74. Der geschickte Dieb

[260] Es waren einmal zwei Brüder, Iwane und Simon; beide waren Diebe. Iwane starb und hinterließ einen siebenjährigen Sohn mit Namen Petre. Als dieser groß geworden war, frug ihn sein Onkel Simon, der ihn erzogen hatte, was er werden wolle. »Ich möchte das Gewerbe lernen, das mein Vater betrieben hat«, antwortete Petre. »Dein Vater war ein Dieb, also sollst du auch ein Dieb werden. Versuch' es zuerst mal, einem Vogel, der auf einem Baum sitzt, eine Feder auszuziehen, ohne daß er es merkt.« Peter bat seinen Onkel, ihm das zuerst zu zeigen; sie gingen also in einen Wald, wo Simon auf einen Baum stieg und einer Taube eine Feder ausrupfte. Während er aber damit beschäftigt war, stahl ihm sein Neffe die Unterkleider vom Leibe weg. Als er vom Baume herabgestiegen war,[260] zeigte er Peter die Feder. »Du hast der Taube eine Feder aus dem Flügel gezogen,« sagte Petre, »und ich habe dir während der Zeit die Unterkleider ausgezogen und du hast es auch nicht bemerkt.« Der Onkel war höchlichst überrascht und schlug seinem Neffen vor, da er ein so guter Dieb sei, Geld aus der königlichen Schatzkammer zu stehlen. Peter hatte nichts dagegen und so gingen sie in der Nacht zur Schatzkammer, brachen ein und nahmen viel Geld mit sich.

Als der Diebstahl am andern Tage bemerkt wurde, suchte man den Dieb, aber vergebens. Der König war sehr ungehalten darüber, aber was war da zu tun? Der König eines Nachbarlandes machte sich über seinen Mitbruder sehr lustig, weil in dessen Lande ein Dieb nicht ausfindig gemacht werden konnte. Inzwischen suchten Simon und Petre die Schatzkammer ein zweites Mal heim und konnten wieder nicht gefaßt werden. Der König war wütend und ließ unter dem Fenster, durch das die Diebe eingedrungen waren, eine Grube graben und diese mit heißem Wachs ausfüllen. Als Simon und Petre ein drittes Mal ihr Glück versuchten, fiel der erstere in die Grube und konnte nicht mehr heraus. Dann bat er Petre, ihm den Kopf abzuschneiden und ihn mit nach Hause zu nehmen. Petre erfüllte ihm diese Bitte. Am folgenden Tage fanden die Wächter den Körper Simons und um zu erfahren, wer das sei, stellten sie ihn öffentlich aus und beobachteten die Vorübergehenden, ob nicht etwa einer weine, doch tat ihnen niemand den Gefallen.

Simons Frau aber wollte ihren Mann unbedingt beweinen. Bloß wußte sie nicht, wie sie es anstellen sollte, ohne sich zu verraten. Aber Petre wußte Rat. »Kauf dir Geschirr, und wenn du an deinem Mann vorbeigehst, laß es fallen, dann hast du Grund zu weinen, soviel du nur willst,« sagte er zu ihr. Der Rat schien ihr gut und ausführbar. Und wie sie weinte! So ergreifend war ihr Schmerz, daß ihr die Wächter sechsmal soviel Geschirr schenkten, als sie zerbrochen hatte.[261]

