44. Von der wahren Gastfreundschaft.

[195] Der heilige Rabbi Levi-Jizchok von Berditschew kam einmal nach Lemberg. Er ging zu einem reichen Manne und bat ihn, er möchte ihm erlauben, in seinem Hause zu übernachten. Der reiche Mann wußte nicht, wen er vor sich hatte, und sagte, daß es in Lemberg doch genug Gasthäuser gäbe. Der Rabbi bat ihn noch einmal um Nachtquartier und sagte, daß sein Geldbeutel ihm nicht erlaube, in einem Gasthause abzusteigen. Der Reiche nahm ihn trotzdem nicht auf, sondern schickte ihn zu einem gewissen Lehrer. Der Rabbi wollte sich nicht zu erkennen geben und ging zum Lehrer, der ihn sehr gastfreundlich aufnahm. Am nächsten Morgen wurde in Lemberg bekannt, daß der Berditschewer Rabbi angekommen sei, und viele Leute kamen vor das Haus des Lehrers, um den Heiligen zu begrüßen. Unter den Leuten befand sich auch der reiche Mann; er sagte zum Rabbi: »Ich bitte Euch, Rabbi, kommt in mein Haus: denn alle großen Männer, die nach Lemberg kommen, pflegen immer bei mir abzusteigen.«

Der heilige Rabbi Levi-Jizchok antwortete darauf: »Welcher Unterschied ist zwischen Abraham und Lot? Alle preisen die Gastfreundlichkeit und Barmherzigkeit Abrahams, der die drei Engel mit Butter, Milch und Fleisch bewirtete; von Lot heißt es ja auch, daß er die Engel aufnahm und ihnen ungesäuerte Kuchen buk. Lot lud die Engel doch ebenso freundlich zu sich ein wie Abraham. Der Unterschied ist der: Von Lot heißt es: ›Die zwei Engel kamen gegen Sodom,[196] und da Lot sie sah, stund er auf ihnen entgegen.‹ Lot wußte also, wen er vor sich hatte. Von Abraham heißt es aber: ›Und als er seine Augen aufhub, sah er, da stunden drei Männer vor ihm.‹ Die Engel erschienen Abraham also als gewöhnliche Menschen, und doch nahm er sie gastfreundlich auf. – So war es auch mit Euch: als ich zu Euch als gewöhnlicher Mensch kam, wolltet Ihr mir kein Obdach gewähren und schicktet mich zuerst in ein Gasthaus und dann zum Lehrer. Und jetzt, da Ihr mich als den Berditschewer Rabbi seht, ladet Ihr mich zu Euch ein.«

Quelle:
Eliasberg, Alexander: Sagen polnischer Juden. München: Georg Müller, 1916, S. 195-197.
Lizenz:
Kategorien: