51. Die hebamme und der wassergeist.

Es war ein weib, das hebamme war. Einen tag, zwei tage sitzt sie wartend: kein mensch ruft sie die geburtshülfe zu leisten. Sie sagt bei sich: »Wenn auch der wassergeist mich riefe!« Sie sitzt abends wartend, – sie hörte eine stimme unter dem fenster (sagen): »Mütterchen, komm mal heraus!« Die hebamme geht hinaus. Der wassergeist sagt zu ihr: »Wohlan, lass uns zu mir gehen!« Sie geht ohne den mann zu kennen. Sie gehen, gehen und kommen zu einem flusse (eig. wasser). Die hebamme fragt den wassergeist: »Wohin führst du mich?« Der wassergeist sagt zu ihr: »Was hast du soeben gesagt? Du wolltest zu dem wassergeist gehen um die geburtshülfe zu leisten. Ich bin der wassergeist!« Die hebamme fürchtet sich schon sowohl vorwärts als zurück zu gehen. Der wassergeist sagt zu ihr: »Schliesse deine augen zu!« Die hebamme schliesst (die augen) zu, und ihr erschien eine stube. In dieser stube liegt auf dem bett die frau des wassergeistes. Neben ihr ist ein kleines kind. Der wassergeist heizte seine badestube und lud die hebamme und seine frau (in die badestube) hereinzukommen. Das kind nahmen sie mit sich. Der wassergeist giebt der hebamme seife und sagt: »Da hast du! Wasche damit sowohl das kind als meine frau! Wasche aber nicht dich selbst! Wenn du dich (damit) wäschest, wirst du blind«. Der wassergeist geht aus der badestube und verschwindet. Die hebamme sinnt nach: »Warum verbot er mir mich selbst zu waschen?« Sie nimmt die seife und wäscht ihr linkes auge. Darauf schaut sie und (sieht) mit ihrem linken auge, dass die badestube von wassergeistern voll ist: einige springen, einige spielen; die frau des wassergeistes sitzt lachend und pflegt ihr kind. Mit ihrem rechten auge aber sieht sie, dass die frau des wassergeistes liegt und bei ihr ihr kind. Sie war da drei tage und am vierten tage sieht sie, dass die frau des wassergeistes ihre (der hebamme) kleidung trägt.[163] Jetzt meint sie: »Ist jene kleidung wohl nicht mein?« Sie nimmt eine schere und schneidet ein eckstückchen aus. Sie steckt es zu sich. Darauf kommt der wassergeist selbst und sagt zu der hebamme: »Nu! Jetzt muss man dich wohl schon nach hause begleiten!« Er bringt ein silbernes geldstück, giebt es ihr und heisst sie ihr auge schliessen. Sie schloss ihr auge zu, darauf schaute sie und sah sich am ufer. Das geldstück, das man ihr gegeben hatte, wurde pferdemist. Sie kehrt nach hause zurück und geht in den speicher. Sie sieht ihre kleidung im koffer nach und bemerkt, dass ein eckstückchen (der kleidung) ausgeschnitten ist. Sie nimmt das eckstückchen hervor, welches sie der frau des wassergeistes genommen hatte, und passt es in ihre kleidung ein: es passt zusammen. Nach verlauf zweier monate kommt der Johannistag. Sie geht zum markt. Mit ihrem linken auge sieht sie alle wassergeister; wo immer etwas (d.h. waren) ohne segen aufgestellt ist, das nehmen sie und gehen damit weg. Sie wandert herum und sieht ihren enkel (d.h. den sohn des bekannten wassergeistes). Sie sieht ihn und fragt ihn: »Was trägst du, mein sohn?« »Dies und das trage ich, mütterchen! Siehst du mich vielleicht, mütterchen?« »Ja wohl!« »Mit welchem auge siehst du mich?« »Mit meinem linken auge sehe ich dich!« Der sohn des wassergeistes stösst seinen finger in ihr linkes auge ein und reisst es aus. Die hebamme erzählte es den leuten, sie erzählte es dem prediger, aber man traute ihr nicht.[164]

Quelle:
Wichmann, Yrjö: Wotjakische Sprachproben, 2.: Sprichwörter, Rätsel, Märchen, Sagen und Erzählungen, Helsingfors: 1893/1901, S. 161-165,168.
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