|
[420] In den meisten Werken über Thierkunde, wissenschaftlichen und populären, welche seit 1819 bis in die neuere Zeit erschienen, werden neben den großen Kreisen der Wirbel-, Glieder- und Weichthiere die übrig bleibenden als die sogenannten Strahlthiere zusammengefaßt. Abgesehen davon, daß man, wie Cuvier, der Schöpfer dieses Kreises, genöthigt war, ganze Scharen von Thieren hier unterzubringen, welche nichts weniger als »strahlig« oder sternförmig gebaut sind, mußte man sich doch auch sagen, daß alle die Thiere, die man mit Recht mit jenem Namen bezeichnen konnte, bei denen also, wie in einem, wohl allen Lesern bekannten Seesterne, die Körpertheile nicht nach einem sich natürlich darbietenden Rechts und Links, sondern rings um einen Mittelpunkt oder eine Polaxe geordnet sind, nicht einen Gegensatz zu den einzelnen drei anderen Kreisen, sondern zu ihrer Gesammtheit bilden, insofern nämlich jene einem nach rechts und links symmetrischen Grundplane des Baues folgen. Die Cuvier'schen Strahlthiere sind also ebensowenig an sich als natürliche Abtheilung zusammengehörig, als man dies von einer die Wirbel-, Glieder- und Weichthiere in sich aufnehmenden Abtheilung sagen könnte. Die neuere wissenschaftliche Thierkunde hat daher mit Recht fast allgemein von jener Benennung abgesehen, oder sie nur aus Rücksicht der bequemeren äußerlichen systematischen Handhabung beibehalten. Dem bloß ordnenden und sichtenden Auge und Verstande will es allerdings nicht recht einleuchten, daß die auf etwa dreitausend fossile und lebende Arten sich belaufenden Stachelhäuter denselben Rang einnehmen sollen, wie die nach einigen hunderttausend zählenden Gliederthiere oder die wenigstens nach Zehntausenden zählenden Weichthiere. Allein wir müssen immer unserer höchst lückenhaften Kenntnisse der Vorwelt eingedenk bleiben, und außerdem finden wir, daß innerhalb der dreitausend Arten der Stachelhäuter solche Verschiedenheiten auftreten, welche die Gruppen nicht minder von einander entfernen, als innerhalb der Weichthiere etwa die Schnecken von den Muscheln, innerhalb der Gliederthiere die Spinnen von den Insekten abstehen.
Wenn wir die Unterabtheilungen der Stachelhäuter auf den folgenden Blättern gleich als Ordnungen aufführen, so geschieht es mit dem Vorbehalte, daß dieselben eigentlich den Rang von Klassen einzunehmen hätten. Es schien den älteren Zoologen sozusagen an hinreichendem Materiale zu fehlen, um das systematische Fächerwerk auszufüllen.
Die Binnenländer und süßen Gewässer geben gar keine Gelegenheit zur Bekanntschaft mit irgend welchen lebenden Stachelhäutern (Echinodermata). Um so reicher sind die Meeresgestade wenigstens an einzelnen frappanten Formen. An den sandigen Strecken der Nordsee braucht man nur die zurücktretende Ebbe zu verfolgen, um zahlreiche Exemplare der Seesterne aufzulesen, über [420] deren Namengebung die Küstenbewohner aller Zonen einig gewesen sind. Allerlei Höcker und Hervorragungen der Hautbedeckungen geben ihnen ein rauhes, stacheliges Aussehen. Die wahrsten Stachelhäuter sind aber die Seeigel, welche seltener und dann gewöhnlich mit Verlust ihres Lebens stranden, von denen aber einzelne Arten, wie der Stein-Seeigel (Echinus saxatilis) des Mittelmeeres zu tausenden neben einander auf nicht tiefem Meeresgrunde oft schon vom Ufer aus, bequemer bei ruhigem Wasser aus dem Boote zu erblicken sind. Beide, Seestern und Seeigel, haben in ihrer natürlichen Stellung den Mund nach abwärts gerichtet; um die Axe, welche man sich von der Mitte der Mundöffnung nach dem entgegengesetzten Pole gezogen denkt, sind ihre Körpertheile im Kreise oder strahlig, in der Regel fünfstrahlig angeordnet. Ihre Hautbedeckungen zeichnen sich durch höchst ergiebige Abscheidung von Kalkgebilden aus, die entweder lose neben einander liegen bleiben und daher die Haut selbst biegsam lassen, oder, wie beim Seeigel, in Form von geradlinigen Platten zu einem unverschiebbaren Gehäuse zusammentreten. In keinem Falle haben wir es jedoch bei den Echinodermen mit solchen Gehäusen zu thun, welche als Ausscheidungen sich mit den Muschelschalen und Schneckenhäusern vergleichen ließen, vielmehr sind es immer wahre Verkalkungen der Haut selbst.
Alle Stachelhäuter haben einen geschlossenen Darmkanal, ein wichtiges Merkmal, welches sie von den übrigen Strahlthieren, den heute sogenannten Coelenteraten, trennt. Hiermit verbindet sich ein weit mehr in die Augen fallendes Merkmal, die Saugfüßchen, deren regelmäßige Reihen Ambulacra genannt werden. An getrockneten Exemplaren irgend welcher in den Sammlungen aufbewahrter Stachelhäuter kann man sich über diese eigenthümlichen Organe nicht unterrichten; auch Spirituspräparate geben nur eine sehr unvollständige Vorstellung. Aber ein lebendiger Seestern, den wir zur Beobachtung in einer mit Wasser gefüllten Schüssel vor uns haben, läßt alsbald das fesselnde Schauspiel der Thätigkeit seiner Saugfüßchen sehen. Aus den Rinnen, welche an der Unterseite der Strahlen verlaufen, werden hunderte von häutigen Hohlcylindern vorgestreckt, am Ende mit einer Saugscheibe versehen. Diese Scheibchen haften an dem nächsten besten Gegenstande, und wenn eine hinreichende Anzahl vorgestreckt und geankert ist, wird der Körper durch Zusammenziehung der ausgedehnten Saugfüßchen langsam nachgezogen. Um die äußerste Regsamkeit der Ambulacra eines Seesternes zu sehen, muß man ihn ganz frisch aus dem Wasser nehmen und auf den Rücken legen; dann gerathen sämmtliche Füßchen in Thätigkeit, strecken, recken und biegen sich wie Würmer, und tasten, ob sie nicht auf Haltepunkte stoßen, wo sie sich anlegen und von wo aus sie den bedrängten Riesenkörper wieder in die naturgemäße Lage wenden könnten. Das Aufrichten und Ausstrecken der Füßchen geschieht dadurch, daß von innen Wasser in sie gepreßt wird. Jedem äußeren Cylinderchen entspricht ein inneres Bläschen, welches mit einem besonderen Zweige eines Wassergefäßsystemes in Verbindung steht. Dieses Kanalsystem empfängt seinerseits das frische Wasser durch bestimmte Oeffnungen oder labyrinthisch und siebförmig durchbrochene Platten (Madreporenplatten) und dient zugleich, uns an ähnliche Vorrichtungen der Strudelwürmer und anderer erinnernd, als Athmungsorgan. Die Wand der Saugfüßchen ist reich mit Muskelfasern versehen, deren Zusammenziehung die Verkürzung und den Rücktritt des Wassers in das innere Bläschen bewirkt. Der Körperbau und die Lebensökonomie der Echinodermen bleibt aber unverständlich, so lange man nicht weiß, daß die große, die Eingeweide enthaltende Leibeshöhle mit fortwährend sich erneuerndem Seewasser, reinem Salzwasser erfüllt ist. Dasselbe tritt entweder durch mikroskopische Poren ein, oder wird durch dünnere, oft die Form von Saugbläschen annehmende Hautstellen aufgenommen. Ein Seeigel, den man an einer beliebigen Stelle ansticht, läuft aus, wie ein geöffnetes Gefäß, und man ist erstaunt, wenn man ihn zerbricht, einen fast leeren Raum zu finden, so wenig Platz nehmen die vom Wasser umspülten Eingeweide ein.
Alle Stachelhäuter sind getrennten Geschlechtes, ihre Entwickelung ist meist mit den auffallendsten Verwandlungen verbunden.
Buchempfehlung
In der Nachfolge Jean Pauls schreibt Wilhelm Raabe 1862 seinen bildungskritisch moralisierenden Roman »Der Hungerpastor«. »Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag.«
340 Seiten, 14.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro