[54] Der König von Spanien hatte einen Sohn, wie der herangewachsen war, bat er eines Tages seine Mutter, sie möge ihn in den Wald gehen lassen, er wolle mit seinen eigenen Händen ein Stück Wild erlegen. Aber die Mutter sprach: »Mein Sohn, das kann nicht sein, denn du wirst dich verirren.« – »O, meine Mutter«, antwortete der Sohn, »laß mich nur, ich verirre mich nicht, nehme ich mir doch viele Soldaten zur Begleitung mit. Gebt mir zwei Regimenter, und Ihr könnt ohne Sorgen sein.« Die Königin ging zum Könige und sagte: »Unser Sohn will auf die Jagd gehen, eigenhändig ein Stück Wild zu erlegen, lassen wir ihn ziehen.« Der König aber wollte nicht: »Wir werden den Knaben sicher verlieren.« Die Königin bat jedoch so lange, bis der König die Hauptleute rief und sprach: »Ich empfehle Euch meinen Sohn, haltet die Augen offen über ihn, verliert ihr ihn, so verliert ihr auch euere Köpfe.« Die Hauptleute begleiteten also mit ihren Mannen den Königssohn in den Wald. Wie sie angekommen waren, waren sie müde geworden, und der Prinz sagte zu ihnen: »Jetzt, Kinder, legen wir uns etwas schlafen, um mit frischen Kräften weiter zu können.« So schliefen sie alle[55] ein, und der Königssohn stand auf und schweifte allein in dem Walde herum. Als die Soldaten erwachen und den Prinzen nicht mehr finden, fangen sie an zu jammern: »Wehe uns Armen, wir sind verloren!« Sie durchsuchen den Wald nach allen Seiten, aber der Knabe wird nicht gefunden, und der Hauptmann sagt: »Was bleibt zu thun? Der Knabe ist dahin, kehren wir zum Könige zurück.«
Sie warfen sich dem Könige zu Füßen: »Herr König, thut mit uns, wie Ihr wollt. Während wir schliefen, ist der Knabe verschwunden.« Der König rief die Königin und sprach: »Siehst du jetzt, wie recht ich hatte? Er konnte seinem Geschicke nicht entfliehen, und dafür können diese Braven nicht, so will ich ihnen verzeihen.« Und er begnadigte die Hauptleute.
Der Knabe wanderte indessen Tag und Nacht und kam in eine Höhle, wo ein Einsiedler hauste. »O, heiliger Vater«, rief er, »ich habe den rechten Weg verloren, willst du mir sagen, welche Richtung ich einschlagen muß?« – »Was soll ich dir sagen, mein Sohn? Doch höre, was du thun kannst. Gehe zu meinem ältern Bruder, er wohnt weiterhin, der kann dich besser berichten als ich.« Wie er zu dem andern Einsiedler kam, fragte ihn der, was er so einsam da herumstreife, und der Knabe erzählte seine Geschichte. Der Einsiedler sprach ihm Muth ein, beschrieb ihm einen Weg zu der Hütte eines Zauberers, der alles verschlang, berichtete ihm, wie der Zauberer eine Tochter habe, und gab ihm ein Brot. »Geh«, sagte er, »geh und sprich mit dieser Tochter, denn die versteht Latein.1«[56]
Der Knabe ging weiter. Die Tochter des Zauberers kam gerade vom Wasser; wie sie den Jüngling sah, rief sie ihn an: »Schöner Jüngling, sag', was machst du hier?« Und auch ihr erzählte er seine Geschichte und bat sie flehentlich um ihre Hülfe. »Gern«, sagte das Mädchen, »gern will ich dir helfen, aber wirst du mich zur Frau nehmen?« Der Jüngling sagte das zu und wollte ihren Namen wissen. »Ich heiße Bifara. Und nun sieh dich wohl vor, bald wird mein Vater hier sein. Einstweilen führ' ich dich zu meiner Mutter, die ist drinnen. Mein Vater wird dich fragen, ob du bei ihm bleiben willst, und dann wird er von dir verlangen, diesen Berg da in einer Stunde zu ebnen, darauf zu säen, zu ernten, zu dreschen. Hat dir mein Vater die Aufgabe gestellt, so mußt du sprechen: ›Berg, so hoch du bist, eben mußt du werden.‹ Darauf wird er dir einen Baum zeigen, hoch bis in die Wolken, von dem sollst du ihm das Nest mit den Vögeln holen. Zu ersteigen ist er aber nicht, und da mußt du sprechen:
So hoch du bist, neige dich itzt,
Wegen der Macht, die Bifara besitzt.
Sieh dann hier den Ofen, den heizt mein Vater, und wenn er schön rothglühend ist, wird er dich hineinschicken, ihn auszukehren, dann sprich nur:
So heiß du bist, erkalte itzt,
Wegen der Macht, die Bifara besitzt.
Jetzt gehe und sei auf deiner Hut, schöner Knabe!«
Der Jüngling tritt in das Haus, dort trifft er die Mutter, die sagt:
[57]
Geruch vom Menschen wittert herein,
Ich fress' ihn auf mit Haut und Bein.
»Ach was«, sagte die Tochter, »hört die Geschichte dieses Knaben, er hat sich verirrt und sucht unsere Hülfe. Schwört mir bei Euern Zähnen, daß Ihr mir ihn nicht freßt.« Das war der höchste Schwur der Alten, und sie schwor ihn der Tochter zu Liebe und ließ dann den Jüngling in eine Kiste kriechen. Da kommt der Vater, und auch er ruft:
Geruch von Menschen wittert hier,
Ich fress' ihn mit Haut und Haaren mir.
»Ach was«, sagte die Tochter neuerdings, »wer weiß, was Euch in die Nase kommt, hier ist nichts Derartiges.« Sie gaben dem Alten reichlich zu essen, doch immer kam er darauf zurück:
Geruch von Menschen wittert hier,
Ich fress' ihn mit Haut und Haaren mir.
Erst als er ganz satt war, sagte die Tochter: »Jetzt will ich Euch die Wahrheit sagen, es ist ein junger Knabe hierher verirrt, und schwört Ihr mir bei Euern Zähnen, daß Ihr ihm kein Leides thut, will ich ihn Euch wol zeigen, sonst fressen wir ihn allein.« Der Alte rief: »Laßt ihn herkommen.« Er kam, und er fragte ihn: »Ei, welch saftiger Bissen bist du, wie heißest du denn?« – »Ich heiße Salvatore.« – »So, Salvatore! Nun, Salvatore, komm und iß einstweilen, morgen früh dann sollst du erfahren, was für Arbeit ich für dich habe.« Der Jüngling aß, der Alte ließ ihm ein Bett bereiten, und alle legten sich nieder, außer dem Mädchen. Das[58] setzte sich in der Nähe nieder und hielt die Augen offen. Gegen Mitternacht rief der Alte: »He, Salvatore, jetzt sieh, wo du bleibst.« Und die Alte: »He, Salvatore, jetzt sieh, wo du bleibst.« Und die Tochter: »Auch ich will ihn fressen.« So verging die Nacht.
Beim Tagen sagte der Alte: »Salvatore, siehst du jenen Berg? Den sollst du mir in einer Stunde ebnen, darauf säen, dann schneiden und dreschen: auf einer Seite das Korn, auf der andern das Stroh.«
Der Knabe gedachte der Worte Bifara's und sagte: »Berg, so hoch du bist, eben mußt du werden, und geerntet muß sein in einer Stunde.« Als alles vollendet war, kam der Alte herbei und sagte: »Siehe da, welche Gewalt du hast! Nun aber schaue jenen Baum!« – »Ich sehe ihn.« – »Bemerkst du, wie hoch er ist?« – »O gar wohl.« – »In dessen äußersten Wipfel mußt du jetzt steigen, mir das Nest mit den Vögeln holen.«
Der Jüngling trat vor den Baum hin und rief:
So hoch du bist, neige dich itzt,
Wegen der Macht, die Bifara besitzt.
Wie er darauf dem Alten das Nest brachte, sagte der: »Ei, welche Gewalt besitzest du. Nun habe ich aber noch etwas für dich. Du mußt mir den Ofen da heizen, bis er schön roth wird, dann kriechst du hinein und kehrst mir ihn fein säuberlich.« Der Jüngling fing an zu heizen, und als der Ofen zu glühen begann, rief er:
So heiß du bist, erkalte itzt,
Wegen der Macht, die Bifara besitzt.
Die Sache ging gut, und der Alte verwunderte sich aufs neue. Darauf mußte er mit seiner Alten auf die Reise[59] und sagte: »Ich werde eine Woche fortbleiben, du hütest mit Bifara zusammen das Haus.«
Kaum waren sie fort, so berieth sich Bifara mit dem Jünglinge und sprach: »Jetzt ist es Zeit zu fliehen, denn mein Vater riecht zwölf, meine Mutter zehn Meilen weit, und wir müssen einen Vorsprung haben.« Und die Kinder flohen.
Nach acht Tagen kommen die Alten zurück, und schon von weitem ruft der Vater: »Bifara! Bifara!« Aber Bifara antwortet nicht wie sonst. Da merkt der Alte den Braten und sagt: »Sie sind fort, fort sind sie. Nun ihnen nach, denn jetzt will ich sie fressen.« Spornstreichs läuft er hinter den Kindern drein und entdeckt sie auch endlich in der Ferne. Bifara sieht ihn, wendet sich an ihren Bräutigam und ruft: »Schöner Knabe, dort kommt mein Vater! Doch sei ohne Sorge, ich verwandle mich in einen Gärtner und dich in eine Kohlpflanze.« Keuchend kommt der Alte an und findet den Gärtner: »He, Gevatter Gärtner, habt Ihr nicht einen Jüngling mit einem Mädchen vorbeigehen sehen?« Der Gärtner antwortete: »Ich verkaufe Kohl, Kraut und Rüben!« Und der Alte kehrte wieder um. Seine Frau fragte ihn, was er ausgerichtet, er erzählte ihr von dem Gärtner und dem Kohl. Da rief voll Zorn die Alte: »O, warum brachst du die Kohlstaude nicht entzwei? Hättest ihn mitten durchgebrochen.« – »Daran hab' ich nicht gedacht«, war die Antwort des Alten. »Laß mich jetzt gehen«, sagt die Frau und läuft wie der Wind hinter den Flüchtlingen her, ihr Kind zu tödten. »Schöner Knabe, meine Mutter kommt. Doch sei ohne Furcht, ich verwandle mich in einen Bach und dich in einen Aal.« Wie die Alte ankommt, konnte sie den Aal nicht[60] fangen, verwünschte ihre Tochter und rief: »So möge er für immer deiner vergessen!« Darauf machte sich der Alte wieder auf die Beine, fand aber eine Kapelle, mit einem Priester drinnen, auf dem Wege. Er fragt: »Gevatter, habt Ihr einen Jüngling und ein Mädchen hier vorüberziehen sehen?« – »Wenn Ihr die Messe hören wollt, so tretet ein, es ist eben eingeläutet.« Da rief auch der Alte im hellen Zorn: »So möge er für immer deiner vergessen.« Wie er fort war, sagte das Mädchen traurig zu dem Knaben: »O, Salvatore, du hast gehört, welche Verwünschung meine Aeltern über mich ausgesprochen haben, sag', wirst du meiner vergessen?« –
So erreichten sie die Stadt des Königssohnes, er ließ seine Braut vor den Thoren warten, um sie mit aller Herrlichkeit seinen Aeltern vorzuführen, und sie sprach:
Ich warte hier allein
Sitzend auf diesem Stein.
Küßt deine Mutter dich,
Vergißt du mich ...
Er schwur ihr, daß er sie nie vergesse, und geht nach dem Schlosse des Königs. Die Mutter, voller Glückseligkeit, umarmt und küßt ihn, und Bifara war vergessen. War vergessen, und der Königssohn suchte sich eine neue Braut. Die einsame Bifara fühlt das in ihrem Herzen, und sie fertigt zwei Puppen, gibt ihnen Sprache in den Mund und geht, sie zu verkaufen, vor dem Schlosse auf und ab, immer rufend: »Wer kauft sprechende Puppen? Wer kauft sprechende Puppen?« Wie der Königssohn den Ruf hörte, ließ er das Mädchen hereinkommen und sprach: »Laß mich hören, was deine Puppen erzählen können.« Und die Puppen erzählten[61] haarklein alles, was er und sie durchgelebt: die Geschichte von Salvatore und Bifara, zuletzt auch das Sprüchlein, da Bifara auf dem Steine saß und sang:
Ich warte hier allein
Sitzend auf diesem Stein.
Küßt deine Mutter dich,
Vergißt du mich.
Da kehrten dem Königssohn die entflohenen Gedanken zurück; er erkannte Bifara, warf sich an ihre Brust und küßte sie. So wurde Bifara seine Frau.
Sie lebten glücklich eins im andern
Und wir, wir müssen barfuß wandern.
1 | D.h. ist gar klug. |
Buchempfehlung
1843 gelingt Fanny Lewald mit einem der ersten Frauenromane in deutscher Sprache der literarische Durchbruch. Die autobiografisch inspirierte Titelfigur Jenny Meier entscheidet sich im Spannungsfeld zwischen Liebe und religiöser Orthodoxie zunächst gegen die Liebe, um später tragisch eines besseren belehrt zu werden.
220 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro