I.

[407] Die reiche Symphonie dieser Reise endigte sonach mit einer Dissonanz, die mich mannigfaltig beunruhigte. Meine Frau und unser jüngstes Kind Karoline waren von ernster Krankheit heimgesucht gewesen, die erstere fand ich noch sehr angegriffen und bettlägerig, bei dem Kinde erkannte ich eine böse Hüftgelenkskrankheit, welche fürs Leben die Schwäche und Verkürzung eines Fußes zurückließ und somit also immer wieder neue Sorgen und gespannte Zustände! Bei alledem arbeitete es damals mächtig in mir, das neu erbeutete reichliche Material von Erfahrungen und Ansichten der Reise mehr und mehr zu bewältigen und zu neuen Zwecken zu gestalten. Sowie ich daher nur etwas mich wieder gesammelt hatte und etwas besser wieder die Zustände im Hause geworden waren, schrieb ich davon:

»Das unruhige Wogen, durch so mannigfaltige Ereignisse im Äußern und Innern herbeigeführt, fängt nun allgemach an sich zu legen, ruhige Beschaulichkeit gewinnt Raum und besonnene Mitteilung wird wieder möglich. Wie doch das alles so sonderbar in uns und in der Welt sich umtreibt! Es scheint, als müsse der Mensch öfters etwa wie Korn gemahlen und wie Mehl gebeutelt werden, freilich um zuletzt doch auch, gleichwie jenes Mehl von uns, so wir von der Zeit verschlungen zu werden; wozu er aber dann weiter verarbeitet und assimiliert wird, das ist nun immer noch die Frage! Indes soll uns das, solange[407] wir selbst seelengesund bleiben, nicht besonders kümmern!


Schwerer Dienste tägliche Bewahrung,

Sonst bedarf es keiner Offenbarung!


O wenn doch das Zünglein der Waage nur immer so recht mitteninne stehen wollte, dann möchte das Äußere schon nach Belieben schalten; aber die Aufgabe ist so gewaltig schwer! Wir gelangen zu dieser innern Ruhe und vollen Genüge erst dann, wenn wir unser Inneres für ein Höheres opfern lernen, für ein Höheres, welches seinerseits nun auch die Beweise dieser Opferung in der Art unsers Gebarens mit der Außenwelt würdig verkündigen soll. Ich kenne wohl Momente, wo eine solche innere Ruhe und Seelenheiterkeit mir klar wird, ja, wo sie mich tief durchdringt, es sind das die, von denen es heißt, ›daß man dem Weltgeist näher ist als sonst‹, aber dergleichen fliegt doch immer nur wie ein Sonnenblick bei bewölktem Himmel über das innere Land!«

Was übrigens diesmal noch besonders an all diesen innern Bewegungen teilhatte, war eine abermalige Berufung auf eine auswärtige Universität. Man hatte mir jetzt eben den Antrag gemacht, als Professor der Physiologie nach Breslau zu gehen. Die Bedingungen waren zwar etwas höher als mein Gehalt in Dresden, aber immer noch nicht so, daß sie mir erlaubt hätten, die ärztliche Wirksamkeit ganz aufzugeben und einzig und allein der Wissenschaft zu leben, und einen solchen Preis verlangte ich, wenn ich Dresdens Vorzügen entsagen sollte. Da man daher zu so bedeutenden Opfern sich nicht verstehen wollte, so zerschlugen sich die Unterhandlungen, und ich habe auch diese Entsagung niemals bereut.

Am deutlichsten erkannte ich bald und dankbar die wohltätigen Folgen der Reise für die eigene Gesundheit; das[408] Arbeiten wurde mir leichter, das Gefühl war frischer, und seltener kamen die trüben, belästigenden Stimmungen. Fühlte ich doch schon damals eine besondere Verwandtschaft zur Sonne. Von ihrem heißern Feuer einmal so recht durchstrahlt worden zu sein, hatte mir offenbar gut getan. Manche Naturen verhalten sich ja darin wirklich dem Traubensafte ähnlich, welcher auch, je mehr die Beere den solarischen Einfluß empfängt, um so besser und geistiger zu werden geneigt ist, während andere darin vielleicht dem Wildbret oder gegorenen Getränken verglichen werden möchten, die man nicht wohl länger der Sonne aussetzen darf, ohne daß sie verderben und umschlagen. Ich habe denn auch, je älter ich wurde, diese Art von Sonnenanbetung mehr und mehr betrieben und kannte daher kaum etwas mir mehr Zusagendes und Wohltätiges, als periodisch in warmer Juni-, Juli- oder Augustsonne einer wahren römischen Apricatio mich hinzugeben.

