[98] Ueber dem ersten hier in der Ueberschrift befindlichen Namen waltet das in der Naturgeschichte leider nicht seltene Verhängnis, daß er, sofern er eine charakteristische Eigenthümlichkeit der Thiergruppe, welcher er gegeben, bezeichnen soll, gänzlich falsch ist. Man ging einst von der Voraussetzung aus, daß man es hier mit Weichthieren zu thun habe, und da man dort eine Klasse der Kopffüßer, eine andere der Bauchfüßer kennt, wurde nach einem analogen Namen gesucht, welcher die Eigenthümlichkeit der neuen Abtheilung jenen gegenüber ausdrücken sollte. Allein sie haben weder Arme noch Füße, weder Arme, die sich mit den um den Mund gestellten Fang- und Gehwerkzeugen der Cephalopoden, noch einen Fuß, welcher sich mit der Sohle der Schnecke oder mit dem Keilfuße der Muscheln vergleichen läßt. Die früheren Naturforscher haben ihnen eine Beziehung angedichtet, welche nicht existirt, und nach welcher man deshalb greifen zu können glaubte, weil eine andere, ebenfalls ungerechtfertigte Analogie dazu verleitete. Man bezeichnet nämlich mit dem obigen Namen der Armfüßer oder Brachiopoda eine in den früheren vorweltlichen Perioden viel zahlreicher als jetzt vertretene Thiergruppe, welche durch ein zweiklappiges Gehäuse sich auf das engste an die Muschelthiere anzuschließen scheint, so eng, daß man bis in die neuere Zeit hinein sie als eine bloße, den Rang einer Ordnung einnehmende Unterabtheilung jener Klasse anzusehen gewohnt war. In zwei spiralig eingerollten Organen, welche neben der Mundöffnung entspringen, glaubte man die zum Herbeiholen der Nahrung verwendbaren Werkzeuge erblicken zu müssen, indem man vielleicht unwillkürlich an die damals von Cuvier auch für Weichthiere gehaltenen Rankenfüßer (s. Seite 60) dachte. Das Mißverständnis konnte um so eher sich einnisten, als bis vor einigen zwanzig Jahren die Thiere fast nie lebend beobachtet wurden, und erst diese neueste Periode die Aufklärung brachte, jene vermeintlichen Fangarme seien gar nicht im Stande, diesen Dienst zu verrichten, sie seien in Wahrheit die Kiemen. Noch mehr. Um so unpassender ist der aus der vorgeblichen Verwandtschaft mit den Weichthieren gerechtfertigte Name, als die erst 1873 und 1874 veröffentlichten Untersuchungen des Amerikaners Morse und des Russen Kowalewsky die schon einmal von dem genialen Steenstrup ausgesprochene Ansicht, die Armfüßer seien extrem umgewandelte Würmer, bestätigt und durch die Anatomie und Entwickelungsgeschichte bekräftigt haben.
Es geht wohl aus diesen Zeilen hervor, daß von den Lebensäußerungen und Thaten dieser Wesen wenig zu berichten sein wird. Sie gehören zu den langweiligsten und verschlossensten Mitgliedern der großen Lebewelt.
Glücklicherweise sind andere Seiten an ihnen der Beachtung und Betrachtung höchst werth. Zuerst will Komposition und Stil ihres Körpers verstanden sein, und indem uns dies zum größten [98] Theile gelingen wird, finden wir in den Armfüßern das verkörperte Stabilitätsprincip. In ihrer ungemeinen Passivität haben sie seit den ältesten Perioden der thierischen Schöpfung, welche uns näher bekannt sind, die Wogen und den Druck des Meeres über sich hingehen lassen und ertragen, ohne sich wesentlich zu verändern. Die Blütezeit der Klasse ist längs vorüber; nicht nur in Arten, sondern noch viel mehr in Individuenzahl wucherten sie einst so, daß stellenweise aus ihren Anhäufungen dicke Felsenschichten entstanden, und daß dem Geognosten ihr Vorkommen ein unentbehrliches Hülfsmittel zur näheren Bestimmung der Reihenfolge in den älteren Gebirgsformationen ist. Wichtige Schlüsse lassen sich aus der Uebereinstimmung der heutigen Armfüßer mit ihren ältesten Vorfahren auf die Beschaffenheit der Urmeere ziehen. Ihr eigentliches Herkommen aber, ihre wahre Blutsverwandtschaft blieb bis in die neueste Zeit verborgen, und die bloße Thatsache ihrer vollendeten Existenz in den ältesten geschichteten Gesteinen drängte unabweisbar für sich allein schon zur Voraussetzung, daß unsere sogenannte Primordialfauna, das heißt die Thierwelt, welche wir bis jetzt als die älteste ansehen zu müssen glaubten, eine vielleicht ebenso lange und ebenso alte Reihe von Vorfahren gehabt hat, als von ihr bis zur heutigen Lebewelt nachgewiesen ist (vgl. S. 51).
Auch der Laie in der Zoologie wird geneigt sein, wenn er die folgenden Abbildungen der Thiere flüchtig betrachtet, sie für die allernächsten Verwandten der Muscheln zu halten. Bei näherer Kenntnisnahme zeigen sich aber doch die erheblichsten Verschiedenheiten im Gehäuse und Thiere, ohne daß vermittelnde Glieder die Herleitung der einen Klasse aus der anderen plausibel machten. Dagegen ist die von Morse durchgeführte Vergleichung mit den Ringelwürmern von bestem Erfolge gewesen, zumal auch die Entwickelungsgeschichte uns zum Verständnisse verhilft. An den Muschelwürmern ist nicht die Lebensweise der Individuen das Anziehende, sondern die Entstehungsgeschichte der ganzen Klasse, von der uns die Entwickelung des Einzelwesens eine wissenschaftlich begründete Vorstellung gibt. Doch hiervon weiter unten.