25. Der Schicksalsbrunnen.

[257] Es war einmal, ich weiss nicht wo, siebenmal sieben Königreiche weit von hier, mitten in einem schrecklich grossen Walde, da hatte ein armer Holzhauer zwölf Buben. Was sage ich da? Gott bewahre, es waren nicht mehr als sechs. (Der Märchenerzähler sagt immer so viele, wie er Märchen von andern erzählen lassen will). Ja, so war's wohl, dass der siebente schon gehängt worden war, als der dreizehnte geboren wurde. Warum? Weil sie allesamt ganz gottverlassene Galgenstricke wurden, wenn sie so gross geworden waren, dass sie in Dienst geschickt werden konnten. Drum also beschloss nun des Holzhauers Frau, als der Vater fort war (er war bei einem Galgenbegräbnis), dass sie die sechs kleinen Buben hinausführen wollte in die Wildnis und sie dem lieben Gott anvertrauen.

Sieben Tage, sieben Nächte durchirrte sie mit ihnen den Wald, bis sie an eine von Menschen begangene Rodung kam. Hier legte sie den kleinen Säugling in den Schatten nieder, zeigte den grösseren eine dahin verirrte Pappelbrut auf einem Elsterbaum1. Und als jene dann den verteufelt hohen Baum erkletterten, machte sie sich davon.

Wanderte die arme Frau, wanderte und wanderte, soweit ihr Auge blickte, ihr Fuss sie trug, fand dennoch nicht heim. Sie hielt nicht Rast, solange wie ein Hühnerei bäckt, sie schlief[257] nicht so lang wie ein Hasenschwänzchen; immer irrte sie umher; doch das Kinderweinen hörte sie traun immer noch. Zu guter Letzt fand sie endlich doch ihre eigene Fussspur wieder. Auf der hätte sie schon heimgefunden, doch ach, wie sie so dahintrollte, fing ein Rosenbusch ihr Hemd. Und, Herr du mein Gott, wie sie sich mit dem Strauch abplagt, war's der starke Rosenduft oder was sonst, aber solch schwerer Schlaf drückte ihre beiden Augenlider, dass sie dort auf der Stelle einschlief. Und dann, als sie die Augen geschlossen, neigte sich der Rosenstrauch dicht an ihr Ohr und flüsterte in einem fort und wisperte in einem fort ihr zu:

»Wenn du aufwachst, geh nur, arme Frau, da und dahin, von dort halte dich geradeaus da und dahin. Dort wirst du einen kleinen Schicksalsbrunnen finden. Verstehst du, Liebe: einen Schicksalsbrunnen! Im Rinnsal des kleinen Brunnens wasche dich, mit Klettenblättern trockne dich! Hörst du, Liebe: wasche dich, trockne dich! Wenn du dann der Kinder Schicksal wissen willst, schau in den Brunnen. Dort steht alles herrlich geschrieben. Verstehst du, Liebe: alles steht geschrieben!«

Was? Geschrieben steht's? Ei, ei! So freute sie sich des goldenen Traums, dass sie sogleich erwachte, und wiederum hinein in den Wald, geradewegs dorthin, von wo sie geträumt hatte. Als sie beim Brunnen anlangte, wusch sie sich in grosser Hast, trocknete sich ab und schaute in den Brunnen. Wahrhaftig, bei Christi Kreuz, gerade als ob sie in die Sonne gesehen hätte! Aber dann sah sie im Spiegel des Wassers ganz deutlich, wie der Säugling fest schlief und die älteren gerade die Elsterbrut unter sich teilten. Dem kleinen Brüderchen fiel der kleine Nestling zu, und die andern bekamen auch jeder seins. Als das geschehen war, flatterte die alte Elster auf dem Pappelwipfel. Drauf flatterten die Jungen auch und flogen davon mit Ausnahme des Nestlings. Die Buben ihnen nach! jeder jagte hinter seinem her. Und unsere Frau machte es[258] ebenso und machte sich hinter den Buben her. Sie sprang auch vom Brunnen, doch im selben Augenblick erlosch ihr Augenlicht. Sie wurde blinder, die Arme, als der blindeste Jahrmarktsbettler.

Ach, ach, die arme Frau, die arme Frau! Ihr sollt nun wissen, meine Lieben, dass die Arme ihr Augenlicht erst dann wieder erlangt, wenn die sechs Kinder der Reihe nach herangewachsen sind. Drum wollen wir also die Kinder der Reihe nach vornehmen. Jeder von euch soll die Geschichte von einem erzählen. Denn wenn ihr sie nicht erzählt, dann kann die arme Frau meinetwegen auch bis zum Tage ihres Todes blind bleiben.

(Wenn der Erste die Geschichte des ältesten Sohnes bis dahin erzählt hat, dass er bereits mit einer Herzogstochter den priesterlichen Segen erwartet, dann sagt der Märchenerzähler:) Na, jetzt halt ein! Nun kommt erst die Geschichte von dem zweiten Knaben. Die sollst du erzählen ...

