhlicher dareinzuschauen, als bisher.199[367]

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 364-368.
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