Zunächst also half mir jene Nachwirkung den Winter 1821/22 glücklich und besser als andere überstehen; meine Arbeiten für jenes große Werk zur Theorie der Skelettbildung, von welchem ich Goethe erzählt hatte, gingen rüstig vorwärts, ich erquickte mich zuweilen an guter Musik, so daß die großen Symphonien von Mozart und Beethoven mir in ihrer Bedeutung für die Weltgeschichte des Geistes näher und näher traten, kurz, das Schifflein des Lebens hielt auf der Woge der Zeit einen guten Kurs! Allein neue Unruhe sollte nicht ausbleiben. Im Frühjahr 1822 starb Osiander, berühmter Professor der Geburtshilfe in Göttingen, und nicht lange darauf ging mir der Ruf zu, dort seine Stelle einzunehmen. Das gab denn wieder mannigfaltiges Bedenken! – Jene alte berühmte Universität, der Reichtum, den sich Osiander erworben hatte, das Eintreten in die Gemeinschaft vieler tüchtiger[409] Gelehrten, die große dortige Bibliothek! Dann auch wieder der Ruf des Pedantentums, der um den Ort schwebte, die Aussicht, mich nun lebenslänglich an ein Fach zu binden, dessen Studien und Übung mir doch bisher immer mehr als ein Durchgangspunkt vorgekommen waren, und außerdem das Verlassen Dresdens mit seiner Kunstwelt und Schönheit der Gegend! Es gab schwer zu entscheidende Fragen! – Endlich wurde mir geschrieben, daß die reichdotierte Stelle Osianders nicht ganz so auf den Nachfolger übertragen werden könne. Bei alledem blieben freilich immer noch Vorteile genug übrig! Indes war ich im innern Herzen nicht unzufrieden, als ich hierin einen Grund fand, zu erklären, daß nur unter der Bedingung, mich ganz in die Emolumente des Vorgängers zu setzen, ich die Stelle annehmen würde. Dies konnte die Universität nicht, da von jenem Überfluß bereits zwei andere Professoren beglückt worden waren, und so zerschlugen sich denn diese Unterhandlungen abermals. Es war auch so gut, hatte mich aber doch lange in Atem gehalten. Ich schrieb darüber an Regis: »Was mich betrifft, so bin ich hier weder die Schelle auf Fortunas Kappe noch die Sohle ihrer Füße. Lange Zeit, so lange fast, als mich die Göttinger Geschichte beschäftigte, stagnierte die Kunst; es war fast, als wenn schon gewisse Perücken von dort mir die ganzen Farben verpudert hätten! Jetzt geht es wieder eher!«

Wirklich stammen denn von damals einige gute Bilder, und namentlich eine Aussicht vom Rigi-Kulm mit dem Kulmhause ziert noch jetzt einen Salon meines Hauses und beweist, daß so große Eindrücke, wie die jener Reise, nicht ohne Nachwirkung auch in dieser Beziehung geblieben waren. Dahl und Friedrich, beide kamen öfters und fanden mehr System in Durchführung von Zeichnung und Farbe; das ganz Vollendete aber und mich wahrhaft Zufriedenstellende wollte immer nicht erscheinen[410] und wird es schwerlich! Wie viele Bilder steigen nicht in mir auf, wie schöne Momente bietet mir Natur, und nur eins oder das andere konnte ich festhalten und ausführen. Wirklich, nur die Unendlichkeit des Elements, des Stoffs, für jede Art von Tätigkeit bedenkend und fühlend, wird es uns leichter, auch die Ewigkeit des Geistes als beseligende Wahrheit zu empfinden! Freilich gehört aber auch wieder dazu die Selbstbeschränkung, welche als Gegensatz uns einer fruchtlosen Zerstreuung entzieht, welche an einem mit voller Liebe uns festhalten läßt und uns dann erst den Übergang zu anderm gestattet, wenn eine erst erfaßte Idee, soweit es unsere Kräfte erlaubten, zuvor wahrhaft erschöpft ist. Ohne jene Selbstbeschränkung daher würde die Masse des Elements uns erdrücken, im völlig Bodenlosen schienen wir uns dann hin- und hergestoßen, und rettungslos verlöre sich so der Geist in vernichtender Zerstreuung. Dies ist ein Punkt, wo ich oft mit mir selbst im Streit bin, obwohl doch jetzt viel sicherer an dem einmal recht Erkannten haftend als früher! Die Kunst ist auch hier meine Führerin, denn in ihren Werken tritt es am auffallendsten hervor, wenn diese innere Ruhe, dieses Haften an einem vermißt wird. Jedes Kunstwerk eigentlich ist eine Suleika, welche spricht: »In mir liebt Gott für diesen Augenblick.«

Einen Teil dieses Sommers verbrachten wir des kränkelnden Kindes wegen auf einem kleinen Dorfe unfern der Stadt. Mit Goethe wechselte ich mehrere Briefe, und er schickte mir regelmäßig die neuen Hefte zur Naturwissenschaft, sowie denn der damals erschienene Feldzug in der Champagne als köstliche Gabe mit vollen Zügen genossen wurde. Er hatte gewünscht, einmal wieder etwas von meinen Bildern zu sehen, und ich sendete ihm diesmal einige größere Sachen, welche einige Zeit in Weimar ausgestellt wurden, zugleich aber die jetzt vollendeten[411] Briefe über Landschaftsmalerei. Die Erwiderung, die ich erhielt, war sehr zustimmend, und ein junger Künstler, der nachmals so berühmt gewordene Landschaftsmaler Preller, wurde mir zugleich zu Rat und Tat von Goethe empfohlen. Ist es doch immer ein eigenes Glück, einen solchen gewaltigen Urgeist noch unter seine Mitlebenden zu zählen – ein Glück, von welchem die neue Generation bald gar keinen Begriff mehr haben wird. Man lebt gewissermaßen zwiefach in der Welt, wenn man sie noch von solchem Geiste erleuchtet weiß und wenn man von Tag zu Tag erwarten darf, wieder durch irgendeine neue Ausstrahlung von daher überrascht zu werden; ja ich möchte sagen, man glaubt mehr an die Welt, weil sie noch ein so Vortreffliches enthält und wir nicht im einzelnen uns überall sogar sehr an das Mittelmäßige gewiesen sehen. – Auch ein anderer großer Geist, und zwar des Altertums, wurde um diese Zeit mir zuerst näher bekannt; es war der Herodot in der Übersetzung von Lang, welche Schneider mir empfohlen hatte. Zu der erfahrenen wirklichen paßte genau diese geistige Alpenwelt mit all der ursprünglichen, gewaltigen, ja oft entsetzlichen Größe, die mir da aufging. Weitet doch jede solche uns neue Geistesgröße, gleich einer neuen Seite der Erdnatur, ja noch mehr als diese, auch eine eigene Seite unsers Seelenlebens in uns aus!

In meiner ärztlichen Tätigkeit wurde ich jetzt anhaltender beschäftigt, und meine Anstalt nebst vielem praktisch Merkwürdigen, worüber ich jährlich in eigenen Aufsätzen berichtete, gab mir neben dem Gynäkologischen mitunter auch psychologisch merkwürdige Tatsachen, wovon ich denn eine der auffallendsten hier der Vergessenheit entreiße, weil sie in ein Feld gehört, in welchem noch so viel Dunkel herrscht und wo es oft schwer ist, so entschiedene Fakta zu sammeln und als dieses eins genannt werden[412] darf. Es betraf die Oberhebamme meiner Anstalt, eine verständige und gebildete Frau, welche, an einen Buchbinder verheiratet, jetzt selbst ihrer Entbindung bald entgegensah und sich eben um ihre Mutter sehr bekümmerte, welche zu Adorf im Vogtlande schwer krank lag. Eines Tags nun kommt sie weinend zu meiner Frau und versichert, diese Nacht müsse ihre Mutter gestorben sein; 23/4 Uhr war sie durch ein starkes Klopfen am Bette aufgewacht und sah dann das Brustbild einer weiblichen Gestalt vor ihren Augen durchs Zimmer schweben. Am andern Morgen kommt nun ein Brief, den man ihr selbst noch verheimlicht; aber bald erzählt uns ihr Bruder, die Mutter sei wirklich in jener Nacht 23/4 Uhr gestorben. – Es bewegt sich doch noch eine eigene geheimnisvolle Welt hinter dem Vorhange dieser Zeitlichkeit! Es führte mich dies dann weiterhin zu manchen Erörterungen über das Wechseln von Tag- und Nachtseite unsers Geisteslebens usw. So habe ich neulich träumend irgendeines Philisters triviale Bemerkungen über Goethe so begeistert und tiefsinnig widerlegt und ihm bewiesen, wie einem Genius, der einmal die Idee der Schönheit rein erschaut habe, alle Dinge zum Besten dienen müßten, daß ich im Erwachen nichts mehr wünschte, als dies alles so geschrieben zu überlesen, denn ich fühlte nun, daß ich es jetzt nicht mehr so klar zu erörtern vermochte. Ebenso eigen war es ein andermal spätabends, als ich in Goethes Schweizer Briefen las: »Bei der gewaltigen Natur dieses Landes gibt man gern das Übersinnliche auf, da man fühlt, daß man ja selbst mit dem Sinnlichen nicht fertig werden könne.« – Das Verhältnis einer sinnlichen zur übersinnlichen Welt trat mir mit einemmal so deutlich vor die Seele wie nie zuvor, und es wurde mir klar, nie stehe es zu hoffen, mittels einer gewissen Sublimation des Sinnlichen zum Übersinnlichen aufsteigen zu können, sondern zwei ganz verschiedene[413] Welten seien es, welche hier ewig sich in- und durcheinander bewegen, und man müsse den Mut haben, in beiden zugleich zu leben oder auf beide zu verzichten.

