[220] Das Bild der Langsamkeit und der langweiligen Bedächtigkeit steht vor uns, ein Thier, mehr Bauch als Kopf, mühsam auf platter Sohle kriechend, auf dem Rücken das unsymmetrische spiralige Gehäuse schleppend, und darin einen Eingeweidesack. Wer zum Naturmysticismus neigt, kann auch mit Gustav Carus »etwas Mystisches in den eigenen langsamen Bewegungen der Schnecken« finden und Goethe citiren, der Mephistopheles auf dem Blocksberg sagen läßt:
Siehst du die Schnecke da? sie kommt herangekrochen,
Mit ihrem tastenden Gesicht
Hat sie mir schon was abgerochen;
Wenn ich auch will, verleugn' ich mich hier nicht!
Uns darf aber die Schnecke zunächst gar nichts weiter sein, als der nichts weniger als geheimnisvolle, allgemein bekannte Repräsentant einer nur von den Insekten an Mannigfaltigkeit und Zahl der Arten übertroffenen Thierklasse, welche innerhalb des großen Kreises der Weichthiere durch bestimmte Merkmale sich auszeichnet. Daß die Schnecke ein Gesicht hat, ist richtig. Das Gesicht setzt einen Kopf voraus, und wegen des Besitzes eines mehr oder minder deutlich ausgeprägten Kopftheiles hat man die Schnecken auch wohl Kopfträger (Cephalophora) genannt. Sie stimmen darin, wie wir schon wissen, mit den Cephalopoden überein, deren Arme wiederum einen eigenartigen Charakter abgeben. Daß aber das Vorhandensein des Kopfes für unsere Schnecken etwas besonders Wichtiges ist, geht aus der oberflächlichsten Vergleichung mit einem Muschelthiere hervor, an welchem man vergeblich nach Gesicht und Kopf suchen wird, und welche infolge davon auch eine weit niedrigere Stellung einnehmen und in ihren Lebensäußerungen bekunden. Auch der Schneckengang ist höchst charakteristisch. Er beruht auf der eigenthümlichen Sohle oder dem Fuße, einer länglichen Muskelscheibe, welche besonders auffallend bei den nackten Schnecken als Bauch erscheint, und welcher die Schnecken den nicht minder häufig gebrauchten Namen der Bauchfüßer (Gastropoda) verdanken. Obgleich die mit Hülfe dieses Organes ausgeführten Bewegungen im allgemeinen sehr langsam sind, so findet doch innerhalb dieser Langsamkeit eine Abstufung statt: je schmäler und länger der Fuß, desto geschwinder die Bewegung, und umgekehrt. Die den Fuß bildenden Muskeln verlaufen vorzugsweise der Länge nach. Man sieht, wenn man eine Schnecke an einem Glase kriechen läßt, »wie durch eine Reihe wellenförmiger Erhebungen und Senkungen, die sich auf der Sohle vom Schwanze gegen den Kopf hin fortpflanzen und nach Swammerdams Ausdrucke den Wogen des Meeres gleichen, der Bauchfüßer in gleichmäßiger Weise sich vorwärts bewegt, indem er, wenn eine Landschnecke, seinen Pfad [220] mit einem silberglänzenden Streifen von Schleim bezeichnet, den er ausschwitzt, um die rauhen Theile seines Weges sich weniger empfindlich zu machen. Wer hätte nicht schon die Landschnecke auf ihrer Wanderschaft beobachtet? Und die Wasserbewohner bewegen sich genau auf dieselbe Weise, ob sie nun auf dem Boden des Meeres dahinkriechen, oder die steilen Felsgehänge erklimmen oder in ihren Höhlen zwischen Seegras und Korallen herumirren«. (Johnston.) Endlich können wir an allen unseren Land- und Wasserschnecken wahrnehmen, wie auch der Mantel, jenes für alle Weichthiere so wichtige Organ, in dieser Klasse ein besonderes Gepräge angenommen hat. Sei es, daß er bei den gehäustragenden Schnecken vorn eine dicke Falte bildet, welche wie ein Kragen sich über den Kopf ziehen kann und hinten in eine Art von Bauchsack zur Aufnahme eines großen Theiles der Eingeweide übergeht, oder sei es, daß er bei den meisten Nacktschnecken von der allgemeinen Körperbedeckung sich nicht auffallend abhebt: nie ist er auf der Bauchseite geschlossen.
Wie nun aber der Kopf und die an ihm befindlichen Theile, die Augen z.B., in gewissen niedrigen Abtheilungen kaum als ein besonderer Körperabschnitt erkennbar sind, oder jene Theile fehlen, so sind auch die inneren Organe in ihrer Ausbildung den größten Schwankungen unterworfen, wie solche weder in der höheren Klasse der Kopffüßer, noch in derjenigen der tiefer stehenden Muscheln vorkommen. Den größten Bestand hat die Zunge und der Darmkanal, neben dem Schlundringe und den immer sehr ausgebildeten Fortpflanzungsorganen. Diese vielen Variationen des Baues berühren uns so weit, als an sie wesentliche, die äußere Form betreffende Umwandlungen geknüpft sind, und damit verändertes Vorkommen und Lebensweise in Verbindung stehen. Die meisten Zweige des Baumes der Schnecken sind dem Wasserleben zugewendet, und wiederum der größte Theil davon dem Meere angehörig. Sie bevölkern in ihm alle Zonen von der Flutmarke an bis in die Tiefe und die Höhe des offenen Meeres. Keine der Meerschnecken hat sich über die Kiemenathmung erhoben; die Luftathmer der Klasse sind Bewohner des süßen Wassers und des Landes, und es hat sich ganz besonders in diesem starken Aste die größte Akkommodationsfähigkeit gezeigt. In dieser Beziehung sind die Schnecken, wenn man will, höher gestiegen, als die Kopffüßer, welche von der ältesten uns bekannten Zeit ihres Auftretens bis jetzt verhältnismäßig geringe Fortschritte ihrer Organisation gemacht haben. Allerdings ist bei den Schnecken der wahre Fortschritt, d.h. eine der körperlichen, in der Luftathmung sich aussprechenden Vervollkommnung parallele geistige Entfaltung, auch nicht eingetreten: unsere Landschnecken sind auf ein Haar so beschränkt, als die dem salzigen Elemente getreu gebliebene Hauptschar.
Was die Schnecken nützen und schaden, wie sie sich und andere Thiere befehden, alle diese und ähnliche Dinge lassen sich besser im einzelnen nachweisen. Zum Verständnisse der Beschreibungen müssen wir uns aber näher mit dem Gehäuse bekannt machen. Es ist schon davon die Rede gewesen, daß das Gehäuse aller Weichthiere sich nicht mit dem lebendigen Knochen der Wirbelthiere vergleichen lasse, sondern eine bloße Aus- und Abscheidung und damit eine todte Masse sei. Alle Schalen sind jedoch nicht bloße unorganische Massen, sondern haben eine thierische Grundlage, wie man auf zweierlei Weise beobachten kann. Betrachtet man in der Entwickelung begriffene Eier gehäustragender Schnecken oder Muscheln unter dem Mikroskope, so sieht man die Schalen anfänglich als häutige, biegsame Ausbreitungen, welche sich mehr und mehr vom Mantel abheben. Die oberste Schicht wird zur Oberhaut, die bei sehr vielen Schalen alsbald wieder sich abreibt, jedoch bei einer Reihe von Schnecken und Muscheln, z.B. bei unseren Flußmuscheln, sehr deutlich wenigstens an den Rändern der Schalen ist. Die unter dieser Oberhaut liegende, aus Zellen bestehende Schicht erfüllt ihre blasenförmigen Theile nach und nach mit kohlensaurem Kalke, und es folgt aus dieser Entstehungsweise von selbst, daß, nachdem die Kalkanfüllung der Zellen vollendet, die feineren Theile der inneren Schalenschichten als prismatische oder rhomboidale Körperchen erscheinen. Die Oberhaut wird nur an den freien Mantelrändern [221] gebildet; nachdem aber auf der übrigen Mantelfläche eine solche verkalkte Zellenschicht sich abgestoßen, bildet sich eine neue, und auf diese Weise verdickt und ergänzt sich die Schale. Da die Farben der Konchylien nur in der äußersten Lage des Kalkes enthalten sind und von dem Mantelrande ausgesondert werden, so ergibt sich daraus, daß verletzte Schalen zwar von innen her ausgebessert und verstopft, aber nie wieder vollständig ausgeglichen und angefüllt werden können, und daß die ausgebesserten Stellen ungefärbt bleiben. Der Versuch ist leicht an einer Gartenschnecke zu machen, ohne daß man dem Thiere wehe thut.
Der andere Weg, sich von der thierischen Grundlage des Weichthiergehäuses zu überzeugen, ist einfacher. Man braucht nur ein Schalenstück in eine verdünnte Säure zu legen, so wird der Kalk aufgelöst und das organische Fachwerk bleibt zurück.
Man sieht dann, daß nicht der Kalk, sondern die thierische Grundmasse dem Gehäuse die Gestalt gibt. Sind die Zellen und Häutchen, zwischen denen der Kalk sich ablagert, besonders dünn, so bekommen die Schalen den perlenartigen, irisirenden Glanz. »Wenn solche Schalen verwittern«, sagt Gray, »so trennen sie sich in viele dünne blätterige Schuppen von perlgrauer Farbe und silberartigem Glanze. Die Chinesen wissen dies und benutzen diese Theilchen der zerfallenen Placunen, einer Muschel, als Silber in ihren Wasserfarbengemälden. Ich habe selbst dieses Silberpulver, welches Reeves mit nach England gebracht, mit gutem Erfolge zum Malen von Fischen angewendet. Es ist nicht ganz so glänzend, wie gepulvertes Blattsilber, bietet aber den Vortheil dar, an der Luft sich nicht zu verändern.«
Die Hauptmasse aller Weichthierschalen ist kohlensaurer Kalk; sein Antheil bewegt sich bei unseren einheimischen Schnecken und Muscheln von etwas unter zweiundneunzig bis über achtundneunzig Procent, während die organische Substanz von einhalb bis über fünf Procent, je nach Art und Bodenbeschaffenheit, beträgt.
Ich ersuche nun den Leser, ein Gehäuse einer unserer größeren Schnecken, etwa der Weinbergsschnecke, zur Hand zu nehmen, um sich an ihm sowie an dem abgebildeten Durchschnitte des Gehäuses vom gewellten Kinkhorn einige nothwendige Vorkenntnisse zu erwerben. Stellt man dieses Haus mit der Spitze zu sich gewendet vor sich hin, so liegt der scharfe, gebauchte Rand der Mündung zur Rechten; hält man dasselbe so vor sich, daß die Spitze in die Höhe, die Mündung gegen das Gesicht gewendet ist, so sieht man die Umgänge von rechts nach links hinablaufen. Man nennt ein solches Gehäuse rechtsgewunden. Was ein linksgewundenes ist, folgt von selbst. Die allermeisten spiraligen Schneckenhäuser sind rechts gewunden. Es kommen aber unter manchen in der Regel rechtsgewundenen Arten auch umgekehrt gewundene Exemplare vor, und gerade unter den Weinbergsschnecken findet man dergleichen nicht selten. Die Konchyliensammler fahnden natürlich auf solche Ausnahmen, und Johnston erzählt in seiner Einleitung in die Konchyliologie eine sehr gute, hierauf bezügliche Geschichte. Sein Freund Pratt kannte einen französischen Naturforscher, der sich bemühte, eine Brut verkehrt gewundener Schnecken zu erhalten, um sie an Raritätensammler mit Vortheil zu verkaufen. Er wußte sich ein lebendes Paar zu [222] verschaffen und erzeugte damit eine ansehnliche Familie, deren Mitglieder von Geburt an alle verkehrt gewunden waren, alle links, Revolutionisten vom Eie an.
An der uns zugekehrten Mündung unserer Helix pomatia unterscheiden wir nun den Mundsaum als den ganzen Umfang der Mündung, und an ihm die äußere Hälfte als Außenlippe oder auch rechte Lippe von der inneren Hälfte oder inneren Lippe. In unserem Falle gehen diese Lippen ununterbrochen in einander über und durch eine Umbiegung der inneren wird eine bei sehr vielen Gehäusen offene Vertiefung, der Nabel, bedeckt. Alle Windungen oder Umgänge, welche sich über der letzten erheben, bilden zusammen das Gewinde. Sie legen sich bei der Weinbergsschnecke so aneinander, daß, wenn man das Gehäuse in der Richtung von dem Scheitel nach der Mündung durchsägt, man eine wirkliche Axe oder Spindel sieht, welche zu einer eingebildeten oder mathematischen wird, falls die Umgänge sich gar nicht berühren, wie bei der Wendeltreppe. Die Weinbergsschnecke und die meisten ihrer zahlreichen Verwandten verschließt die Mündung ihres Gehäuses nur während des Winterschlafes mit einem Deckel. Um einen bleibenden Deckel zu sehen, müssen wir uns, wenn wir nicht am Meere wohnen, eine Sumpfschnecke (Paludina) verschaffen. Sie trägt auf dem Rücken des Fußes eine hornige Scheibe, viele andere Schnecken eine Kalkscheibe, an welcher man, wie an den Gehäusen, die Umgänge und jährlichen Ansätze bemerkt. Ueberhaupt aber ist, wie von Martens sich ausdrückt, da, wo Luft und Wasser sich wechselsweise verdrängen, der Deckel das einfachste Mittel, sich vollständig in die für Flüssigkeiten undurchdringliche Schale zurückzuziehen, diese wasserdicht zu schließen und so, mit Unterbrechung aller Thätigkeit, durch die miteingeschlossene Feuchtigkeit ihr Leben bis auf günstigere Zeiten zu fristen. Es besitzen ihn also unter anderen alle Strandschnecken.
Bei der großen Schönheit so vieler Schneckengehäuse und Muschelschalen, bei der Sauberkeit, welche mit ihrer Aufbewahrung verbunden sein kann, ist es begreiflich, daß der Sammeleifer der Naturliebhaber der vorigen Jahrhunderte sich vorzugsweise auf die Konchylien warf. Aber schon im vorigen Jahrhundert geiselte der gelehrte Gegner Linné's, der Pfarrer Klein in Königsberg, die Gedankenlosigkeit vieler dieser Dilettanten. »Die meisten«, sagt er, »freuen sich ohne Urtheil (sine philosophia) an der unglaublichen Mannigfaltigkeit der Konchylien, spielen damit und verlangen nach ihnen, wie die Knaben nach Nüssen und die Reichen nach Kleinodien. Die wenigsten denken über die Grundzüge der Naturgeschichte nach. Wer etwas sorgfältiger zu Werke geht, etikettirt seine Gehäuse, wie die Holländer, mit einem hübschen Namen: vor der Schwierigkeit einer Beschreibung schrecken sie zurück. Denn so viele Gestalten, so viele Farbenverschiedenheiten, so viele Theile des Gehäuses bestimmt in entsprechenden Worten auszudrücken, das übersteigt die Kräfte eines solchen gewöhnlichen Naturforschers (vulgaris Philosophi).« Viel schwieriger noch sei es, die eigentlichen Artunterschiede aufzufinden; ohne Gründlichkeit mache man neue Arten und wärme den so und so viele Male schon gekochten Kohl immer wieder von neuem auf. Der würdige Klein könnte noch heute seinen Zorn über die unberufenen Speciesmacher ausgießen.
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