2. Siamandò und Xğesarē oder Sarē Siphanē.1

[324] Siamandò sah im Traume Xğesarē, sie tauschten miteinander ihre Ringe; dasselbe sah Xğesarē in derselben Nacht.2 Frühmorgens in der Gebetstunde stand Siamandò auf, bestieg sein treues, feuriges Ross und ritt nach dem El3 der Zereger; dort stieg er ab vor der Hütte einer Alten. Trommelwirbel und die Töne der Zurnà4 erschütterten das ganze El. ›Was für eine Feier ist hier und für wen?‹ fragte er die Alte. »Es ist die Hochzeit der Xğesarē, mein Sohn, ihr Bräutigam ist gekommen.5 Schon drei Tage, drei Nächte wird es gefeiert.« Siamando bat die Alte, Xğesarē seinen Ring zu bringen.

Die Alte versprach es, nahm ein buntes Tuch, füllte es mit Rosinen, legte den Ring darein, ging mit Glückwunsch zur Hochzeit der Xğesarē. Xğesarē nahm das Geschenk, mengte mit dem Finger die Rosinen und fand den Ring; sie erkannte ihn. Sie seufzte tief, die Augen wurden dunkel, sie fiel ohnmächtig nieder. Die Alte sprang zu ihr, legte die Hand auf ihre Augen, mit der anderen hielt sie den niedergesunkenen Kopf: »Lass meine Augen blind werden, Xğesarē! Komm zu dir, öffne deine Augenwimpern, öffne deine Lippen, was hast du gesehen?« Von der trostvollen Stimme der Alten kam Xğesarē zu sich: ›Mutter, weisst du, wer der Herr des Ringes ist?‹ »Der Herr des Ringes ist bei mir eingekehrt.« ›Du siehst ja, man ist gekommen, um mich fortzuführen; es vergingen schon drei Tage und drei Nächte, es blieb mir kein Mittel mehr. Geh, Mutter, sage zu Siamandò, es bleibt nur noch ein Tag und ein Mittel. Frühmorgens gehe ich allein zu dem Grab meiner Mutter zur Anbetung, Siamandò soll Hinkommen, er findet mich dort, geh!‹

Die Alte kehrte heim und erzählte Siamandò, was sie gesehen und gehört. In der Nacht stand Siamandò auf, er konnte nicht schlafen, er ging hinein in das Grabmal von Xğesarēs Mutter, die Augen wurden ihm schwer, er hüllte den Kopf in den Abà6, der Schlaf überwältigte ihn.

Xğesarē kam, ging in das Grabmal, sie blieb stehen und schaute ihn lange an. Er tat ihr leid, sie berührte ihn nicht mit der Hand, sie sprach nichts. Siamandò aber schlief tief, ohne mit den Augen zu blinzeln. Da wandte sich Xğesarē ab und schalt den Siamandò, sie nahm zwei goldene Würfel aus ihrer Tasche, steckte diese in seine Tasche und kehrte leise heim.[325]

Die Sonne zeigte Mittag, als Siamandò die Augen aufschlug; er schaute nach allen vier Seiten, rieb sich den Kopf und kehrte zurück zur Hütte der Alten. Er kehrte traurig heim und antwortete auf die Fragen der Alten kummervoll: ›Mutter, ich bin hingegangen, ich habe niemand gefunden, der Schlaf überwältigte mich; als ich erwachte, sah ich niemanden.‹ »Sohn, du bist sehr einfältig. Hast du in deiner Tasche und in dem Busen nachgesucht?« Siamandò suchte nach und fand zwei goldene Würfel. »Das ist das Zeichen, das Xğesarē dir gelassen!« ›Was soll dies denn bedeuten?‹ »Sie gab dir zu verstehen, dass du noch ein Kind bist, du bist kein Mann für die Liebe. Geh mit den Knaben Würfel spielen! Da bist kein Mann für diese Sache.« Siamandò schämte sich und bat die Alte: ›Geh zum letztenmal zu Xğesarē! Sie soll das letzte Wort sagen, und ich erfülle es‹.

Die Alte ging hin und brachte Xğesarēs Antwort: »Wenn Siamandò ein Mann ist, wenn er zu lieben versteht, morgen werde ich fortgeführt, da soll er erscheinen auf seinem Ross, den Bogen und Pfeile auf den Schultern, er soll auf dem Wege warten, wie ein Adler losstürzen, aus der Mitte der Reiterschar mich entführen, auf sein Ross mich heben. Dann reiten wir auf die Spitze des Siphān, da wollen wir ausruhen, der Liebe geniessen, im dunklen Nebel verborgen.« –

Am nächsten Tag zogen die Braut und die Brautführer aus; Siamandò wartete auf seinem Ross, wie ein Blitz stürzte er auf die Reiter, mit einer Hand ergriff er die zarte Hüfte Xğesarēs, setzte sie hinter sich, und sie ritten einen Weg von drei Tagen in einem fort. Ebenso schnell setzten die Verfolger ihnen nach; am nächsten aber kam der Reiter auf dem Hešenboz. ›Wer ist dieser‹, fragte Siamandò die Xğesarē, ›der sich und sein Ross in Gefahr stürzt?‹ »Er ist es, dem du die Braut eines Jahres geraubt hast. Sein Herz brennt (nach Rache), du sollst ihn nicht schelten.« Siamandò stieg ab, breitete seinen Aba aus, setzte Xğesarē darauf, bestieg wieder sein Ross, wandte sich um. Fünfzig Rosse und fünfzig Reiter schlug er nieder, kehrte zurück, nahm Xğesarē und schlug den Weg ein nach der Spitze des Siphān.

Da ruhten sie ohne Sorge. Siamandò schlief ein, den müden Kopf auf die Knien Xğesarēs gelegt. Plötzlich schauderte Xğesarē vor Schrecken und Furcht. ›Was hast du gesehen, Xğesarē, Licht meiner Augen? Sag, warum zitterst du, warum bist du erschrocken?‹ »Ich habe etwas Sonderbares in dieser Wüste gesehen. Vierzig wilde Ochsen kamen Wasser zu trinken, mit ihnen war eine Kuh. Die Ochsen begannen einen Kampf um sie miteinander, und nur einer von ihnen, der Hešenboz, besiegte die andern und gewann für sich die Kuh. Ich gedachte an dich, an mich und an das Geschehene, an die fünfzig von dir erschlagenen Recken. Dies entsetzte mich, Zittern und Schauder ergriffen mich.« Siamandò weilte nicht länger, nahm seinen Bogen und die Pfeile, holte den Hešenboz-Ochsen ein und schoss ihn nieder. Der Hešenboz rollte vom Felsen hinunter; Siamandò stürzte auf ihn mit dem Messer. Der wilde Ochse aber stiess rasend mit seinen Hörnern, brüllte und schleuderte Siamandò weit weg. Siamandò fiel mit dem Rücken auf den Zweig des Nussbaumes, und der zackige Zweig ragte vier Handlängen aus seiner Brust.

Xğesarē ging den Spuren Siamandòs nach, wie ein Standbild blieb sie stehn auf der Höhe des Felsens, als sie den verwundeten wilden Ochsen sah. Da drang an ihr Ohr das Stöhnen Siamandòs; da fand sie den bei Seite geworfenen Bogen und die Pfeile Siamandòs, sie hob sie auf, neigte sich, sah den Siamandò und sang das Todeslied: »Bitten, tausend Bitten! Siamandòs Bogen und Pfeile sind von Vollsilber; Siamandò, warum bist du dem wilden Ochsen nachgegangen?[326] Siamandò, stöhne nicht, stöhne nicht!« ›Xgesarē, weine nicht, weine nicht! Dein Weinen vermehrt meinen Schmerz.‹ »Du stöhnst schwer, Siamandò, wie soll ich nicht weinen! Dein Seufzen presst Tränen aus meinem Herzen hervor. Auf der Spitze des Siphān wütet ein furchtbarer Sturm, Siamandò, hier sind dein Bogen und deine Pfeile. Warum wolltest du mir nicht gehorchen? Ich sagte: Geh nicht dem wilden Ochsen nach! Lass sie leben, wie ich und du, geh nicht, lass sie einander lieben, geh nicht! Du wilder Ochs, schrecklicher und mitleidsloser Ochs, deine Hörner sind stark wie Eisen, und du bringst Entsetzen; du hast auf der Spitze des Siphān die Geliebte von ihrem Liebling getrennt. Auf der Spitze des Siphān ist Nebel und Finsternis. Wer hat gehört, dass das Jagdtier den Jäger getötet hätte? Siamandò, ich sagte dir: Geh nicht! Suchst du Jagdtier, so will ich's dir sein. Geh nicht! Vielleicht aber so war beschieden vom Himmel, des Himmels Wille ist nicht zu ändern auf Erden. Auf der Spitze des Siphān sind Felsen und Gesträuch. Es zieht ein Wind, kalt und todesbringend. Siamandò, zeig mir einen Weg zu dir, damit ich mit dir meine Seele hingebe! Bringt herbei Schaufel und Spaten, Xğesarē und Siamandò beisammen unter den Felsen zu begraben!« So sprach sie, schloss die Augen und stürzte sich, ›Mein Siamandò‹ schreiend, hinab. Kaum konnte Siamandò ›Meine Xğesāre‹ antworten als fernen Widerhall. Dann waren beide auf einmal still.

Man erzählt, dass an jenem Orte jeden Sommer zwei Blumen wachsen; dann kommen zwei Schmetterlinge, setzen sich darauf und flattern umher.

1

Diese schöne Fassung der bekannten kurdischen Sage ist von Bischof Garegin Sruanztianz in seiner ethnographischen Sammlung ›Mit Geschmack und Geruch‹ (Konstantinopel 1884) S. 269–277 in armenischer Übersetzung veröffentlicht. Der Erzähler wird leider nicht erwähnt. – Sipan Daĝ liegt an dem Nordufer des Wansees zwischen Axlat und Arğeš.

2

[Über dies besonders in orientalischen Erzählungen häufige Motiv einer durch einen Traum entstandenen Liebe vgl. Rohde, Der griech. Roman, 1876, S. 49, Chauvin, Bibliographie arabe 5, 132, Prym-Socin, Kurdische Samml. 2, 100, Wlislocki, Zeitschr. f. vgl. Literaturgesch. 5, 240 (türkisch), Stephens, Gesch. der wälschen Literatur, 1864, S. 509, Campbell, Pop. tales of the West Highlands Nr. 176, Luzel, Légendes chrét. de la Basse-Bretagne 2, 220.]

3

Niederlassung der Kurden.

4

Die Musikkapelle im Orient besteht aus zwei Flötenspielern (Zurnačì) und einem Trommelschläger (Davulčì). Am häufigsten sind Rundtänze, an denen die Männer und Frauen teilnehmen und der Ring der Tanzenden sich von links nach rechts bewegt.

5

Nach der kurdischen Sitte schmaust der Bräutigam mit seinen Verwandten und Genossen einige Tage im Hause seiner Braut, bevor er sie feierlich mit grosser Begleitung zu Pferd heimführt.

6

Mantel.

Quelle:
Chalatianz, Bagrat: Kurdische Sagen. In: Zeitschrift für Volkskunde 15-17 (1905-1907), S. 324-327.
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