189. Der Violinbogen.

[294] Berthoud, Chron. et trad. surnat. de la Flandre. p. 159.


Ein alter Geiger kam eines Abends in der Gegend von Hesdin bei furchtbarem Sturm und Wetter noch seines Weges dahergeschritten. Er mußte durch den Wald, verfehlte aber den Weg in der Dunkelheit und irrte lange herum, ohne sich zurechtfinden zu können. Darob ärgerlich, stieß er heftig mit seinem Stocke an die Erde und fluchte einen so gotteslästerlichen Fluch, wie in seinem ganzen Leben ihm keiner über die Lippen gekommen war. Zu gleicher Zeit erblickte er in der Ferne ein helles Licht, faßte neuen Muth und ging mit hastigen Schritten durch Dick und Dünn darauf los. Als er ganz nahe dabei war, sah er, daß das Licht aus den Fenstern eines prächtigen Schlosses kam, welches er vorher nie gekannt und von dem er in seinem ganzen langen Leben kein Sterbenswörtchen gehört. Froh, doch endlich einmal unter Dach zu kommen, trat er in das Thor, durcheilte den Vorhof und stand bald vor der offenen Thüre eines glänzend erleuchteten Saales, in welchem eine Menge von Männern und Frauen sich befand. Die einen saßen an langen Tafeln um köstliche Mahle gereiht, die andern spielten an kleinern Tischen, der größte Theil aber drehte sich unter wildem Gejauchze in lustigem Tanze. Nachdem der Alte einige Zeit das Ganze sich angesehen, trat er zu dem, welcher ihm der Herr des Schlosses schien, und bat denselben, ihm zu erlauben, daß er die Nacht in einem Winkel der Burg zubringen dürfe. Ein huldreiches Lächeln und freundliches Nicken war die ganze Antwort; alsbald kam ein reichgekleideter Diener, der dem Künstler die Violine abnahm und sie an einem Goldnagel aufhing. Nun konnte der Alte sich gar nach[295] Herzenslust ergehen in dem Saale; der erste Gang aber war zur Bühne, wo die Musiker saßen. Neben derselben fand er zu seiner großen Freude eine Viola, so schön, wie er noch keine gesehen, und darum gedachte er, sogleich auch einmal den Ton derselben zu versuchen. Indem er aber seine Augen an der Bühne herumgehen ließ, um die Treppe zu suchen, welche auf dieselbe führe, – denn er hielt sich für fähig genug, es mit dem besten von den Musikanten aufzunehmen, – erblickte er mit einem Male ein bekanntes Gesicht auf derselben. Es war das seines Lehrmeisters in seiner Kunst, der schon dreißig Jahre im Grabe lag. – »Heilige Mutter Gottes, was ist das!« schrie da der Alte bestürzt aus. Im selben Augenblicke verschwand die ganze Gesellschaft mit den Dienern und den Tafeln und den Musikern und dem Schlosse.

Am andern Morgen fanden Leute aus Auffin den alten Violinisten ohne Besinnung am Fuße des Galgens liegen; er hielt einen weißen Violinbogen in der Hand; seine Geige und sein gewohnter Bogen hingen aber an der großen Zehe eines der Gehenkten, um dessen Schultern des Künstlers Mantel vorsichtig gewickelt war.

Aufgeweckt aus seiner Ohnmacht, eilte der Alte mit schnellen Schritten nach Hause. Als er aber dort den weißen Violinbogen näher beschaute, erkannte er, daß das ein Todtenknochen war, und darauf stand mit Silber eingelegt der Name eines Mannes aus Hesdin, der in der Gemeinde in übelm Rufe stand.

Als der Künstler mit dem Bogen zu diesem in die Kammer trat, erbleichte der arge Mensch und bot dem Alten einen Beutel, der nimmer leer wurde, und immer sechs Pfund parisis enthielt, wenn er nichts sagen würde. Der Alte versprach das gerne, nahm die Börse und wurde durch sie in Kurzem ein reicher Mann.[296]

Nun hatte der Alte aber vier junge Neffen, und das waren böse Buben, und die verschworen sich zusammen, ihren Oheim zu tödten. Als dieser das nächste Mal auf seinem Maulesel, gefolgt von dem die Violine tragenden Diener, durch den Wald ritt, da sausten auf einem Kreuzwege plötzlich vier Pfeile auf ihn zu, und er sank tödtlich getroffen zu Boden. Der Diener entfloh.

Ehe aber noch die vier Bösewichte dem Leichnam nahen konnten, trat ein langer, schwarzer Kerl auf denselben zu, griff in eine Hosentasche des unglücklichen Künstlers, zog eine kleine Börse daraus und verschwand mit derselben unter dem von gräßlichem Gelächter begleiteten Rufe: »So nutzen meine Gaben, haha!«

Erschüttert von der Scene, standen die Mörder noch da, als der Constabler von Hesdin mit seinen Leuten heranzog, sie festnahm und auf Befehl des Provosten an die Bäume hing, hinter welchen sie sich versteckt hatten.

Von der Zeit an hieß die Stelle: der Kreuzweg der vier Brüder, und diesen Namen trägt sie noch heutzutage.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 294-297.
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