[50] Es war einmal eine Frau; die hatte einen Jungen mit Namen Dschahan; er war faul und wollte nichts arbeiten. Sein Vater hatte deshalb immer seinen Zank mit seiner Frau: »Ich muss immer arbeiten, und der Junge sitzt da! Sieh' doch zu, dass du ihn irgendwohin auf Arbeit schickst!«
Dschahan kam nun zu einem Manne, für den er Kleiderstoffe verkaufen musste. Der gab ihm ein Stück Tuch, und Dschahan ging nun aus, das Stück Tuch zu verkaufen. Da erblickte er eine steinerne Statue. Zu ihr sprach er: »Signora, darf ich dir dieses Stück Tuch verkaufen?« Der Wind bewegte nun jener Statue den Kopf hin und her. »Signora!« begann Dschahan wieder; »willst du das Tuch haben? Es ist gutes Malteser Tuch!« Der Kopf der Statue machte eine Bewegung nach unten; Dschahan dachte daher, sie sage ›Ja!‹ zu ihm. Darum liess er ihr das Stück Tuch auf einem Steine zurück und sagte ihr noch: »Morgen hole ich mir das Geld!« Hierauf begab er sich zu seinem Lehrherrn und erklärte ihm: »Ich habe das Stück Tuch verkauft, und morgen werde ich das Geld holen.«
Am folgenden Tage begab er sich wieder zu jener Statue und sprach zu ihr: »Signora, ich komme wegen dem Gelde.« Der Wind wehte jetzt aber in entgegengesetzter Richtung und bewirkte, dass der Kopf der Statue Bewegungen nach oben machte. Da sprach Dschahan: »Du wirst mich also nicht bezahlen? Du sagst ja immer ›Nein!‹ zu mir!« Und er nahm einen Stein in die Hand und warf sie mit ihm an den Kopf. Als er ihr so den Kopf zerschmettert hatte, kam eine Menge Geldstücke herabgekollert. Dschahan sammelte sie auf und nahm sie mit zu seinem Meister und sprach[50] zu ihm: »Meister, ich bringe dir das Geld für das Tuch.« »Wieviel Geld bringst du da! Das hast du natürlich gestohlen!« »Nein! Die Dame wollte mich nicht bezahlen; da habe ich ihr den Kopf zerschmettert.« »Also getötet hast du sie! Nun komm mit, und zeige mir, wo das war!« Dschahan nahm den Meister mit. Der sprach (an Ort und Stelle) zu ihm: »Das ist keine Dame! Das ist eine Statue aus Stein! Aber das Geld hat dir das Glück gebracht! Komm mit; wir wollen wieder fortgehen!« Dann gab er dem Dschahan etwas von jenem Gelde, und Dschahan begab sich zu seiner Mutter, in froher Stimmung über das Geld. Seine Mutter sprach zu ihm: »Du hast das Geld doch nicht etwa deinem Meister gestohlen?« Dschahan antwortete: »Nein! Er hat es mir gegeben! Ich will nun aber nicht länger bei ihm bleiben; ich will irgend ein Geschäft anfangen!«
