12.
Der vorzeitige Prophet.

[19] Vor ungefähr hundert Jahren lebte ein Mann in Irland, der sich außer der Landwirthschaft auch noch mit dem Studium der Astrologie beschäftigte. Nun geschah es, daß zur Zeit, als sein jüngster Sohn einen Monat alt war, einer seiner Knechte zu ihm gelaufen kam und ihm Folgendes erzählte:

»Herr, ich habe heute ein Wunder gesehen. Als unsere schwarze Kuh bei dem großen Dornbusch stand, ward sie plötzlich von einem dichten Nebel umgeben, währenddem doch sonst das heiterste Wetter war. Ich ging etwas näher an sie heran und sah eine große Seemöve zu ihr fliegen, die einen schrecklichen Lärm mit ihren Flügeln machte. Da ich glaubte, sie würde dem armen Thiere die Augen aushacken, so sprang ich mitten in den Nebel, doch sobald ich denselben berührte, war er auch verschwunden und die Kuh graste ruhig weiter!«

»Gott sei Dank!« rief der Herr entzückt aus, »was ich mir seit Jahren gewünscht habe, ist endlich in Erfüllung gegangen. Gib auf die Kuh Acht und wenn sie kalbt, so bring mir die erste Milch und ich werde dir mehr Geld geben, als du jemals in deinem Leben gesehen hast.«

Der Knecht that wie ihm befohlen war und konnte sich wegen der Belohnung nicht beklagen. Der Hausherr ließ seinen Sohn die Milch trinken und als derselbe anfing, einige verständliche Worte zu sprechen, rief der Vater sein ganzes Gesinde zusammen und sprach: »Hüte sich jeder, meinem Sohne irgendwie eine wichtige Frage zu stellen; er ist nämlich ein Prophet, und wenn er sein hohes Amt vor dem vierzehnten Jahre beginnt, so wird es ihm Verderben bringen!«

Als der Knabe nun gegen vierzehn Jahre alt war, hatte ein Knecht, der auf die schwarze Kuh Acht geben sollte, ein wenig zu lange mit einer Magd geplaudert und sie daher ganz aus den Augen verloren. Er suchte lange nach ihr, aber vergebens, sie war nirgends mehr zu sehen. Da er nun sehr gut wußte, wie viel seinem Herrn an dieser Kuh gelegen war, so lief er in seiner Angst zu dem jungen Propheten und fragte ihn um Rath.

»Die schwarze Kuh liegt dort im Graben und ist todt!« erwiderte[19] er; doch kaum war das letzte Wort aus seinem Munde, da verzerrten sich seine Züge und seine Augen traten aus dem Kopfe. Als der Vater herbeikam, fand er an Stelle seines Sohnes einen bedauernswerthen Irrsinnigen.

Quelle:
Knortz, Karl: Irländische Märchen. Zürich: Verlagsmagazin J. Schabelitz, 1886, S. 19-20.
Lizenz:
Kategorien: