Yui-Tschosetsu.

[291] Als die eigentliche Herrschermacht und die Würde eines Schogun durch Iyeyasu für sich und seine Nachkommen, die Tokugawa, erworben war und in der neuen Residenz Yedo einen sicheren Mittelpunkt gefunden hatte, da kehrte zwar Ruhe und größere Sicherheit im Lande ein, die Bürgerkriege hörten fast ganz auf und die Künste des Friedens blüheten. Aber mit dieser Wendung der Dinge kam auch ein eisernes Joch über ganz Japan; der Kaiser, der eigentliche rechtmäßige Herrscher, lebte in Kioto, ohne auf die weltlichen Angelegenheiten des Reiches Einfluß zu haben, die Fürsten waren unterdrückt und kein Wille kam zur Geltung, als der der tyrannischen Machthaber in Yedo. Jede Auflehnung gegen dieselben war aussichtslos; das stehende Heer der Schogune und der zahlreichen, von ihnen völlig abhängigen und mit ihnen verwandten oder befreundeten Fürsten war zu mächtig, als daß an ein Widerstreben zu denken war.

Ungefähr ein halbes Jahrhundert hatte dies gewährt, als ein kühner Abenteurer, Yui-Tschosetsu, einen Handstreich plante, der keinen geringeren Zweck hatte, als die Ausrottung der mächtigen Familie der Tokugawa. Bei der Stimmung, welche in vielen Kreisen des japanischen Volkes gegen diese Familie herrschte, konnte es nicht fehlen, daß Yui-Tschosetsu manche Sympathien erwarb und nach dem Mißlingen seiner Anschläge und seinem Tode vielfach als Märtyrer angesehen wurde, dessen Thaten die Sage nicht verfehlt hat, zu verherrlichen, während die Geschichte fast gänzlich über ihn schweigt.

Tschosetsu war der Sohn eines Bauern, der nicht sehr begütert war, aber durch seine große Geschicklichkeit im Färben von Seiden- und Baumwollstoffen sich rühmlich bekannt machte. Der damalige Machthaber, Hideyoschi, hörte davon und veranlaßte Tschosetsu's Vater, seinen anfänglichen Wohnsitz in der Nähe von Owari zu verlassen und sich in Osaka anzusiedeln. Nach[292] dem Tode seines Gönners zog er jedoch in ein kleines Dorf in der Provinz Totomi, in das Dorf Yui.

Hier ward Tschosetsu im Jahre 1603 geboren, als sein Vater bereits vierzig Jahre alt war. Diese Geburt war von wunderbaren Ereignissen begleitet. Tschosetsu's Eltern hatten sich stets leidenschaftlich einen Leibeserben gewünscht, und in Folge davon hatte sich seine Mutter zu einem langen Fasten entschlossen, um die Götter ihren Bitten geneigt zu machen. Als sie nun bereits sieben Tage und Nächte gefastet hatte, erschien ihr Nachts ein merkwürdiges Traumgebilde, ein Krieger in Waffenschmuck, und dieser verkündete ihr: »Ich bin, als ich auf Erden lebte, von Iyeyasu, dem Tyrannen, der jetzt allmächtig in Japan ist, auf grausame Weise getödtet und muß mit ihm und seinem Geschlechte blutige Abrechnung halten. Daher werde ich als dein Sohn wiedergeboren werden.« Sie fragte ihn nun im Traume, wer er denn sei, und darauf gab er als seinen Namen den eines berühmten Generales der Gegenpartei, Takeda Schingen, an und verschwand. Man sagt, daß genau zwölf Monate nachher Tschosetsu, ein Knabe von außerordentlicher Größe, zur Welt gekommen sei. Seine Mutter nannte ihn Anfangs Fujitaro, nach dem von ihrem Wohnorte aus sichtbaren Fuji-Yama, allein in späteren Tagen legte er sich selbst den Namen Tschosetsu bei, und unter diesem Namen, dem man den seines Heimatortes zuzusetzen pflegt, ist er berühmt geworden.

