1. Mythe.

[63] In uralter Zeit ehelichte die goldene Sonne den glänzenden Mond. Lange lebten sie glücklich und unzertrennlich beisammen. Sie gingen um dieselbe Stunde zu Bett und verließen ihr Lager zur selben Zeit; auch viele Kinder wurden ihnen beschert – die himmlischen Sterne. Einst aber begab es sich, daß Frau Sonne, erwachend, den Gatten nicht neben sich fand. Eifersüchtig durchspähte sie den Himmelsraum und fand bald heraus, daß der Ungetreue die verlobte Braut des Morgensternes entführt habe. Das war die »Sonnentochter«, ihr und des Donnerers Pehrkon Kind aus einer früheren, flüchtigen Verbindung. Sie schicke dem Gewaltigen Nachricht und dieser jagte im Wetter den Flüchtigen nach. Er[63] ereilte dieselben am Thor zum Hochzeitshause und schlug mit seinem Flammenschwerte den ungetreuen Gatten in Stücke. Daher kommt es, daß der Mond uns oft in gleichsam verstümmelter Gestalt erscheint und sich seiner Gattin fern hält, welche in der Nacht ruht, während er am Tage sein Lager aufzusuchen pflegt. Die arme Sonnentochter aber wurde für immer auf die Erde hinuntergebannt. Dort ward sie zur »Hüterin des häuslichen Herdes«, der zu Ehren die lettischen Wirte das Feuer niemals ganz ausgehen lassen. Sechsmal im Jahre sitzt diese Feuerhüterin selbst während einer ganzen Nacht am Herde. Manchmal zeigt sie sich auch in stillen Sommernächten als kleines, ohne Flackern brennendes Feuer im grünen Birkenhain; sie soll dann sogar, wenn es ihr notwendig erscheint, menschliche Gestalt annehmen.

Quelle:
Andrejanoff, Victor von: Lettische Märchen. Nacherzählt von -, Leipzig: Reclam, [1896], S. 63-64.
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