582. Das abgerissene Leichentuch.

[667] Mündlich von Fr. C.


In Geeraerdsbergen wohnte vor langer Zeit eine Frau, die sich vor nichts fürchtete. Diese kam auf Dreikönigenabend, wo man die Runde macht im Städtchen, um Geniever zu trinken, über den Friedhof und sah daselbst eine lange Gestalt neben einem Grabsteine stehen, die ein weiß Tuch umgeschlagen hatte. »Ah«, sprach die Frau, »ihr wollt mich bange machen, doch das gilt nicht; kommt einmal her mit dem Tuche.« Und mit den Worten riß sie der Gestalt das Leintuch ab und – es stand ein gräßlich Gerippe vor ihr. Sie wollte das Tuch hinwerfen und entfliehen, aber das Linnen war wie an ihre Hand gezaubert, und sie mußte sich endlich entschließen, mit dem Tuche wegzulaufen.[667]

Am andern Morgen war ihre erste Sorge, dem Pfarrer alles zu beichten und ihn um Rath zu fragen, was sie wohl anzufangen hätte. Da sprach der Pfarrer also: »Das Tuch müsset ihr diese Nacht um zwölf Uhr dem Todten wieder umhängen, aber er wird euch den Hals brechen, wenn ihr nicht ein unschuldig Kind auf dem Arme mit euch traget.« Deß war die Frau froh, und sie ging Nachts um zwölfe zitternd und bebend auf den Kirchhof: da stand der Todte wieder an dem Grabstein und lachte zuerst; als er aber das unschuldige Kind auf ihren Armen sah, knirschte er mit den Zähnen und verschwand, nachdem die Frau ihm das Tuch eben umgehangen hatte, mit schrecklichem Geprassel.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 667-668.
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