Tsuraÿuki.

[306] Vor grauen Jahren – ein Jahrtausend mag seitdem verflossen sein – lebte in Japan ein sehr weiser und frommer Schriftgelehrter, Namens Tsurayuki. Er war von hoher Geburt und gehörte dem kaiserlichen Hause als Seitenverwandter an; er war jedoch frei von allem weltlichen Ehrgeize und suchte seinen Ruhm nur in der Abfassung nützlicher Bücher.

Einstmals war derselbe aber vom Kaiser als Gouverneur in die Provinz Tosa geschickt, wo seine Kenntnisse und sein Ansehen erforderlich waren, um allerhand Uebelständen abzuhelfen, welche sich in die Verwaltung eingeschlichen hatten. Als er aber alles wieder ins gleiche gebracht, kehrte er nach Einholung der Erlaubniß des Kaisers in seine Heimat zurück. Er benutzte, um von der Insel Schikoku, auf welcher Tosa liegt, nach Hause zu gelangen, in üblicher Weise nur ein kleines Schiff, das sowohl mit Rudern, als durch Segel fortbewegt werden konnte. Als aber dies Schifflein mitten auf der See war, erhob sich ein gewaltiger Sturm, und die Schiffer baten Tsurayuki flehentlich, ihnen durch seine Künste Hülfe zu schaffen. Er fertigte auch allerhand Weihgeschenke an, allein vergebens; der Sturm wüthete fort und fort und brachte das Fahrzeug beständig[306] in Gefahr, umzuschlagen. Tsurayuki wußte nicht recht mehr, was zu thun sei: er hielt Rath mit dem Führer des Schiffes, und dieser sagte endlich: »Opfert dem erzürnten Meeresgotte, was Euch am liebsten ist; das allein wird ihn besänftigen.« Tsurayuki bedachte sich nun und fand, daß die Erkenntniß seiner selbst ihm als das höchste gelte. Als Symbol derselben hatte er nun seine Augen und seinen Spiegel; eines von beiden war er bereit zu opfern, doch fiel ihm die Wahl schwer. Endlich meinte er: »Ich habe zwei Augen und nur einen Spiegel, gewiß wird der Spiegel dem Gotte angenehmer sein.« Gesagt, gethan; der Spiegel flog, nicht ohne daß Tsurayuki sich über den Verlust des kostbaren Gutes tief betrübt hätte, in die See. Kaum aber war er untergesunken, so schwieg der Wind, es ebneten sich die Wellen und bald war das Meer spiegelglatt. Und so blieb es, bis Tsurayuki in den Fluß von Osaka einlief und, seiner Rettung froh, die Residenz Kioto erreichte.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 306-307.
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