252. Mahr im Schiffe.

[345] Hect. Boethius l. VIII rer. scoticarum.


Im Jahre 1486 geschah es, daß einige Kaufleute von England aus nach Flandern schiffen wollten und sich ein so gräulicher Sturm erhob, daß der Mast mit den Segeln und Rudern zerbrach und alle den gewissesten Tod vor Augen sahen. Den Schiffsmann wunderte ein solch Unwetter im Mittsommer gar sehr und er erkannte bald, daß es nicht mit richtigen Dingen zugehen könne, sondern daß der Teufel im Spiele sein müsse, und rief das auch mit großem Geschrei seinen Gefährten zu. Da hörten sie auf einmal ein Weib aus dem Innern des Schiffes sich erbärmlich beklagen, daß sie von der Mahr geritten werde, und flehentlich bitten, daß der Schiffsmann sie ins Meer werfen sollte, damit durch ihren Tod wenigstens die andern Leute mit Gottes Gnade und Barmherzigkeit gerettet würden.

Der Schiffsmann aber rief einem Priester, der sich bei ihnen befand, zu, daß er zu dem Weibe gehen und sie trösten möchte, welches der auch gethan, und nachdem sie ihm gebeichtet und von Herzen Buße gethan dafür, daß sie während vieler Jahre schon mit der Mahr gelebt, hat er ihr vorgehalten, daß Gottes Güte nicht ihren Tod wolle und daß sie gewißlich Gnade erlangen würde.

Und als der Priester sie auf diese Weise ermahnt und ihr zugeredet, und sie mit vielen Seufzern und Thränen ihr Verbrechen beweint, da ist plötzlich eine große schwarze Wolke aus dem Boden des Schiffes[345] herausgefahren und hat sich mit erschrecklichem Getöse, Feuer und Flammen und unaussprechlichem Gestank in die See geworfen, welche im selben Augenblicke wieder ganz ruhig wurde, so daß kein Wellchen sich mehr regte.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 345-346.
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