21.
Die Königin von Sciana Breaca.

[33] Fion, der Sohn Cumhail's, hatte sich eines Tages verirrt und war auf einen großen Wiesenplan gekommen, auf dem er die zwölf Söhne von Bawr Sculloge Ball spielen sah. Sobald diese ihn sahen, liefen sie ihm entgegen und begrüßten ihn als den Beschützer der Unterdrückten und als Vertheidiger der Insel gegen die Fremden und luden ihn ein mitzuspielen.

Als das erste Spiel, bei dem sich Fion durch seine erstaunliche Geschicklichkeit ausgezeichnet hatte, vorbei war, trat ein fremder Mann, der in einem Boote gekommen war, vor den Sohn Cumhail's und sprach:

»Die Königin von Sciana Breaca ladet dich durch mich ein, sie auf ihrer Insel zu besuchen. Sie wird von der Hexe Chluas Haistig1 verfolgt und es ist ihr gerathen worden, dich um Hilfe anzusprechen.«

»Da wendet sie sich vielleicht an den Unrechten,« erwiderte Fion; »dadurch, daß ich den ›Lachs der Wissenschaft‹ aß, habe ich zwar die Gabe der Allwissenheit erhalten, aber nicht die Kraft, gegen die Stärke einer Hexe ankämpfen zu können.«

»Zögere nicht,« sprach darauf der älteste Sohn von Bawr Sculloge zu ihm; »meine beiden Brüder, Bechunach und Chluas Guillin, und ich werden dich begleiten; wir sind schon länger als einen Tag auf der Welt!«[33]

Nun brach Fion zwei Zweige von einem Haselstrauche ab und als sie an's Ufer kamen, ward aus dem einen ein Boot und aus dem andern ein Mast. Ein günstiger Wind trieb sie schnell nach der Insel der Königin, wo sie sehr freundlich aufgenommen wurden.

»Ich hatte zwei schöne Kinder,« sprach sie, »und sobald jedes seinen zweiten Geburtstag feierte, ward es krank und wurde in der dritten Nacht von der bösen Zauberin Chluas Haistig geholt. Mein jüngstes ist jetzt gerade ein Jahr alt und seit zwei Tagen unwohl; sicherlich wird die Hexe diese Nacht kommen und es holen, wenn ihr mir nicht helft.«

Als es Abend ward, gingen Fion und die drei Brüder in das Schlafzimmer des kranken Kindes; Grunne Ceanavaltha2 (der älteste) und Bechunach spielten Schach, Chluas Guillin hielt Wache und Fion ließ sich auf das Sopha nieder und schlief allmälig ein. Bald überlief es den Wächter kalt und das Kind fing an ängstlich zu jammern. Ein langer, magerer, mit rauhen Haaren bewachsener Arm kam durch den Kamin; die Brüder fuhren vor Schreck auf und nur Chluas Guillin hatte den Muth zuzugreifen. Die Hexe wehrte sich verzweifelt; doch er hielt sie fest und zog sie in das Zimmer. Dann fiel er erschöpft nieder; doch ehe ihm die andern zu Hilfe gekommen waren, war die Zauberin mit dem Kinde verschwunden.

»Grunne,« rief Chluas, »nimm Bogen und Pfeile und laß sie uns verfolgen!«

Gleich eilten sie fort, sprangen in ihr Boot und fuhren dem verzauberten Schlosse der Hexe zu. Es schien aus Eisen gebaut zu sein und eine blaue Flamme umkreiste es beständig mit Blitzesschnelle. Als sie an's Ufer traten, murmelte Chluas einige Zauberformeln vor sich hin und bat seine Schutzgeister, die Hexe in tiefen Schlaf fallen und die Flamme stillstehen zu lassen. Sein Wunsch wurde augenblicklich erfüllt und Bechunach warf seine mit einem Haken versehene Strickleiter auf das Dach, woselbst sie auch hängen blieb. Mit der Gewandtheit einer wilden Katze kletterte er hinauf und sah durch eine Öffnung, wie die Zauberin aus einer klaffenden Wunde blutend am Boden lag und wie die drei Kinder neben ihr saßen und weinten. Er ließ sich in's Zimmer hinab, holte die Kinder und reichte eins[34] nach dem andern seinen Gefährten, die sie in das Boot trugen. Dann kletterte Chluas wieder die Leiter hinunter und stieg in's Boot; kaum hatte er es jedoch betreten, da verließ die Hexe der Zauber und sie eilte unter schrecklichem Geheul an's Ufer, sprang in ihr Boot und ruderte den waghalsigen Abenteurern nach. »Nimm den Bogen zur Hand,« sprach Chluas zu Grunne; dieser zog die Sehne an und im nächsten Augenblicke that das Schifflein der Hexe einen Krach und sank mit ihr in die Tiefe. Eine bläuliche Flamme bezeichnete noch lange darnach die betreffende Stelle.

Die Kinder wurden der Königin überliefert und Fion blieb mit seinen Gefährten noch drei Monate in ihrem Schlosse.

1

Flach-Ohr.

2

»Bärtiger Jüngling.«

Quelle:
Knortz, Karl: Irländische Märchen. Zürich: Verlagsmagazin J. Schabelitz, 1886, S. 33-35.
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