Sein Vater hatte Anfangs die Absicht, das Wunderkind zum Priester weihen zu lassen, und so lernte Tschosetsu nicht nur Lesen und Schreiben, sondern er erlangte auch viele andere Kenntnisse. In seinem dreizehnten Jahre verlor er seinen Vater, und nun wollten seine Lehrer ihm sofort zum Zeichen der Priesterweihe den Kopf scheren lassen, als unerwartet eine höhere Hand in sein Leben eingriff: er ward in der Nacht vor der anberaumten Feierlichkeit stumm und zugleich so verwirrt in seinen Gedanken, daß man genöthigt war, ihn zu seiner Mutter zurückzusenden.

In seiner Heimat irrte er meist in den Wäldern umher;[293] Niemand wußte, was er trieb. Zwei Jahre blieb er stumm und irrsinnig, dann aber trat er plötzlich vor seine Verwandten und erklärte, er sei wieder genesen, wolle aber kein Priester werden, sondern die Fechtkunst erlernen.

Seine Angehörigen hatten dagegen nichts zu erinnern, und so erlernte Tschosetsu die Fechtkunst mit vielem Eifer und so außerordentlichem Erfolge, daß er bald Meister in derselben war. Als fahrender Fechtkünstler durchwanderte er nun viele Provinzen des Reiches, bis fern in den Süden der Insel Kiuschiu; nirgends aber traf er Jemand, der ihm in seiner Kunst auch nur annähernd gewachsen war. Bei den Landleuten machte er sich überall beliebt und nützlich, denn wo irgend eine Räuberbande ihm genannt ward, ging er hin und rottete sie aus, und bei seiner Ueberlegenheit in der Führung des Schwertes vermochte ihn keine Ueberzahl zurückzuschrecken.

Einst kam er auf solchen Fahrten nach Amakusa in der Landschaft Higo auf Kiuschiu und traf am Meeresstrande einen ehrwürdigen Greis, der daselbst fischte. Tschosetsu begrüßte ihn, wie es sich gebührte, und begann ein Gespräch mit ihm. Der Alte erzählte ihm, er sei einst ein Krieger im Gefolge des Konischi Yukinaga gewesen, des berühmtesten der Generale, welche unter der Regierung Hideyoschi's dessen Heer gegen Korea befehligt hatten, worauf ihn Tschosetsu bat, ihm seine Fechtkünste zu zeigen. Der Alte willigte gern ein und versuchte mit seiner Angelruthe dem Tschosetsu zu zeigen, was er als Fechter vermochte. Bald aber sah er, daß Tschosetsu, der mit dem Schwerte seine Hiebe und Abwehrkünste andeutete, ihm an Geschicklichkeit weit überlegen sei. Er warf daher seine Angelruthe ins Meer, und vor Tschosetsu's erstaunten Augen verwandelte sie sich in einen Fisch, der auf des Greises Geheiß herbeikam und denselben auf seinem Rücken trug, wohin er wollte.

Da sah also Tschosetsu mit leiblichen Augen, was die Zauberei vermochte. Inständig bat er den Greis, ihn auch in dieser Kunst zu unterweisen, denn er meinte, mit Hülfe derselben[294] und seiner Fechtkunst würde er alles auf der Welt zu erreichen im Stande sein. Der Alte gewährte ihm seine Bitte gern; denn er war überzeugt, Tschosetsu sei zu großen Dingen auserkoren, und wenn er den Haß gegen die Familie des Iyeyasu wahrnahm, der diesem gleichsam durch übernatürliche Mächte eingeflößt war, so frohlockte er, denn auch er haßte das Geschlecht des Schogun, der seines früheren Herren Familie zu Grunde gerichtet hatte.

Nachdem Tschosetsu drei Jahre lang sich in allen Zaubereien seines alten Freundes unterrichtet, machte er sich auf den Weg nach Yedo, von dem Drange getrieben, dort großes gegen die damaligen Machthaber auszuführen. Er war ohne weitere Abenteuer bereits bis in die Provinz Kii gelangt und im Begriff, die Gebirge im Osten derselben zu überschreiten, als er ein gefährliches Abenteuer mit Räubern zu bestehen hatte. Er übernachtete in einem ärmlichen Wirthshause am Wege, als dieselben einbrachen und auch an Tschosetsu's Lager kamen, um sich dessen Kleider und sonstige Habe anzueignen. Tschosetsu erwachte und ergriff ohne Zögern die Hände der beiden Führer der Räuberschar. Auf das Wehgeschrei, das diese unter seinem gewaltigen Drucke ausstießen, rief er: »Wißt, ich bin Yui-Tschosetsu und kann euch bald meine Kraft noch besser zeigen! Wollt ihr euch aber fügen, so lasse ich euch frei und verpflichte euch nur, nach Yedo zu kommen und mir dort Gehorsam zu leisten; es wird euch nicht gereuen, denn ich habe großes im Sinne!« Die Räuber, die schon früher von seinen erstaunlichen Fechtkünsten gehört, gelobten ihm Treue und Gehorsam, und so ließ er sie ziehen, ohne ihnen weiteres Leid anzuthun.

Nachdem er auf diese Weise begonnen, sich einen Anhang zu gewinnen, verfehlte er nicht, alle fahrenden Fechtkünstler, denen er begegnete und die er in gewohnter Weise überwand, ebenfalls nach Yedo zu bescheiden.

In der Hauptstadt angelangt, machte Tschosetsu die Bekanntschaft eines der berühmtesten Fechtmeister jener Zeit, eines[295] gewissen Fudensai, der aus der Familie des berühmten Helden Kusunoki stammte, des Heerführers des Kaisers Go-Daigo, welcher denselben einst aus der Gefangenschaft befreite und ihn zum endlichen Siege über die rebellischen Hojo verhalf. Bald ward Tschosetsu ein vertrauter Freund des Fudensai und so kam es, daß er aus dessen Mittheilungen über die Geschichte seiner Familie endlich die Ueberzeugung schöpfte, daß er selbst ebenfalls ein Abkömmling des Helden Kusunoki sei. Längere Zeit lebte er bei diesem seinen Freunde und hatte dabei Gelegenheit, die Zahl seiner Anhänger beträchtlich zu vermehren. Nicht nur jene Leute, denen er früher begegnet war, sondern fast alle dienst- und heimatlosen Krieger, die durch irgend ein Mißgeschick zu einem Wanderleben – als sogenannte Ronin – verurtheilt waren, kamen zu ihm und wurden von ihm durch feierliches Gelöbniß für seine zukünftigen Pläne gewonnen.

Er mußte dieselben jedoch noch einmal vertagen, da sein Freund Fudensai durch seinen eigenen Schwiegersohn ermordet ward, welcher fürchtete, sein Schwiegervater werde ihn enterben. Tschosetsu hatte die Verpflichtung, seinen Freund und Lehrer zu rächen; dies aber ward die Veranlassung, daß allerhand verleumderische Gerüchte über ihn auftauchten, als habe er treuloser Weise den Missethäter selbst angestiftet, in der Absicht, die Fechtschule Fudensai's für sich zu erwerben. Obgleich also Fürsten zu seinen Gönnern gehörten und die Zahl seiner ergebenen Anhänger sehr groß war, fand er es gerathen, Yedo zu verlassen und sich in der Nähe seiner Heimat, in der Stadt Sunpu niederzulassen, derselben Stadt, die man jetzt Schidzuoka nennt. Zuvor aber wußte er noch den Glauben an seine Abstammung vom Helden Kusunoki in hohem Maße zu bekräftigen; er eröffnete seinen Freunden, Kusunoki selbst, sein Ahn, sei ihm im Traum erschienen und habe ihm offenbart, daß alte Waffen auf seinem Grabe lägen. Mehrere seiner Anhänger wallfahrteten deshalb zu dem Grabe Kusunoki's, stellten dort Nachforschungen an und fanden jene Angaben durchaus bestätigt.[296]

In Sunpu angelangt, glaubte Tschosetsu, die Stunde sei nun gekommen, seine kühne That auszuführen. Er eröffnete dort eine Fechtschule, die aber mehr ein Vorwand war, um seine Anhänger ohne Aufsehen um sich scharen zu können. Der Plan, den er mit ihnen verabredete, bestand darin, daß sie den Palast der Tokugawa in Yedo in die Luft sprengen, die Häuser der mächtigsten Anhänger derselben einäschern und außerdem, um mit Erfolg gegen Kioto operiren zu können, sich der Hafenstadt Osaka durch einen Ueberfall bemächtigen wollten. Die Ausführung des Anschlages gegen die Residenz des Schogun ward dem kühnsten und zuverlässigsten der Verschwörer, dem Marubaschi-Tschuya übertragen.

Ohne sich irgend einer Gefahr zu versehen, war dieser – nur zwei Tage vor der beabsichtigten Ausführung des verwegenen Unternehmens – in Yedo angelangt. Als zerlumpter Bettler verkleidet und ganz sicher, von Niemand erkannt zu werden, durchstreifte er die Umgebung des Schlosses und warf gerade einen Stein in einen Brunnen, um dessen Tiefe zu ermitteln und zu erfahren, ob er etwa wasserleer und für die geplanten Anschläge zu verwerthen sei, als das Verderben über ihn hereinbrach. Die Palastwache ergriff ihn und warf ihn ins Gefängniß. Es hatte unter den Fechtschülern in Sunpu nicht an Spionen gefehlt, welche die Regierung in großer Zahl aller Orten unterhielt, und so war man besonders auf Marubaschi argwöhnisch geworden, den man auch alsobald in jenem Bettler erkannte. Marubaschi war allerdings standhaft genug, trotz aller Martern, mit denen man ihn bedrohete, nichts zu verrathen, aber man bemächtigte sich nun der Person seines Schwiegervaters, und dieser, minder treu gesinnt und des Heldenmuthes bar, den Marubaschi bewahrte, verrieth den ganzen Anschlag. Hierauf wurden alle Anhänger des Tschosetsu mit leichter Mühe ergriffen; Niemand entkam außer Tschosetsu selber. Nicht einmal jener Räuberhauptmann, den Tschosetsu in den Gebirgen von Kii überwunden hatte, und der ohne Anstrengung vierzig[297] Wegstunden in einem Tage zu Fuße zurückzulegen vermochte, entrann seinen Verfolgern. Die Verschwörer wurden mit solcher Umsicht umstellt, daß – wie man allgemein glaubte – Tschosetsu nur durch seine Zauberkünste im Stande war, sich seinen Verfolgern zu entziehen.

Allein seine Flucht half ihm nur dazu, daß er, wie es einem Tapferen geziemt, durch eigene Hand seinem Leben ein Ende machen konnte, während seine Freunde und Genossen sämmtlich durch Henkershand einen schimpflichen, qualvollen Tod erlitten. So ging er denn nach Sunpu und entleibte sich, denn mit dem Mißlingen seines abenteuerlichen Anschlages war ihm jede Hoffnung geraubt, und nicht einmal die geringste Aussicht blieb ihm, jemals den Tod seiner Getreuen rächen zu können.

Es war im Jahre 1651, und eben hatte der Schogun Iyetsuna den Thron bestiegen, als Yui Tschosetsu auf diese Weise endete und die Dynastie der Tokugawa der größten Gefahr entging, welcher ihr seit dem Regierungsantritte Iyeyasus jemals gedrohet hat. –

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 291-298.
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