So zog denn Dschahan mit 50 Talern hinaus ins Freie und fand draussen einen Menschen in verzweifelter Stimmung vor, dem andere auch den letzten Centime im Spiel abgenommen hatten. Und neben dem Manne hatte man ein Pony hingeworfen; das hatte zwei gebrochene Beine und war blind und ganz voll Wunden. Man hatte es dort hingeworfen, damit es auf dem Felde krepieren solle. Dschahan redete den Mann an: »Guck' her!« Jener fragte: »Was willst du?« Dschahan erklärte: »Verkaufe mir das Pony hier! Es ist gar zu hübsch!« Der Mann horchte auf und sprach: »Ich werde es dir verkaufen! Also: 50 Taler!« »Die habe ich!« »Gut; bring' sie und nimm es!« Nun band Dschahan das Pony an seine Schärpe fest und schleppte es hinter sich her; jener Mann aber lief, sobald er das Geld in den Händen hatte, wie verrückt vor Freude, davon, während Dschahan nach dem Hause seiner Mutter wanderte. Als er nur noch ein ganz kleines Stück bis nach Hause hatte, begann er nach seiner Mutter zu rufen: »Komm heraus, Mutter! Sieh', was ich mitbringe!« Sie kam heraus und sprach zu ihm: »Was ist los? Was bringst du da eigentlich? Heute abend wird dich dein Vater totschlagen, – für das Tier da hast du die 50 Taler verausgabt? Ach, Junge! Was wird mir deinetwegen dein Vater antun! Wo sollen wir das Tier jetzt hintun, damit dein Vater es nicht sieht?« Dschahan erwiderte: »Unter das Bett vom Vater! Also los! Hilf mir es unter das Bett kollern und mache, dass ich ihm Kichererbsen vorsetzen kann, damit es frisst und dann einschläft!«[51]
Als Dschahans Vater nach Hause kam, ass er und legte sich aufs Bett. Gegen Mitternacht stemmte das Pony seine Beine gegen die Bretter des Bettes und warf Dschahans Vater aus dem Bette. Der wusste nun gar nichts von dem Pony; er erhob sich vom Boden und rannte fort und schrie: »Was ist das?« Dann zündete er Licht an und fand das Pony tot unter den Bettbrettern. Er sprach zu seiner Frau: »Was ist das für eine Geschichte? Wer hat das Tier hierher gebracht?« »Der Junge hat es gekauft.« »Wieviel hat er für das Tier ausgegeben?« »50 Taler.« Da lag nun eine Stange in der Nähe; die nahm der Vater her und begann mit ihr die beiden nach Leibeskräften durchzuprügeln. Die Mutter schrie: »Siehst du, Dschahan, wie mir dein Vater zusetzt! Reiss' aus und geh' zu irgend jemandem!«
Dschahan verliess hierauf das Haus und trat bei einem Manne ein, der einen Laden hatte und Essen für die Leute kochte. Der Mann fragte Dschahan: »Junge, was verstehst du zu arbeiten?« Dschahan erwiderte: »Alles!« Der Mann begann hierauf: »Nimm das Geld hier und geh' und kauf' mir ein Gekröse; das will ich zu Mittag kochen.« Dschahan nahm nun den Korb und ging fort, das Gekröse zu holen; da kam ihm der Gedanke: »Ich will es ihm gewaschen bringen!« Er ging deshalb mit dem Korbe an das Ufer des Meeres und begann das Gekröse zu waschen. Schliesslich hatte er bloss noch ein einziges Stück von dem ganzen Gekröse; das Meer hatte ihm alles sonst weggeschwemmt. Nun sprach er: »Wie lange soll ich da eigentlich waschen? Na, wenn ein Schiff vorbeikommt, werde ich es anrufen und werde ihm das ganze Stück Gekröse zeigen, – ob es rein genug ist!« (Das tat er.)
