50.
Der Imhiquin-See.

[102] Das Bett des Imhiquin-Sees war früher eine schöne Ebene, in der ein großes Schloß stand. Dicht dabei befand sich eine Quelle, in der sich zuweilen in mondhellen Nächten drei wunderschöne Jungfrauen badeten. Als der Herr des Schlosses davon hörte, versteckte er sich eines Abends hinter einen Felsen und wartete unbemerkt auf die Ankunft der lieblichen Mädchen. Dieselben erschienen auch bald und als sie sich gebadet hatten und an seinem Versteck vorbeigingen, griff der Ritter zu und hielt die Jüngste fest. Sie bat und flehte, sie doch loszulassen; aber als sie sah, daß alle Bitten vergebens waren, willigte sie ein, seine Frau zu werden und ging mit ihm in das Schloß. Sie hatte jedoch vorher dabei die Bedingung gestellt, daß er nie fremde Gäste in seine Wohnung laden sollte.

Zwei Jahre lang hielt er sein Versprechen getreu, doch als er sich im dritten einmal an einem Wettrennen betheiligt und dabei etwas mehr als nöthig getrunken hatte, vergaß er sein Gelübde und nahm am Abend einige lustige Gesellen mit nach Hause.

Seine Frau, die ihn schon von Weitem kommen sah, nahm ihre beiden Kinder und eilte ihm traurig entgegen. Er sah sie in ihrer vollen Schönheit vor sich, doch als er sie umarmen und um Verzeihung bitten wollte, verschwand sie in dem Elfen-Brunnen. Er wollte ihr nachstürzen, aber seine Begleiter hielten ihn zurück.

Kurz darauf wuchs die Quelle zu einem großen See, der bald das Schloß und das ganze Thal bedeckte. Noch heute will man in dem Rauschen seiner Wellen das Wehklagen der Gattin um ihr verlorenes Glück hören.

Quelle:
Knortz, Karl: Irländische Märchen. Zürich: Verlagsmagazin J. Schabelitz, 1886, S. 102.
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