58. Wald sonder Gnaden.

[80] Oude Divisie-Cronycke van Hollant etc. Delft 1585. Fol. 17 a.


Als Kaiser Claudius Brittanienland überwältigt hatte und wiederum zu Schiffe gegangen war, um überzufahren, da erhob sich ein großer Sturm und der warf ihn mit all den Seinen an die Küste der wilden Slaven, welche in Slavenburg und dort umher wohnten. Der Kaiser hatte großen Kampf mit ihnen, doch besiegte er sie endlich durch Frommheit und Ueberzahl seines Kriegsvolkes und behielt Victorie. Dann ging er mit vielen von seinem Heere in den großen Wald, der bei Slavenburg lag, um daselbst zu jagen, und als er hinein kam, hörte er ein so gräuliches Gebrüll von Löwen, Bären, Wölfen, wilden Stieren und Schweinen, daß alle darob erschraken. Da fragte der Kaiser, ob da jemand in dem Walde wohnte, und da sagten die Slaven: »Herr, wir wissen es nicht, aber wir wissen wohl, daß ihr nicht ungeschändet dadurch dringen könnet, und nähmet ihr all euer Volk mit euch; so viel wilder Thiere giebt es dort.« Da fragte der Kaiser nach der Größe des Waldes, und die Slaven sprachen, er sei zehn Meilen lang und drei Meilen breit. »Und ob ihr gleich Abentheuer hättet und hindurch dränget, so wohnen doch an der andern Seite noch die wilden, grausen Niedersachsen, das sind die Friesen, welche niemandes schonen, der in der Welt lebet, und die euch und euer Volk von Stunde an befechten würden.« Da sprach Claudius der Kaiser: »So mag dieser Wald wohl heißen ein Wald sonder Gnaden, denn wie es auch gehe, niemand mag ungeschändet hindurch gelangen; er muß seines Leibes in Furcht sein vor den wilden Thieren oder den wilden Niedersachsen und Slaven« (welches große Menschen waren, rauch von[81] Haaren, stark von Körper und ungezähmet, so daß sie niemand entsahen in der Welt). Und also erhielt dieser Wald seinen Namen Wald sonder Gnaden und trug ihn noch lange Zeit nachher.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 80-82.
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