Nun wollte sie aber auch noch den Körper ihres Mannes haben, um ihn ordentlich begraben zu können. Auch da wußte Petre Rat. Er setzte sich auf einen Esel und ritt zu den Wächtern und sagte diesen, er müsse unbedingt zum König. Sie sagten ihm, der König sei heute mit sehr wichtigen Dingen beschäftigt und könne niemanden empfangen. Da Petre aber auf seinem Vorhaben bestand, schlugen sie ihm vor, gleich dazubleiben, damit er am nächsten Morgen als erster vorgelassen werden könne. Aber davon wollte Petre anscheinend nichts wissen: er fürchtete sich davor, daß der Tote ohne Kopf ihm seinen Esel aufessen würde. »Unsinn,« riefen die Wächter, »ein Toter kann doch keinen Esel essen. Und wenn er's tut, zahlen wir dir zwanzigmal soviel als er gekostet hat, dein Esel!« Nun war Petre beruhigt; er blieb und bewirtete die Wächter tüchtig mit Wein und Schnaps, so lange, bis sie alle betrunken waren und sich schlafen legten. Petre legte sich zum Schein auch nieder; als aber alle schliefen, stand er auf, legte den Toten auf seinen Esel und schickte diesen allein nach Hause; er selbst aber legte sich bei den Wächtern wieder nieder. Als sie am Morgen alle wieder aufstanden, erhob Petre ein fürchterliches Geschrei. »Der Tote hat meinen Esel gegessen; mein Esel, mein Esel!« Was blieb nun den durch das Verschwinden des Toten an und für sich schon eingeschüchterten Wächtern andres übrig, als ihr Versprechen zu halten und Petre das Zwanzigfache des Wertes seines Esels zu bezahlen? Und mußten ihn noch bitten, er solle dem König nichts davon erzählen, daß der Tote verschwunden sei! Petre aber ging heim und begrub seinen Onkel.

Als der König von der Geschichte erfuhr, versammelte er sein ganzes Volk und forderte es auf, die Wahrheit zu sagen: »Der Dieb soll sich melden. Ich werde ihn nicht nur nicht bestrafen, sondern sogar belohnen.« Da trat einer aus der Menge – es war Petre – und sagte: »Ich bin der Dieb.« Der König lud ihn zu sich in seinen Palast ein und[262] sagte: »Höre, der König im Nachbarlande lacht mich aus, weil ich einen Dieb, der mich bestohlen hat, nicht finden kann. Tu so, daß er keinen Grund mehr hat, mich auszulachen.« »Gib mir ein gutes Pferd«, sagte Petre, »zwei Kisten, eine Teufelsmütze und eine Burka76 mit Glöckchen und Schellen daran, und das übrige laß meine Sache sein!« Petre bekam alles und machte sich auf den Weg. Als er am Hofe des andern Königs angekommen war, ging er gleich ins königliche Schlafzimmer. Der König und die Königin schliefen. Petre trat ans Bett und ließ seine Glöckchen und Schellen ertönen. Die Königin erwachte zuerst, und als sie vor sich einen Menschen mit einer Teufelsmütze auf dem Kopfe erblickte, erschrak sie furchtbar. »Ich bin der heilige Georg,« sagte Petre zu ihr, »und Gott hat mich gesandt, um euch ins Paradies zu führen.« Da erwachte auch der König und erschrak nicht weniger als die Königin. »Ich bin der heilige Georg,« wiederholte Petre, »und Gott hat mich gesandt, um euch ins Paradies zu führen.« »Wenn dem so ist, so mach schnell!« sagte der König. Petre zögerte nicht lange, sondern steckte den König in die eine Kiste, die Königin in die andere, trug sie hinaus in den Hof und lud sie auf sein Pferd. Dann setzte er sich selbst noch darauf und ritt heim zu seinem Auftraggeber.

Die beiden in den Kisten dachten, es gehe wirklich ins Paradies und frugen Petre ein über das andere Mal, ob es noch weit sei. Petre antwortete immer, es sei nicht mehr sehr weit, und als er am Hofe seines Königs angekommen war, rief er: »Da sind wir schon«, lud die Kisten ab, trug sie in den Palast, stellte sie vor den König hin und öffnete sie. Ein nackter König und eine ebenso nackte Königin entstiegen den Kisten und schämten sich ganz fürchterlich. Der König aber sagte zu seinen nackten Gästen: »Seht ihr, das ist mein Dieb. Wundert ihr euch noch, daß ich ihn nicht erwischen konnte. Habt ihr auch einen solchen? Wenn ja, so wünsch' ich euch, daß er[263] eure Befehle ebenso gut ausführt wie der mehlige die meinen.«

Dann aber belohnte er Petre sehr freigebig, machte ihn zum ersten Mann im ganzen Königreich und bestimmte, daß Petre nach seinem Tode selbst König werden solle.

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Der kaukasische Filzmantel.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 260-264.
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