Der Priester Domei.

[310] Vor alter Zeit lebte am kaiserlichen Hofe zu Kioto ein junger Priester, Domei, der Sohn eines der höchsten Staatsbeamten und ein stattlicher Mann, der namentlich eine sehr schöne Stimme hatte und deshalb beim Reden oder Singen großen Beifall zu erringen pflegte. Er war im Grunde gar nicht mit seiner Stellung als Priester zufrieden, sondern bereute oft, sich das Haupt haben scheren zu lassen, namentlich als er eine der Palastdamen des Kaisers, die schöne Idzumi, kennen lernte und bemerkte, daß dieselbe ihm wohlgesinnt sei. Sündige Gedanken kamen ihm deshalb, und statt dieselben zu verbannen und die Versuchung zu fliehen, war er leichtsinnig genug, sich oft in lange Gespräche mit der schönen Dame einzulassen, und besonders liebte er es, ihr aus seinen Büchern vorzulesen, nicht um sie und sich zu erbauen, sondern um mit seiner schönen Stimme einen vortheilhaften Eindruck auf sie zu machen.

Zu diesem Ende hatte er sich einstmals zur Abendzeit bei Idzumi eingefunden. Er freute sich sehr des ungestörten Zusammenseins mit ihr, so bedenklich dasselbe auch war, und begann mit Eifer seine Vorlesung, als ganz unerwartet ein alter, ihm gänzlich unbekannter Mann eintrat, sich höflich verbeugte und sich bescheiden in eine Ecke stellte. Sehr ärgerlich fragte ihn Domei, wie er dazu komme, unaufgefordert hier einzutreten. Der Greis entgegnete: »Verzeihe, junger Herr, daß ich mich hier einfinde, aber ich konnte dem Verlangen nicht widerstehen, die schönen Sachen aus deinen Büchern von dir mit deiner herrlichen Stimme vortragen zu hören.« »Warum,« sprach der Priester »kommst du denn nicht in den Tempel, wenn dir dies so viel Vergnügen bereitet? Da kannst du mich ja tagtäglich hören.« »Ach nein,« antwortete der Alte, »das darf ich nicht! Ich bin nur ein armer Landgott, der die Straßen bewacht, und darf nicht daran denken, deinen erhabenen Gottheiten im Tempel zu nahen. Hier kann[311] ich jedoch dich ungescheut hören, denn heute bist du selber unrein und fehlest gegen die heiligen Gebote, welche dir jeden unkeuschen Gedanken verbieten.« Da schämte sich Domei und meinte, er müsse vor dem Geiste in den Boden versinken; dieser aber verschwand spurlos und überließ den nunmehr reuigen Priester seinen eigenen Gedanken. Domei ging in sich und that eifrig Buße; er fehlte nie mehr gegen die göttlichen Gebote und gebrauchte seine schöne Stimme fortan nur zur Erbauung der Frommen und Gläubigen in seinem Tempel.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 310-312.
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