Der Mineralquell am Tatoÿama.

[334] Vor mehr denn tausend Jahren lebte in den Bergen der Provinz Minasaka, welche westlich von Harima und südlich von Inaba belegen ist, ein armer Holzhauer mit seinem Sohne, und beide nährten sich kümmerlich von ihrer Hände Fleiß. Der Alte ward aber allmälig schwach und steif, und endlich konnte er seinen Sohn nicht mehr begleiten, wenn derselbe in die Berge ging und Holz holte. Der junge Mann ließ sich dies jedoch nicht verdrießen und arbeitete um so emsiger; er wußte für seinen Vater und sich selber stets so viel zu verdienen, daß sie sich gehörig sättigen konnten, und hatte stets noch ein paar Kupfermünzen übrig, um seinem Vater ein Fläschchen von dem bei den Japanern so beliebten Sake oder Reiswein mitzubringen, so oft er in eine der benachbarten Ortschaften ging, um Holz zu verkaufen. Diese Stärkung war denn auch die einzige Freude des alten Mannes, der stets behauptete, nur der Sake erhalte ihn am Leben und seine Glieder einigermaßen geschmeidig.[334]

Einmal aber war der Winter nicht nur sehr hart gewesen, sondern es fiel auch noch bis weit in das Frühjahr hinein Schnee, der schwer auf den Bambuszweigen lastete und manches Stämmchen zerbrach. Alle Wege waren mit einer dicken Schneelage bedeckt, und so fiel denn auch der Ertrag des jungen Holzhauers sehr knapp aus. Nur ein kleines Bündel vermochte er zum Verlaufe auszubieten, und als er seine Baarschaft überzählte, da genügte sie kaum für das nothwendigste; er konnte nicht daran denken, dem kranken Vater das gewohnte Labsal, den Sake, mitzubringen.

So ging er traurig seines Weges und bat wiederholt die Götter um Beistand. Als er aber in die Nähe seiner Wohnung, an den Fuß des Tato-Yama gelangte, da stieg ein sonderbarer Broden vor ihm auf, der ihn an gewärmten Sake mahnte, doch aber einen anderen, fremdartigen Geruch hatte. Er schritt heran und gewahrte staunend ein Wunder. An einer Stelle, wo er bisher nie einen Quell gesehen, sprudelte warmes Wasser von sonderbarer Beschaffenheit hervor. Wie, wenn dies ein Geschenk der Götter wäre? so dachte er und füllte seine Flasche mit dem Nasse der Quelle.

Zu Hause angelangt, theilte er seinem Vater die sonderbare Begebenheit mit, und dieser kostete mit Verlangen das Quellwasser, von dem er auch überzeugt war, daß es eine besondere Gabe gnädiger Götter sei. Es that ihm außerordentlich gut; er konnte wieder aufstehen, und als der Schnee vergangen, da ging er, gestützt von seinem Sohne, zu der Wunderquelle hin und badete darin, und nun dauerte es nicht lange, so vermochte er seinen Sohn wieder auf die Arbeit zu begleiten, und sie verdienten mehr als sie bedurften. Der Alte konnte fortan in Behaglichkeit leben und sich Sake zur Genüge kaufen.

Die Wundermär durchflog bald das ganze Land, und Kranke kamen von allen Seiten heran, welche von der Quelle Genesung hofften und erlangten. So kam die Kunde zuletzt zum Ohre des Kaisers selber, und dieser ordnete an, daß – gemäß der[335] alten Gewohnheit der Japaner und Chinesen, von besonders wichtigen Ereignissen an Zeitepochen zu datiren und sie nach ihnen zu benennen – die damalige Zeit nach dem Wunderquell »Yoro« heißen solle, das bedeutet: Kräftigung des Alters. Diese Begebenheit, welche in den alten Schriften sorgfältig aufgezeichnet ward, geschah im Jahre 717 der christlichen Zeitrechnung.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 334-336.
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