Die Leute auf dem Schiffe hörten ihn, und er sah, dass ihm der Kapitän ein Zeichen gab, er möge näherkommen. Als Dschahan hingelangte, sprach er zum Kapitän: »Sieh' einmal; ist das Gekröse hier rein?« Der Kapitän versetzte: »Deshalb hast du mich hierherfahren lassen? Jetzt werde ich auf dich schiessen!« Damit liess er das Schiff wieder umdrehen und fuhr fort; Dschahan aber nahm das Gekrösestückchen und ging zu seinem Meister. Als er zu ihm gelangte, fragte dieser ihn: »Wohin warst du gelaufen?« Dschahan versetzte: »Ich wollte dir das Gekröse waschen.« Der Meister sprach hierauf: »Du wäschst das Gekröse von 8 Uhr früh bis 4 Uhr nachmittags? Ich brauchte das Gekröse zu Mittag. Und von vier Pfund Gekröse ist dies Fäserchen alles, was du mir bringst?«[52] Vor dem Meister lag gerade eine eiserne Stange da; die warf er dem Dschahan von hinten zwischen die Beine, und Dschahan machte, dass er zu seiner Mutter kam. Die sprach zu ihm: »Du hältst doch an keinem Orte aus; man jagt dich überall fort, wo du bist!«
Im Augenblicke, wo seine Mutter noch mit ihm redete, klopfte es an die Tür. Die Mutter ging an die Tür und fand daselbst eine Frau. Zu der sprach sie: »Tritt ein!« Die Frau versetzte: »Nein! Ich kann nicht; ich habe (zuviel) zu tun.« Da trat Dschahans Mutter in die Türöffnung hinaus und fragte jene: »Was willst du?« Jene versetzte: »Ich bin gekommen, um dich zur Hochzeit eines Mädchens einzuladen.« Dschahan horchte jetzt auf und sprach: »Mutter! Wir wollen hingehen! Da können wir bei der Braut einmal etwas besseres essen!« Jetzt begann die Mutter Dschahans: »Worin willst du hingehen? Du hast keinen Anzug!« »Mutter, dann borg' dir einen für mich!« »Gut, mein Sohn!« Die Mutter Dschahans begab sich nun zu den feinen Leuten, die neben ihnen wohnten und bat diese: »Meine Herrschaften, tut mir den Gefallen und leiht mir für einen Tag einen Anzug für Dschahan!« »Gern!« antworteten die Gefragten und gaben ihr einen weissen, vollständigen, geplätteten und noch neuen Anzug.
Als der Morgen anbrach, zog sich Dschahan an, und die Mutter ebenfalls. Er begann alsdann: »Mütter, wir wollen doch unsere Sau mitnehmen; die wird auch ihr Vergnügen haben.« Die Mutter versetzte: »Gut! Ich werde ihr meinen Goldschmuck anlegen.« Hiermit schmückte sie das Schwein mit einem aus zehn Pfundstücken bestehenden Schmucke, und nun brachen sie alle drei zum Hochzeitsfeste auf: die Mutter, Dschahan und die Sau. Als sie den halben Weg zurückgelegt hatten, trafen sie mit einem Manne zusammen, der sich in verzweifelter Lage befand und auch nicht einen Soldo besass, auf den er hätte schwören können. Er hörte das Grunzen der Sau, welche »Us! Us! Us! Us!« grunzte, wandte sich um und sprach bei sich: »Jetzt kommt mein Glück!« Zur Mutter Dschahans sprach er: »Maria, wohin gehst du?« »Zu einer Hochzeit!« »Ich auch. Und bitte, kann ich dir die Sau ein wenig tragen?« Da begann Dschahan: »Ja, trag' sie und geh' mit ihr immer voran!« Der Mann aber sprach bei sich: »Die gehört mir!«
Als jener ein Stückchen entfernt war, sprach die Mutter Dschahans zu ihrem Sohne: »Ich habe mir eigentlich das Gesicht jenes Mannes gar nicht ordentlich angeguckt; ich will ihm lieber[53] zurufen, dass ich sein Gesicht sehen möchte!« Das tat sie, und der Mann öffnete, als er es hörte, seine Hosen und reckte ihr seinen Hintern entgegen mit den Worten: »Weisst du nun, wie ich aussehe?« »Ja!« antwortete sie. »Wie ist denn mein Gesicht?« fragte er. Sie erwiderte: »Dein Gesicht ist breit wie ein Kuchen, und deine Nase ist ziemlich lang.« Jetzt machte jener, dass er fortkam mit der Sau und ihrem Goldschmuck. Hernach verkaufte er die Sau.