(Der erzählt sie dann auch bis »nicht Hacke, nicht Grabscheit.«2 Dann erzählen die andern die Geschichte der vier Jüngsten, und dann schliesst derjenige, der begonnen, das ganze Märchen:)

Vor der Trauung steckten die Trauzeugen, die Brautführer, die Brautführerinnen, die Brautjungfern, die Hochzeitsgäste die Köpfe zusammen, traun, sie wollten nicht zum Gespött der Welt vor den Priester treten, ehe sie nicht wüssten, woher diese sechs schönen, schlanken Bräutigame stammten,3 wessen Herren Söhne sie seien. Drauf ermannten sich auch die Bräutigame. Sie erklärten rund heraus, dass sie auch nicht zum Gespött der Welt da stehen wollten, bis sie nicht ihre lieben Eltern von irgendwoher herbeigeschafft hätten, und sei es auch unter der Erde her. Und dann zerstreuten sie sich aufs Neue in so viele Richtungen, so viele ihrer waren.[259]

Siebenmal sieben Königreiche durchsuchten sie; doch der arme Mann und die arme Frau kamen nicht zum Vorschein. Schon glaubten sie, dass jede Spur von ihnen verschollen sei. Sie schlugen sich schliesslich auch durch den wüsten, grossen Wald. Und hier fing ein Rosenstrauch das Gewand des jüngsten Bruders. Noch ehe er sich hatte losmachen können, senkte Schlaf sich auch auf dieses Jünglings Augenlider. Alles war ebenso wie bei seiner Mutter. Als er eingeschlummert war, flüsterte ihm der Rosenstrauch zu, wo er den Schicksalbrunnen finden würde. Er flüsterte ihm zu, er solle sich im Rinnsal waschen, mit der Klette solle er sich abtrocknen. Doch das war noch nicht alles. Er band ihm fest auf die Seele, dass er ja nicht vom Brunnen springen sollte, bis er nicht die Augen geschlossen, im Rinnsal sich noch einmal gewaschen und mit der Klette sich noch einmal getrocknet habe. Als er schliesslich erfuhr, dass der Brunnen ihm seiner Eltern Geschick künden werde, freute er sich so des goldigen Traumes, dass er sogleich erwachte und geradewegs dorthin rannte, wovon er geträumt hatte. Am Brunnen wusch er sich in grosser Hast, trocknete sich ab und schaute auch in den Brunnen.

Der Jüngling traute kaum seinen beiden Augen, denn er sah im Spiegel des Wassers, dass sein Vater ganz alt geworden und seine Mutter ganz erblindet war. Als er nun auch noch sah, dass sie mit dem Bettelsack im nahen Dorf herumgingen, schloss er die Augen, wusch sich, trocknete sich ab, dann rannte er nach seinen Brüdern. Die sechs Jünglinge waren geschwind beisammen, und die beiden alten Eltern fanden sich auch an.

In der grossen Freude strömten alle Hochzeitsgäste herbei. Da waren Könige, Herzöge, Herren, Junker, auserlesene Zigeunerburschen; doch wie viele verteufelt grosse Herren da auch waren, da war nicht einer, der nicht vor den beiden zerlumpten Alten die Mütze gezogen hätte. Schon wollten sie[260] sich auf den Weg machen, für die jungen Paare den priesterlichen Segen zu erbitten, als es der armen Frau auf die Lippen sprang, dass der Schicksalsbrunnen sie blind gemacht habe.

»Was sagt Ihr, liebe Frau Mutter? Der Schicksalsbrunnen? Ihr habt wohl nicht die Augen geschlossen, dann Euch gewaschen und abgetrocknet?«

Weiter sagte der jüngste Sohn nichts, sondern führte seine liebe Mutter stracks zum Schicksalsbrunnen. Dann wusch er sie schön in dem Rinnsal, trocknete sie schön mit der Klette. Als das geschehen war, hatte die arme Frau ihr Augenlicht wieder.

Da war grosse Freude. Auf der Hochzeit, von der man siebenmal sieben Länder weit hörte, tanzten auch noch die beiden Alten die Kalamajka. Nur ihr Pfarrer schäumte inwendig, weil sie ihn solange hatten warten lassen. Den Brunnen verschüttete er in seiner Wut, die Rosensträucher empfahl er Gottes Fürsorge. Seitdem wurde die wilde Rose duftlos, ihr Strauch der gottverfluchte Dornbusch.

Nun ist's aus. Ihr könnt's glauben, meine Lieben.

1

Scherzhafte Verschiebung von Elsterbrut auf einem Pappelbaum

2

Ständige Formel im ung. Volksmärchen bei der Verlobung: »ich bin dein, du bist mein; Hacke und Grabscheit nur soll uns scheiden,« oder »nicht Hacke, nicht Grabscheit soll uns scheiden.«

3

Im Ungarischen: von welchem Ast gebrochen.

Quelle:
Róna-Sklarek, Elisabet: Ungarische Volksmärchen. Neue Folge. Leipzig: Dieterich 1909, S. 257-261.
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