Der Riese und der See.

[16] An der Landstraße, welche die Rittergüter Lubahn und Seßwegen mit der Stadt Riga verbindet, etwa fünfzig Kilometer von der letzteren entfernt, liegen auf einem von den großen Kangarbergen gen Südosten sich erstreckenden Abhange zwei Hügel, etwa hundert Schritt voneinander entfernt. Von diesem Orte erzählt man sich folgende Mär: Einst lebte daselbst ein Riese, dessen Schlafstelle der zwischen beiden Hügeln belegene Raum war. Auf dem westlichen Hügel ruhte sein Haupt, gegen den östlichen aber stützte er seine Füße. Er besaß ungeheure Kräfte und ging sehr schnell. Wenn seine Mutter den Kessel aufs Feuer setzte, um Mittag- oder Abendbrot zu kochen, machte er sich nach Riga auf und brachte, bevor noch die Speise fertig war, in jeder Hand ein paar Centner Salz von dort mit.

Damals gab's in jener Gegend weder Berge noch Sümpfe, nur einen großen See, welchen alle nach Riga Reisenden oder von dort Kommenden in Kähnen durchfahren mußten. Der See aber verlangte von jeder Schar Reisender ein Menschenopfer. Wenn man ihm ein solches nicht darbrachte, ward er zornig und vernichtete alle Hinüberfahrenden.

Eines Tages erging sich der Riese am Seeufer und sah dem bewegten Leben der hin- und herfahrenden Böte zu. Diesmal erhielt der See kein Opfer – und geriet darob in unbändige Wut. Dieses eigennützige Gebaren verdroß den Riesen und er beschloß einen Weg mitten durch den tückischen See zu bahnen. Er füllte seinen großen Sack mit Erde, nahm ihn auf den Rücken und begann die Flut zu durchschreiten. Das untere Ende des Sackes war offen, so daß der Sand langsam herausrieselte und in den See fiel, bald in größerer, bald in geringerer Menge. So entstanden die[17] Kangarberge, auf welchen alle Reisenden ungefährdet das Wasser überschreiten konnten.

Darob ergrimmte der See und wütete drei Tage und drei Nächte lang, konnte aber die Berge nicht zerstören; darum beschloß er, sich ein anderes Bett zu suchen. Er erhob sich in die Luft und zog, als Wetterwolke, gerade dem Flüßchen Ewst zu, wo in schöner, fruchtbarer Gegend viele reiche Bauernhöfe standen. Mägde, welche am Flußufer Wäsche trockneten, erblickten die Wolke und hörten ein starkes Knistern. Da riefen mehrere: »Das knistert ja, als würden Schalen verbrannt!« – eine aber sagte: »Diese Wolke ist nichts weiter, als ein großer See.« Kaum hatten sie so gesprochen, als die Wolke zur Erde herabrauschte und die ganze schöne Gegend überflutete. Nur diejenigen Mädchen, welche das Rätsel der Wolke und den Namen des Sees erraten hatten, wurden von den Wellen ans Ufer geworfen und also gerettet. Der See aber heißt bis auf den heutigen Tag der »Lubahnsche«.1

1

luba, lettisch – Rinde, Schale.

Quelle:
Andrejanoff, Victor von: Lettische Märchen. Nacherzählt von -, Leipzig: Reclam, [1896], S. 18.
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