[52] Darauf gieng er abermals wie zuvor hin und nahm den Siddhi-k ýr auf den Kücken. Während ihrer Wanderung erzählte Siddhi-k ýr folgende Sage.
Früh vor Zeiten befand sich in, der Mitte eines grossen Reiches ein alter Klostertempel, zu dem, man mochte kommen von welcher Seite man wollte, die Entfernung eine Tagreise betrug, und in welchem man eine Statue des Chongschim Bodhisattva aus Thon aufgestellt hatte. In der Nähe dieses Tempels wohnten in einer kleinen Hütte ein Alter und eine Alte mit nur einer einzigen Tochter. An der Mündung eines Flusses daselbst lebte ein armer Mann. Einstmals war derselbe mit Früchten in einem Kasten zum Verkaufe derselben bis zum Ursprung des Flusses hinaufgegangen; auf seiner Rückkehr übernachtete er bei diesem Klostertempel. Indem er vor die Thüre der beiden Alten trat und lauschte, vernahm er, wie die Alte sagte: »Wir sind beide alt; wenn wir diese unsere einzige Tochter an jemanden verheiraten könnten, so wäre das gut.« Darauf erwiederte der Alte: »Das ist wahr. Ein Mass Edelsteine und diese Tochter, welche zusammen unser Glück ausmachen, sind uns dadurch zu Theil geworden, dass wir vor dem Standbild des Chongschim Bodhisattva Opfer dargebracht und unsere Huldigung und Verehrung immer mehr erhöht haben. Nun wollen wir morgen – es ist der achte Tag des Neumondes – ein Opfer vorbereiten und den Chongschim Bodhisattva befragen, wem wir diese unsere Tochter Suvarṇadharî geben sollen, und ob sie den geistlichen oder weltlichen Stand erwählen soll.« So sprachen sie mit einander. Indem der arme Mann das belauschte, dachte er bei sich: »Da habe ich einen Weg gefunden!«
Er drang in der Nacht in den Tempel ein, machte an der Rückseite der Buddha-Statue eine Öffnung, kroch durch dieselbe in das Innere und blieb da sitzen. In der Frühe kamen die beiden Alten sammt der Tochter und hielten das Opfer in Bereitschaft. Nachdem sie ihre Verbeugung gemacht, sprach der Vater: »Göttlicher Chongschim Bodhisattva! was ist für diese meine Tochter erspriesslicher, dass sie den geistlichen oder dass sie den weltlichen Stand wähle? Und wenn sie der Welt angehören soll, welchem Manne sie zu geben wäre erspriesslich? Entweder, wenn du es vermagst, gib jetzt Antwort, oder[53] offenbare deinen Willen durch einen nächtlichen Traum.« Da rückte der arme Mann an die Nase des Chutuktu heran und liess den Buddha also sprechen: »Wenn diese deine Tochter sich den weltlichen Stand erwählt, so ist es für sie am erspriesslichsten; wer Morgens früh zuerst vor der Thüre deiner Hütte erscheint, dem gib sie; damit wird die ganze Sache völlig abgethan sein.«
Die beiden Alten riefen voll Freude: »Chutuktu hat gesprochen!« und nachdem sie unter wiederholten vielfachen Verneigungen das Standbild umwandelt hatten, entfernten sie sich.
Des Morgens in der Frühe stieg der Arme aus dem Innern des Buddha heraus, begab sich vor die Wohnung des Alten und klopfte an die Thüre. Die Alte kam heraus und kaum hatte sie ihn erblickt, so trat sie wieder in das Zimmer zurück und sprach zu dem Alten: »Nach Buddha's Wort ist der Mann erschienen.« Der Alte sagte: »das ist sehr gut, lass ihn in das Haus eintreten.« Sie liessen ihn eintreten, bereiteten ihm allerlei Speisen und Getränke, gaben ihm ihre Tochter und ein Mass Edelsteine, und erzählten ihm den ganzen Hergang. Der Mann war damit zufrieden, nahm die Tochter in Empfang und begab sich sammt dem Kasten und den Edelsteinen auf den Weg. Als er in die Nähe seiner an der Mündung des Flusses belegenen Heimat gelangte, dachte er bei sich: »Ich habe dies alles den beiden Alten durch List und Trug weggenommen. Ich will jetzt das Mädchen in den hölzernen Kasten stecken, diesen in der Sandsteppe hier verbergen und stehen lassen und eine List anwenden.« Mit diesen Gedanken steckte er das Mädchen sammt den Edelsteinen in den Kasten, vergrub ihn in dem Sande, kehrte in die eigene Heimat zurück und sprach überall zu den Leuten der Gegend: »Wie ich es bisher auch anstellte, so bin ich doch nicht reich geworden; jetzt muss ich die frommen Übungen dessen vollziehen, der die Furien des Hungers auszuhalten hat.« Damit verrichtete er, die Leute um milde Gaben und Unterhalt anflehend, sein Gebet. Den nächsten Tag sagte er: »Jetzt müsste ich wohl das schnell zu Reichthum verhelfende Gebet verrichten,« und damit suchte er sich abermals seinen Unterhalt zu verschaffen.
Bei dieser Gelegenheit geschah es, dass aus einem fremden Lande ein Chânssohn und zwei Gefährten mit Pfeil und Bogen einen Tiger mit sich führend sich die Langweile zu vertreiben vorüberzogen. Auf den Sand zeigend, wo Suvarṇadharî vergraben war, sagte der Chânssohn zu einem von ihnen: »Auf jenen schwarzen Sandhaufen dort[54] schiess.« Als er nun hinschoss, der Pfeil aber nicht heraussprang, durchwühlten sie den Sand, und wie sie da näher zusahen, fanden sie, dass der Pfeil auf einen Kasten getroffen hatte. Sie öffneten ihn und fanden, als sie näher zusahen, die Edelsteine und das Mädchen darin. »Was für ein Mädchen bist du?« fragten sie. »Ich bin,« sprach sie, »die Tochter eines Schlangendämons.« Der Chânssohn sprach: »Komm hier heraus und werde meine Gemahlin.« Darauf erwiederte sie: »Ich gehe nicht; wenn ich gehen soll, so muss man einen andern in den Kasten hier hereinsetzen.« »So kann man ja,« hiess es, »diesen Tiger in denselben hineinstecken.« Sie steckten den Tiger hinein und liessen ihn dort, das Mädchen aber sammt den Edelsteinen nahm der Chânssohn mit sich fort.
Inzwischen hatte der Arme die rasch zu Reichthum verhelfenden frommen Übungen beendet und dachte bei sich: »Edelstein und Mädchen will ich nun holen; wenn ich das Mädchen tödte und die Edelsteine verkaufe, so werde ich reich werden.« In diesen Gedanken machte er sich auf sie zu holen. Er zog den Kasten aus dem Sande hervor, nahm ihn auf den Rücken, kam damit nach Hause und setzte ihn in einem andern als dem gewöhnlichen Gemache nieder. Zu seiner Frau sprach er: »Ich will, indem ich heute Nacht das rasch zu Reichthum verhelfende Gebet wiederhole, mich einschliessen; wenn auch ein lauter Lärm sich erheben sollte, so komm doch nicht herein.« Also gebot er. Indem er aber fürchtete, dass das Mädchen entwischen könnte, machte er im Gemache einen Platz zurecht, ihr die Brust zu durchbohren, entledigte sich seiner Gewänder und sprach, den Deckel vom Kasten abnehmend: »Mädchen, hast du dich in deinem Herzen nicht geänstigt?« Kaum aber hatte er ihr zugerufen herauszukommen, als plötzlich der Tiger aufsprang und sich auf ihn warf. In grosser Angst rief er: »Ach ein Tiger ist gekommen! Frau, Kinder, kommt schnell!« Doch während er ein gewaltiges Geschrei erhob und nackt mit dem Tiger ringend hin und her sich wälzte, sagten Frau und Kinder, die es hörten, lachend zu einander: »Ach Vater, wie mühevoll ist doch dies rasch zu Reichthum verhelfende Gebet!« Als sie in der Frühe nachzuschauen giengen, lag innen im Gemache ein an Maul, Schnauze und Füssen blutiger buntgestreifter Tiger da, der Körper des Vaters aber war ganz in Stücke zerrissen.
Im Verlaufe der Zeit hatte jene Frau vom Chân drei Söhne geboren und lebte in allem und jedem vollkommen untadelhaft. Einstmals[55] aber liessen sich die Minister und die Untergebenen also vernehmen: »Dieser unser Chân ist auf unrechtem Wandel begriffen; ein unter der Erde hervor gezogenes Mädchen hat er zur Gemahlin sich erkoren; obgleich Söhne da sind, was will das heissen, wenn kein mütterlicher Oheim da ist?« So sprachen sie unter einander, und die Chânin, es hörend und darob in ihrem Herzen eben nicht sehr sich freuend, dachte bei sich: »Obgleich ich drei Söhne geboren habe, so will ich doch, da diese Reden der Leute hier schlecht sind, von hier weg zu meinen bejahrten Eltern mich zurückbegeben.«
Am fünfzehnten in der Nacht, als der Mond sein Licht verbreitete, verliess sie die Königsburg und machte sich auf den Weg. Als sie aber auf ihrer weiteren Wanderung zur Mittagszeit dem Lande der Eltern nahe gekommen war, traf sie daselbst an einer Stelle, wo früher nichts war, eine Schaar Ackersleute, welche emsig mit der Bestellung der Felder beschäftigt waren; bei ihnen befand sich ein schmucker Jüngling, der Speisen und Getränke verschiedener Art bereitete. Dieser sprach: »Frau, woher kommst du?« »Ich bin,« versetzte sie, »von weit her gekommen; hinter diesem Berge hier wohnten meine Eltern; um nach ihrem Wohlbefinden mich zu erkundigen, habe ich die Reise unternommen.« »Du bist also,« erwiederte jener, »ihre Tochter?« »Ich bin es in der That,« sprach sie. Jener versetzte: »Ich bin ihr Sohn; ich hatte eine ältere Schwester, erzählte man mir; diese bist offenbar du; setze dich hieher und geniess von diesen Speisen und Getränken, dann gehen wir ganz und gar mit einander.«
Als sie darauf miteinander weiter giengen und sie vom Berge hinab schaute, da erblickte sie an der Stelle der früheren Hütte eine ungeheure Menge Paläste weit prachtvoller denn eine fürstliche Residenz; sie waren mit Fahnen und flatternden Seidenstoffen geschmückt; der nahe dabei befindliche Klostertempel des Chongschim Bodhisattva war weit herrlicher als der frühere und mit Gold, Diamanten, herabhängenden Seidenstoffen sowie mit weithinschallenden Glocken prachtvoll ausgestattet. Indem sie diese Pracht schaute, fragte sie: »Wem gehört alles das?« »Alles das,« sprach der Bruder, »ist unser; seit deiner Abwesenheit ist es hergestellt worden. Vater und Mutter befinden sich beide wohl und sind glücklich.« Als sie dann anlangten und eintraten, da gab es eine Fülle von Pferden und Maulthieren und von dergleichen kostbarem Hab und Gut. Die Eltern sassen beide auf seidenen Polstern. Beim Anblick ihrer Tochter sprachen sie: »Du bist doch wohl[56] und glücklich? Dass du uns beide noch vor unserem Tode besucht hast, das ist sehr schön.« Es war eine grosse Freude, und über alles, was inzwischen vorgefallen, wurde beiderseits weitläufig hin und her gefragt. Zuletzt erzählte die Tochter, in welcher Weise Chân und Minister sich über sie ausgelassen. Bei so bewandten Umständen lud man den Chân sammt dem ganzen Gefolge ein und überhäufte sie mit kostbaren Geschenken aller Art und bewirthete sie mit Speise und Trank drei Tage hindurch. Da sprach der Chân: »Unser Gerede, dass die Chânin keine Verwandtschaft habe, war offenbar falsch.«
Mit diesen Worten zog der Chân sammt dem ganzen Gefolge jetzt alles glaubend wieder von dannen.
Da sich aber die Chânin von den Eltern noch nicht trennen konnte, so blieb sie noch einen Tag und die Nacht bis spät bei ihnen, wobei sie sich nach Herzenslust unterhielten. Des andern Tags früh erwachte sie beim Ergilben der Morgenröthe. Da das Kopfkissen hart und die Polster dünn geworden waren, rief sie: »Was ist denn da geschehen? ich war doch diese Nacht bei meinen Eltern auf Besuch; Kopfkissen und Polster waren ja mit Seidenstoffen bedeckt.« Sie stand auf und als sie sich umsah, da war die frühere kleine Hütte zerfallen, die Eltern waren todt, ihre Gebeine lagen ausgebleicht und vermodernd da. Nirgends war ein Polster, als Kopfkissen lag eine Steinplatte da. Bei diesem Anblick ward sie von Trauer ergriffen. Nun gedachte sie nach dem Klostertempel sich umzuschauen. Wie sie sich umzuschauen hinkam, da war der Klostertempel eingestürzt und das Standbild des Buddha fand sie zertrümmert. Da sprach sie: »Wahrlich hier war durch eine göttliche Verwandlung meine Verwandtschaft wiedererstanden! Jetzt hat man den Chân sammt seinem Gefolge gewiss zufrieden gestellt! nun will ich dahin zurückkehren.« Mit diesen Worten begab sie sich auf den Weg. Als sie anlangte und die Minister nebst den sämmtlichen Unterthanen ihre Chânin schon von weitem kommen sahen, sprachen sie: »Diese unsere Chânin hat eine vornehme Verwandtschaft und die von ihr gebornen Söhne sind edel, die Chânin selbst ist reizend schön und mit allen Vorzügen ausgestattet.« Mit diesen Worten eilten sie ihr zum Empfange entgegen und geleiteten sie in den Residenzpalast.
Bei diesen Worten der Erzählung sprach der Chânssohn: »Auf die Weise wahrlich war das eine hochbeglückte Frau!« und Siddhi-k ýr versetzte: »Sein Glück verscherzend hat der Chân seinem Munde Worte[57] entschlüpfen lassen!« und mit dem Ausruf: »In der Welt nicht zu bleiben ist gut!« wand er sich los und eilte flugs davon.
Aus Siddhi-k ýr's Erzählungen das elfte Capitel: die Geschichte des Mädchens Namens Suvarṇadharî.
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