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[264] In einem gewissen Lande lebte einmal ein Ehepaar. Es ging ihnen schlecht und sie verarmten: zu essen hatten sie nichts und nichts anzuziehen. Sie wußten gar nicht, was sie anfangen sollten. Als gar nichts mehr im Hause war, sagte die Frau zu ihrem Mann, er solle seine Flinte nehmen, auf die Jagd gehen und schauen, ob er nicht etwas finden könne. Sie selbst aber ging, als er weg war, zu den Nachbarn, erbat sich von einem derselben ein seidenes Kleid, zog es an und ging auf die Straße. Da traf sie einen Hirten. »Wohin gehst du?« frug der sie. »Ich suche mir einen Mann«, antwortete sie. »Wenn du mich willst, kannst du ja mich nehmen«, meinte der Hirt. »Gut, komm' heute nachmittag zu mir!«
Als der Hirt weg war, traf sie einen Armenier, der mit Waren im Lande umherreiste. Auch der frug sie, was sie denn suche. Und sie gab ihm dieselbe Antwort wie dem Hirten. Als der Armenier ihr vorschlug, ihn zu heiraten, sagte sie zu und bestellte ihn für abends zu sich nach Hause.
Ein Stück Wegs weiter traf sie einen Müller. Auf seine Frage, was sie suche, antwortete sie zum drittenmal, sie suche einen Mann. Er bot ihr die Heirat an, wie die beiden andern und sie bestellte ihn auf die Nacht zu sich.
Kurz nach Mittag kam der Hirt und trieb mit vielem He he! und tsch tsch! seine Herde in ihren Hof. Dann trat er ins Haus und ließ sich mit einem tiefen Seufzer nieder.[264] Die Frau bereitete ihm ein Lager und ging dann an ihre Arbeit. Dem Hirten aber sagte sie, sie wolle ihm jetzt etwas zu essen herrichten. Kaum war sie draußen, als mit Hott und Hü der Armenier angezogen kam. »Wer ist denn das?« frag der Hirt ganz erstaunt. »Das ist mein Mann,« sagte sie, »mach schnell und versteck' dich in dem Faß da, sonst geht's dir schlecht.« Sie steckte den Hirten in ein Faß und lief auf den Hof, um den Armenier, der mit einem ganzen Wagen voll Waren gekommen war, zu empfangen. Den Wagen tat sie in die Scheune und lud dann den Armenier ein, einzutreten, bereitete ihm ein Lager und ließ ihn allein unter dem Vorwande, sie wolle ihm etwas zu essen herrichten.
Inzwischen war es Nacht geworden. Da ertönten von draußen auf einmal laute Rufe: hoi, ho! ho, ho! Es war der Müller, der mit einem ganzen Wagen voll Mehl ankam. »Was will denn der?« frug der Armenier. »Das ist doch mein Mann,« antwortete sie, »schau nur zu, daß du dich irgendwo versteckst, sonst gibt's was, oder besser, leg' dich in die Wiege da und greine wie ein Kind.« Und kaum hatte sie ihn in die Wiege gestopft und zugedeckt, als schon der Müller eintrat. »Guten Abend,« sagte sie, »setz' dich nur, du wirst müde sein, wart' nur, ich richte dir 'was zu essen her.« Aber kaum hatte sie sich mit dem Kochgeschirr zu schaffen gemacht, als draußen wieder Schritte ertönten. Diesmal war es ihr Mann, der von der Jagd kam. »Wer ist denn das?« frug der Müller. »Das ist mein Mann, der war auf der Jagd. Komm nur schnell hinter die Türe und blöke wie ein Kalb; ich sage dann zu meinem Mann, unsere Kuh habe gekalbt.« Da trat auch schon mit Ach! und Ach! der Mann ins Zimmer: »Ach, wie müde bin ich«, sagte er und setzte sich. Da sah er, daß jemand in der Wiege lag. »Wer ist denn das?« frug er seine Frau: »Das ist ein Knäbchen, das ich geboren habe.« »So, hat denn ein neugebornes Kind schon so einen Bart? Den will ich ihm gleich wegrasieren.« Sprach's und rasierte den in der Wiege liegenden Armenier. Dann horte er den hinter[265] der Türe blöken. »Und was ist denn das?« frug er seine Frau. »Das ist das Kalb, das unsere Kuh heute geworfen hat«, antwortete sie. »So, so!« sagte der Mann und weiter nichts, nahm seine Flinte und zielte auf den Müller. Der riß sich mit Gewalt los und lief Hals über Kopf davon. Da hielt es der im Faß auch nicht langer aus, sprang heraus und lief dem Müller nach, so schnell ihn seine Beine trugen.
Das Ehepaar aber nahm sich die Waren des Armeniers, die Mehlsäcke des Müllers und die Schafe des Hirten, wurde reich und lebte bis ans Lebensende herrlich und in Freuden.