Als die Frau zum Hochzeitsfeste gelangte, konnte sie jenen Mann nirgends finden; darum sprach sie zu Dschahan: »Heute abend wird uns dein Vater zweifellos totschlagen!« Dann fuhr sie fort: »Junge, jetzt sage ich dir bloss noch: wenn du (am Tische) sitzt, so nimm die Serviette hübsch vor, damit du nicht den Anzug beschmutzt!« »Jawohl, Mutter!« versetzte Dschahan und begab sich dann hinunter in die Küche. Dort befand sich ein russiger Kessel; den kehrte Dschahan um und setzte sich auf ihn und machte sich ganz voll Russ, – ganz schwarz sah er aus! Als er wieder hinauf zu seiner Mutter kam, sprach sie zu ihm: »Ach! Wie hast du den Anzug zugerichtet? Was ist das für eine Geschichte?« Dschahan erwiderte: »Hab' keine Angst, Mutter! Du kannst ihn ihnen ja waschen!« Schliesslich war die Hochzeit zu Ende, und Dschahan und seine Mutter kehrten nach Hause zurück.
Als am Abend der Vater kam und die Sau füttern wollte, fand er sie nicht. »Wo ist die Sau?« fragte er sein Weib, »Ich weiss es nicht!« versetzte sie. Da sprach er: »Gut!« und langte sich die Stange hinter der Tür hervor und begann, die beiden nach Leibeskräften durchzuprügeln. Dschahan musste sich zu Bette legen und starb im Verlauf einer Woche. Und sein Vater und seine Mutter zankten sich seinetwegen flott weiter.
Der Vater erklärte schliesslich: »Ihr habt mich ganz verrückt und dumm gemacht durch die Streiche, die ihr mir gespielt habt! Nun werde ich irgendwo fern von hier Arbeit suchen. Mach' mir Brot für zwei Tage fertig, damit ich nicht allemal wieder hierherzukommen brauche von so weit her!« Am Abend, als er nun doch nicht kommen wollte, sprach sie bei sich: »Ich werde gar nicht kochen; ich werde ein Stück Brot mit Öl essen und aufs Feld gehen und mir eine Zwiebel dazu ausreissen!« Kaum war sie nach dem Felde gegangen, – da drang ein Dieb ins Haus ein; der hatte eine Leiter mit, mit der er auf den Oberboden stieg, wo er sich mitten in der Baumwolle verbarg.[54]
Als der Vater Dschahans sich anschickte, das Brot herzunehmen und es zu essen, sprach er bei sich: »Ich werde hier doch nicht essen! Ich will lieber meinen Reisesack nehmen und wieder nach Hause wandern; denn meiner Frau ist gewiss etwas geschehen!« – Seine Frau sass da und ass, – da klopfte es an die Türe. »Wer ist da?« »Ich bin's, Maria!« »Wer bist du?« »Dein Giuseppe!« »Du bist also wieder da?« »Ich bin wiedergekommen, weil ich dachte, dir sei etwas geschehen.« »Geh' fort! Komischer Mann du! Übrigens habe ich jetzt nichts gekocht.« »Mach' dir keine Sorge! Wir essen ein Stückchen Fleisch und zwei kleine Käse!« »Gut, dann steig' auf der Leiter nach dem Oberboden und hol' das Heisch aus dem Kruge, und die Käse!«
Als er hinaufgestiegen war und die Baumwolle betrachtete, sah er, dass diese sich bewegte. Da sprach er bei sich: »Famos! Wir haben Besuch!« Nun schloss er die Tür des Oberbodens ab und begab sich nach der Polizeistation. Zwei Polizisten gingen mit und betraten das Haus. Einer von ihnen begann: »Freundchen! Steige von dort oben herunter!« Der Dieb antwortete keine Silbe. Jetzt riet der andere Polizist: »Schiess' auf ihn!« Da kroch der Dieb aus der Baumwolle heraus und kam herunter. Die Polizisten nahmen ihn fest, banden ihn und schafften ihn ins Gewahrsam. Man fand bei ihm eine Pfeife, ein Messer, einen Strick und einen Revolver. Man führte ihn der Behörde vor; die stellte ihn vor Gericht, und er kam für 12 Jahre ins Gefängnis. – Und das Pferd ist aus Wachs! Und Dreck ins Gesicht des Erzählers und des Hörers!
Buchempfehlung
Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.
62 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro