[77] Für jetzt ist nun eine andere Aufgabe noch vorliegend, nämlich: mir deutlich zurückzurufen und darzustellen, wie und unter welchen innern Bewegungen mein Eintritt in das eigentliche Wirken des Arztes sich damals begab. Ich habe nämlich früher erzählt, daß die besondere sensible Natur in mir, welche vielleicht namentlich von meiner Mutter auf mich übergegangen sein mochte, mir eine gewisse physisch begründete Scheu gegen die Atmosphäre jedes Krankenzimmers gegeben hatte, eine Scheu, die mehr noch in einem besondern schmerzlichen Mitgefühl und dem unwillkürlichen Widerwillen eines innerlich Gesunden gegen Krankheit an sich begründet war als in irgendeiner Furcht. Schon das wissenschaftliche Studium der verschiedenen Formen des Krankseins und ebenso die vielfältige praktische Beschäftigung mit Anatomie hatten nun freilich diese Apprehension sehr gemindert, dessen ungeachtet war es aber immer auch in dieser Beziehung ein Ereignis für mich, als ich mit dem Jahre 1809 zuerst unter Reinhold und dann unter Clarus in die Krankensäle des Jakobshospitals eintrat und nun selbst anfing, an der Behandlung der Kranken Anteil zu nehmen.
Ich darf sagen, daß ich schon dazumal, wie sodann immerfort[77] in meinem Leben, den Beruf des Arztes nur in einem würdigen und großen Sinne gefaßt hatte; die Annäherung der Heilkunst an das Priestertum, welche schon die alten Geschichten griechisch-ärztlichen Tempeldienstes mir deutlich werden ließen, trat mir noch weit näher, indem sich mir jetzt ein lebendiger Blick in die unzähligen Formen menschlicher Leiden und menschlichen Elends eröffnete; und wie nun einesteils schon durch die Größe des Gefühls, zur Minderung dieser Leiden berufen zu sein, die letzte Spur jener ursprünglichen Scheu meines Wesens gegen Krankenatmosphären wirklich aufgehoben wurde, so trat andernteils auch jetzt eine Stimmung hervor, welche von einer neuen Seite mich gegen diesen Beruf immer entschiedener hinzog. Indem ich mir nämlich einer großen innern Reizbarkeit und Empfänglichkeit gar wohl bewußt war und mir auch eben dadurch nicht entgehen konnte, daß ich selbst der Mitteilung schädlicher Lufteinwirkungen in einem Spitale, welches gerade zu jener Zeit eine Menge typhöser Fieber umfaßte, immerfort weit offener als viele andere sein würde, so konnte es nicht fehlen, daß es mir alsbald groß und würdig erscheinen mußte, mich für ein so hohes Ziel gleichsam selbst als Opfer meines Berufs darzubieten. Ich entsinne mich daher noch ganz gut der eigenen Empfindung, welche ich hatte, als ich das erstemal, mit meinen Mitschülern dem Lehrer folgend, die Treppe hinanstieg zu den Krankenzimmern, welche die Typhuskranken enthielten; es war ganz das Gefühl eines jungen Kriegers, der für einen hohen Zweck mutig zur Schlacht geht. Und doch ahnte ich damals noch nicht, daß vier Jahre später mich wirklich die Atmosphäre der Kriegslazarette ganz an den Rand des Grabes bringen sollte! Bei dem allen focht damals der regelmäßige Besuch der Klinik meine Gesundheit durchaus nicht an, ich wurde allmählich vertrauter mit dem Umgang mit Kranken,[78] und es war vielleicht für meine eigene Entwicklung in dieser Sphäre noch besonders günstig, da ich etwas über ein Jahr später, noch außer den Krankenbesuchen des Spitals, Gelegenheit erhielt, in die Behandlung von Kranken innerhalb ihrer Familien durch eine übernommene Famulatur eingeführt zu werden.
So wichtig es nämlich auch dem jungen Arzt ist, bald durch Benutzung großer Spitäler möglichst mannigfaltige Formen von Krankheiten kennenzulernen, so wenig wird ihm doch eine bloße Spitalpraxis das eigentlich so schöne und echt menschliche Verhältnis des Arztes seinen Kranken gegenüber aufzuschließen imstande sein. Allzu leicht wird ihm, wenn außer der ärztlichen Untersuchung und Anordnung gar keine Beziehung zu den Kranken eintreten kann, dieser selbst nach und nach bloß zu einem Objekt seiner Kunst, zu einem Phantom, an welchem man im Diagnostizieren sich üben, und zu einem Plastron, gegen welches man die verschiedenen Arzneiwirkungen mehr oder weniger rücksichtslos versuchen darf. Wie nachteilig dies in manchen Staaten, wo junge Ärzte drei und vier Jahre hindurch bloß im Behandeln der Kranken in Krankenhäusern festgehalten werden, schon auf die öffentliche Übung der Medizin gewirkt hat, darüber habe ich mich bereits an andern Orten ausgesprochen und den Gegenstand ernstester Berücksichtigung empfohlen.
Was mich betraf, so sollten also auch in dieser Beziehung zeitig schon günstigere Verhältnisse mir eröffnet werden. Dr. Joerg, damals ein junger strebender Mann, der vergleichenden Anatomie besonders zugetan und sie für sein eigentliches Fach, die Geburtshilfe, besonders in Beziehung auf die Lehre von der Fruchtentwicklung vielfältig heranziehend, machte mir, dem ich aus seinen Vorlesungen und durch meine zootomischen Studien bekannt geworden war, zu Anfang des Jahres 1810 den Vorschlag,[79] ihn in der Behandlung seiner Kranken zu unterstützen. Ich nahm es an, und meine Arbeiten und meine Tätigkeit erhielt in diesem neuen Felde dann abermals einen bedeutenden Zuwachs. Freilich kam es nun vor, daß eigene eifrig fortgesetzte Arbeiten und gehäufte äußere Beschäftigungen meine Zeit jetzt dergestalt in Anspruch nahmen, daß ich manche Nacht darangeben mußte; und da mir außerdem nicht verborgen blieb, daß die Vermögensumstände meiner Eltern mehr ab- als zunahmen und da sofort manche Sorgen auch von dieser Seite mich umdrängten, so erinnere ich mich denn wohl, daß damals mein körperliches Befinden wahrhaft zurückging und daß ich nach und nach in ein bleiches angegriffenes Aussehen verfiel, von dem ich erst später mich wieder erholen konnte.
Besonders wurde mir nun aber auch klar, daß, wenn bei meinem ersten Eintreten in die von Kontagien erfüllten Krankensäle eine eigene Art von Todesverachtung von mir gefordert worden war, dagegen jetzt der Eintritt als Arzt in die Familien das Opfer der Zurücksetzung der eigenen Lebensgewohnheiten in vieler Beziehung gebieterisch verlangte. Tritt doch hier das sonderbare Verhältnis ein, daß der Arzt, sowie er sich einmal als solcher dem Publikum gegenüber darstellt, gewissermaßen auf seine eigene menschliche Freiheit Verzicht leisten muß; und wer da weiß, was das Wort »Freiheit« inbegreift, wird dieses Opfer ohne Zweifel nicht niedriger anschlagen als die Gefahr des Todes.
Von dem Augenblick an nämlich, daß wir uns den Familien gegenüber als Arzt darstellen, geben wir gewissermaßen einem jeden Kranken das Recht, über unsere Zeit zu gebieten. Es gibt keine uns noch so werte und wichtige Beschäftigung oder Arbeit, von welcher uns nicht, sei es Tag oder Nacht, der Leidende abzurufen das Recht hat; wir hören bis auf einen gewissen Grad auf, uns unsere[80] Lebensordnung selbst vorzuschreiben, wir können in allem unterbrochen, überall gestört werden, und wir sind in diesem Sinne wirklich, wie mir schon früher einmal ein alter Arzt sagte, »unsers Lebens nicht mehr sicher«.
Auf mich verfehlten denn allerdings diese Wahrnehmungen, die mir erst nach und nach hervortraten, keineswegs, eine eigene und anfangs oft bedrückende Wirkung zu machen; die schwermütige Stimmung, die mir aus andern Gründen, wie ich schon anführte, oftmals kam, wurde durch dergleichen natürlich eher gesteigert als gemindert, und ich erinnere mich noch immer, wie schwer sie mir einst in einer Nacht hervortrat, als ich für Joerg bei einem gefährlich Kranken zu wachen berufen war. Das Bett des Leidenden nämlich war, wie man es oft einzurichten pflegt, mit einer spanischen Wand umstellt und gegen Zug so gesichert. Ich selbst befand mich auf meinem Sessel mit einem Buche bei spärlicher Erleuchtung vor diesem Schirme, um jede Regung des Kranken sogleich hören zu können. Mitternacht war vorüber, und die Augen brannten mir vom Lesen, denn eben hatte der Kranke etwas geruht. Ich legte das Buch weg und musterte etwas das Zimmer; da fielen meine Augen auf die altfränkischen Malereien des Bettschirms: allerhand Sinnbilder, jedes mit seinem Motto, waren in großen Ovalen daran angebracht; endlich haftete ich auf dem einen – es stellte einen Mann dar, der unter einer schweren Last nur mühsam daherschritt; darum war geschrieben: »Aliis inserviendo consumor« (»Anderen dienend, werde ich aufgerieben«), und sogleich trat mir die ganze Schwere des Berufs, dem ich mich gewidmet hatte, ihrem vollen Gewichte nach entgegen, prophetisch genug; denn unter vielem Guten und Schönen, das ich dankbar empfangend zu verehren niemals ermangelt habe, ist mir denn doch auch diese Schattenseite oft genug empfindlichst fühlbar geworden.[81]
Es konnte nun freilich nicht fehlen, daß Betrachtungen dieser Art bei vielen Gelegenheiten sich wiederholen mußten und daß ich zuweilen wohl nachzudenken anfing, ob es mir gerade bei diesem lebhaften und schweren Empfinden einer solchen Freiheitsbeschränkung wirklich ganz angemessen bleiben werde, mich unbedingt dem ärztlichen Berufe dahinzugeben. Hinzu trat das immer steigende Interesse für meine vergleichenden anatomischen Forschungen und die Überzeugung, daß ich, wenn die nach außen mich führenden Geschäfte mehr und mehr sich häufen würden, auf keinen Fall imstande bleiben könnte, der tief in mir begründeten Neigung für reine theoretische Wissenschaft in dem Maße nachzugeben, wie ich es doch für eigene innere Ausbildung dringend zu wünschen alle Ursache hatte. Die Laufbahn des akademischen Lehrers war unter diesen Umständen die, welche mich mehr und mehr anziehen mußte. Hier war es, wo eine freie und wenn auch anfänglich nur spärlich gesicherte Existenz den Strebenden und Tüchtigen erwartete.
Im Jahre 1811 war es daher, daß ich um die Würde mich bewarb, durch welche die erste Möglichkeit gegeben werden konnte, mich im Beruf eines akademischen Lehrers zu versuchen. Es bestand damals auf der Universität, wie auch noch jetzt, der aus vergangenen Jahrhunderten herübergebrachte Gebrauch, den an sich so bedeutungsvollen Titel eines Doktors der Philosophie als den ersten leichtest erreichbaren dem jungen Gelehrten hinzugeben. Gleichzeitig erhielt er dann auch die Bezeichnung eines Magister liberalium artium, und man fand so manchen altgewordenen Studiosus an der Alma mater, dem zeitlebens nur dieser etwas verbrauchte und veraltete Lorbeer ums Haupt gelegt blieb. Nach einigen eingereichten Arbeiten und mündlicher Prüfung wurde denn auch mir durch ein Diplom unter Datum des Sonntags Lätare[82] (24. März) 1811 diese Würde verliehen; allein um das in neuerer Zeit noch weit mehr beschränkte Recht zu erlangen, Vorlesungen öffentlich anzukündigen und zu halten, genügte nun dieser Titel nicht: ich mußte, wie man es nannte, mich habilitieren, das heißt eine Dissertation schreiben und öffentlich verteidigen.
Doch ehe ich nun diesen ebengenannten Bestrebungen weiter nachgehe, muß ich jetzt noch eines Ereignisses gedenken, welches ebenfalls folgenreicher für mein späteres Leben geworden ist, als damals ich es irgend zu ermessen imstande war. Bis zu jener Zeit hatte es nämlich der Stadt und der Universität Leipzig an einer Anstalt gefehlt, welche teils armen Gebärenden einen anständigen Zufluchtsort darbot, teils den Medizin Studierenden Gelegenheit verschaffen konnte, in einem der wichtigsten Zweige der Heilkunst, in dem, der den Eintritt des Menschen in dies Dasein zu bewachen und bisweilen zu befördern bestimmt ist, die nötige Kenntnis und Übung sich zu verschaffen. Jetzt war es endlich durch Vermächtnisse Wohlwollender und Wohlhabender möglich geworden, unter dem Namen der Trierschen Stiftung ein Entbindungsinstitut zu gründen, als dessen Direktor Joerg sofort angestellt wurde. Zugleich war denn auch ein Assistent des Professors einer solchen Anstalt unerläßlich. Er hatte die Akten der Anstalt zu führen und in Abwesenheit des Professors Hilfe zu leisten, wo es nötig war. Mir, der ich Joerg, wie erwähnt, schon in seiner Privatpraxis beigestanden hatte, fiel denn nun auch diese Stelle zu, die, obwohl mit nur sehr spärlichen Emolumenten versehen, mir dadurch doch zu großem Nutzen gereicht hat, daß sie in einem Zweige der Heilkunde mich bald sehr einheimisch werden ließ, welcher späterhin eine Reihe von Jahren hindurch fast ausschließend mich praktisch beschäftigen sollte. Mochte mich doch das an sich weichere und mildere[83] Wesen meiner Natur wohl besonders geeignet erscheinen lassen, das zartere Geschlecht in allen seinen Eigentümlichkeiten tiefer zu verstehen, seine Leiden angemessener zu begreifen und ihm insbesondere die geeignete ärztliche Hilfe deshalb sicherer zu bringen, weil gerade ein feiner Organismus, wie der weibliche, im gesunden und kranken Zustande, immer weit mehr von seiner psychischen Individualität abhängig sein wird und weil diese Individualität eben darum einesteils so viel leichter verletzt und zurückgestoßen werden muß, wenn sie sich nicht verstanden und nicht begriffen empfindet, andernteils aber auch der wohltätigen Einwirkung weit entschiedener zugänglich sein wird, wenn diese Einwirkung von dem Verstehenden und irgendwie Verwandten ausgeht.
Gewiß, es gibt immer zu eigenen Betrachtungen Anlaß, wenn man so recht aufmerksam verfolgt, wie aus den verschiedensten Elementen, und immer in unerwarteten Wendungen, ein menschliches Leben so allmählich sich heraufbaut! Es kann bei solchen Betrachtungen uns dann nicht entgehen, den feinen organischen Fortschritt zu bewundern, nach welchem, scheinbar ganz unabsichtlich und, wie wir dann zu sagen pflegen, gleichsam zufällig, so Moment an Moment, Begegnung an Begegnung sich reiht, und dies alles, solange es nur überhaupt ein gesunder und in sich wahrer Lebensgang ist, zu einem höhern Zwecke führt und einer höhern Absichtlichkeit dient. Ist denn doch auch nichts mehr geeignet, über einen weiter bevorstehenden Lebensweg höhere Beruhigung und festeres Vertrauen zu geben als die gewonnene Überzeugung von jener tiefen Absichtlichkeit vorhergegangenen Fortschreitens bei aller scheinbar vollkommenen Zufälligkeit! Wir gewinnen gleichsam durch solche Betrachtungen die Versicherung, daß solange wir nur selbst diesen freilich mitunter überraschenden und seltsamen Führungen mit[84] Ruhe und Hingebung nachgehen, solange wir von jedem gewaltsamen Eingriff in diese auch wieder eigentümlich organischen Vorgänge uns fernhalten, so werden alle diese Entwicklungsbewegungen nicht verfehlen, zuletzt einem höhern Ziel uns entgegenreifen zu machen.
So war es denn also mitten unter sehr verschiedenartigen Aufgaben und Arbeiten, daß ich daranging, die Bedingungen zu erfüllen, unter welchen mir es gestattet sein sollte, Vorlesungen an der Universität zu halten. Zuerst hatte ich mir ein Thema zu einer lateinischen Abhandlung zu wählen, welche ich drucken lassen und öffentlich verteidigen sollte. Verschiedenes wurde durchdacht und geprüft. Die großen allgemeinen Betrachtungen, zu denen die Naturphilosophie die meisten jungen und strebenden Geister damals hindrängte, sie waren es, die auch mich vielfach beschäftigten, und aus ihnen griff ich alsbald das heraus, was mir selbst insbesondere neu und bedeutend erschienen war, nämlich den Gedanken eines einzigen, allverbreiteten, nur in unendlich verschiedenen Formen sich offenbarenden Lebens. Daß die Bewegung der Weltkörper, der Umschwung der Planeten und Kometen und Monde in eben dem Maße eine Verkündigung eigentümlichen Lebens sei wie die Verwandlungen der Pflanzen und das Umkreisen der Blutkörperchen in den Säften der Tiere: in dieser Erkenntnis hatte ich eine besondere Befreiung meines Geistes aus dunkeln beengenden Vorstellungen eines toten Mechanismus längst empfunden, und den Triumph dieser Erkenntnis öffentlich auszusprechen und zur Anerkennung zu bringen, drängte es mich denn vor allen Dingen.
Bei diesem Stoff also blieb ich stehen, unbeachtet dessen, daß in mir selbst noch lange nicht Reife genug vorhanden war, um einer so großen, aber noch vielfach angefochtenen Wahrheit allgemeinere Geltung verschaffen zu können,[85] ja auch nicht beachtend, daß mir, gleich der Fülle des Materials, selbst der Reichtum der Sprache für solchen Gegenstand keineswegs hinlänglich zu Gebote stand, ging ich unmittelbar auf die Sache zu und schrieb unter dem Titel »Specimen Biologiae generalis« (»Entwurf allgemeiner Lebenslehre«) eine kleine Abhandlung, der es freilich an vielen Unvollkommenheiten und Irrtümern nicht fehlte, welche aber doch, ihrer innersten Gesinnung nach, noch heute vor meinem Wahrheitsgewissen durchaus gerechtfertigt ist.
Die öffentliche Verteidigung derselben hatte statt am 15. Oktober 1811. Manchen gerechten Tadel, aber auch allerhand kuriose Einwürfe hatte ich zu bestehen; wie ich mich denn noch erinnere, daß ein alter steifer Professor namens Birkholz, von dem der Wissenschaft nie etwas zugute gekommen war und der auch längst keine Vorlesungen mehr hielt, mich damit aus der Vorstellung allgemeinen Lebens herauszuschlagen versuchte, daß er mir, auf die von der Zeit gebräunten Bänke des Saales zeigend, zurief: »Numne hoc scamnum vivit?« (»Lebt etwa auch diese Bank?«), worauf ich denn freilich leicht erwidern konnte, daß dies jetzt dürre Holz nur die Leiche eines einst lebenden Baumes sei und daß die Substanz desselben nach allmählichem Zerfallen schon die Bedeutung habe, dereinst wieder anderm Leben zu dienen.
Übrigens war die ganze Lokalität, in welcher damals dergleichen öffentliche Aktus gehalten wurden, merkwürdig genug. Dieser alte, fast kellerhafte Saal – man nannte ihn das »Philosophicum« – lag in einem an den ehemaligen Wall stoßenden Hintergebäude des sogenannten »Schwarzen Bretts«, eines der Universität seit Jahrhunderten gehörigen Hauses in der Ritterstraße, unter dessen Tore sämtliche Patente und Plakate der Universitätsgerichte wie des Studentenverkehrs an eine schwarze Tafel[86] angeheftet zu werden pflegten. Jener urväterliche, mit ausgetretenen Backsteinen gepflasterte Saal trug denn auch die Farbe und das Gepräge vorübergegangener Jahrhunderte vollständig; er enthielt ein höheres und ein davor angebrachtes niederes Katheder, über welchen ein altes vergittertes Oberlicht vom Walle her notdürftigen Tag hereinließ; alte hölzerne Pfeiler trugen die mit Holzwerk und verrauchten Malereien verzierte Decke, an den Wänden herum liefen die erhöhten Bänke für die Professoren und Doktoren; über diesen hingen einige kaum recht mehr kenntliche lebensgroße Bilder ehemaliger Kurfürsten von Sachsen, und der untere mittlere Raum enthielt endlich die hölzernen verschlagenen Bänke für die zuhörenden Studenten. Überhaupt konnte damals die Universität in ihren Gebäuden des Altertümlichen noch viel aufzeigen, wie denn namentlich das alte Paulinum mit der ganz klösterlich eingerichteten, hinter hölzernen Verschlagen in spitzbogigen Gewölben aufgestellten und mit alten Bildern der Reformatoren gezierten Bibliothek ein Lokal war, welches mit seinen gotischen Fenstern und deren kleinen runden Scheiben Goethe manchmal vorgeschwebt haben mag, als die ersten Szenen des »Faust« in seinem Geiste zu reifen begannen.
Auch war damals das Geschichtliche all dieser Einrichtungen uns erst kürzlich recht vergegenwärtigt worden, indem nur zwei Jahre früher, 1809, das vierhundertjährige Jubiläum des Auszugs der Studenten und Lehrer aus Prag und die Begründung ihres neuen Wohnsitzes in Leipzig mit großem Kirchgange und abendlichen Fackelzügen von allem, was zur Universität gehörte, feierlichst begangen worden war, wobei ich denn selbst diesmal als Adjutant des Zugs mit Schläger, Schärpe und Dreimaster eine kurze Rolle übernommen hatte, während sonst alles studentische Wesen mir stets ferngeblieben war.[87]
Doch ich kehre zurück zu meiner Disputation, welche nach etwa einer Stunde damit sich endigte, daß mir die Erlaubnis, Vorlesungen halten zu dürfen, verliehen und ich als Privatdozent und (wie man es in einem gewissen Mönchslatein nannte) als Magister legens in die Verzeichnisse der Lehrer an der Universität aufgenommen wurde.
Von diesem erlangten Rechte machte ich nun auch sofort beim Anfang des nächsten Kursus der Vorlesungen Gebrauch, indem ich auf gut Glück hin »Vorlesungen über einen Teil der vergleichenden Anatomie« ankündigte, eine Wissenschaft, die damals auch eben erst anfing, eine allgemeine Geltung zu erhalten, in Deutschland zuerst durch Blumenbach, an der Leipziger Universität aber noch niemals vorgetragen worden war. Diese Vorlesungen wiederholten sich in den nächstfolgenden Jahren und dehnten sich mehr aus, kurz, noch gegenwärtig gereicht es mir zur Freude, in dieser Weise damals und schon in meinem zweiundzwanzigsten Jahre der erste geworden zu sein, der auf einer sächsischen Universität eine Wissenschaft vorgetragen hat, deren ganzer Umfang und tiefe Bedeutung um so mehr erkannt werden muß, je mehr ihr großer Einfluß auf alles, was Physiologie und Lehre vom Leben heißt, eingesehen und begriffen werden kann.
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