Von all dergleichen Spekulationen wurde ich indes im Herbste wieder losgerissen und ganz dem Leben und den frischen Naturstudien zugewendet durch einen Ausflug nach Leipzig, wohin Oken zum 18. September 1822 die deutschen Naturforscher und Ärzte berufen hatte. Es war dies der erste Versuch, jene Versammlungen zu begründen, welche von da an sich immer zahlreicher gestalteten später fast ohne Unterbrechung jährlich an den verschiedensten Orten Deutschlands abgehalten worden sind, dann in der Schweiz, in England, Frankreich, Italien sowie auf der skandinavischen Halbinsel vielfache Nachahmung und Wiederholung gefunden haben und in vieler Hinsicht belebend und fördernd für den Aufschwung der Naturwissenschaft und Heilkunde gewesen sind. Auch hier war der Anfang klein, aus welchem nachmals eine große Bewegung hervorging. Okens Aufruf war von den meisten der Leipziger Professoren für eine bloße exzentrische Idee genommen worden, und auch nur wenige von andern Orten hatten das Bedeutungsvolle desselben erkannt. Als ich daher mit Freund Reichenbach von Dresden ankam, fanden wir noch wenig Glauben an irgendeinen Erfolg des Unternehmens und kaum einige Vorkehrung, um der Versammlung doch wenigstens ein Lokal anzuweisen. Nach und nach kam indes eine geringe Zahl Teilnehmender zusammen, und in einem kleinen Auditorium wurde durch einige kräftige und entschiedene Worte Okens endlich die Versammlung eröffnet. – Wie es denn schon in dem Aufrufe ausgesprochen worden war, daß diese Zusammenkünfte wesentlich den Zweck persönlicher Bekanntschaft und wechselseitiger Unterstützung für wissenschaftliche Arbeiten haben sollten, so war auch mir zunächst die Persönlichkeit[414] Okens selbst der interessanteste Erfolg dieser Reise. Oken war damals noch Professor in Jena, und sein Wesen hatte den vollen Ausdruck von Schärfe, Lebendigkeit und Tatkraft. Seine Arbeiten, namentlich seine Naturphilosophie, hatten, wie ich dies früher schon erzählt habe, vielfältige Wirkung auf mich geübt, aber ich freute mich nun auch, an ihm wahrzunehmen, daß jene gewisse ideale Richtung des Geistes ihn keineswegs verhindert hatte, zugleich eine große Kenntnis des Speziellen der Naturwissenschaft und eine rege Tätigkeit im Leben zu beweisen, ja zu behaupten. Seine Gestalt war nicht groß, wenig beleibt, aber elastisch, die Stirn wohlgebaut und stark, doch nicht übermäßig breit, das Auge braun und lebendig, der Mund scharf geschnitten mit schmalen Lippen. Wir kamen ganz gut zusammen aus, eine Rede, die ich zu Hause entworfen hatte und nun vortrug – über die Bedeutung der Naturwissenschaften – (sie wurde alsbald gedruckt und viel verbreitet), hatte ganz seinen Beifall, manche andere Naturforscher hielten dann ebenfalls kürzere Vorträge und zeigten Seltenheiten vor; meine schönen, von Genua mitgebrachten Abbildungen dortiger Sepien wurden bewundert, kurz, es kam nach und nach mehr Leben in die Zusammenkünfte, und eine neue Versammlung auf nächstes Jahr in Halle wurde beschlossen, von welcher man denn schon jetzt voraussehen konnte, daß sie weit zahlreicher und umfänglicher sich gestalten würde. So schloß denn also dieser erste Versuch nach wenigen Tagen doch sehr befriedigend, und es ist mir immer angenehm, mich zu erinnern, daß ich einer der Mitbegründer eines Unternehmens gewesen bin, welches für Förderung jenes höhern und rechtmäßigen Sozialismus der Wissenschaft stets wird bedeutend genannt werden müssen.

Unter den übrigen Versammelten ist mir Formey, einer[415] der zu jener Zeit berühmtesten Ärzte Berlins, noch am entschiedensten im Gedächtnis geblieben. Er repräsentierte namentlich in dieser kleinen Zahl die praktische Medizin und fiel uns auf durch eine gewisse imponierende Persönlichkeit, wobei der Ruf seiner ausgezeichneten »Praxis aurea« nicht wenig mitwirkte. Irgend bedeutendere wissenschaftliche Mitteilungen bot er nicht dar, aber er beförderte den geselligen Verkehr durch einen eigentümlichen berlinischen Humor, wie er mir denn noch ganz deutlich vorschwebt, wie er bei unsern Nachmittagszusammenkünften in Rudolphs Garten – einem damals beliebten Café Leipzigs – perorierend saß und dabei aus einer stattlichen, gekrümmten Hornpfeife mit porzellanenem Kopfe emsig rauchte.

Bald zurückgekehrt nach Dresden, verfloß mir nun der Rest des Jahres ganz still, und sollte ich noch irgend etwas hervorheben, so könnten es nur die wunderschönen Tage des Spätherbstes sein, welche uns zu einer Zeit noch einmal auf die besten Höhen der Sächsischen Schweiz lockten, wo man sonst in unserm Klima nur in die erwärmten Zimmer sich einzuschließen pflegt. – Es war aber wirklich der reinste Himmel und die wärmste sonnigste Luft; noch waren damals die schönsten Punkte nicht immerfort von spekulierenden Wirten besetzt, in so später Zeit fand man alles still und einsam, und man atmete so den Hauch der Gebirge in einer Reinheit, die mich ganz wieder an meine Alpen erinnerte. Kaum je habe ich das Prebischtor wieder so herrlich gesehen als an jenem Abend, noch hatte kein Waldbrand die weiten Felsen ihres Kieferschmucks beraubt, auf den tiefen Tannengründen lag ein golden duftiger Schleier, die Sonne, schon tief stehend, färbte den Himmel über dem Rosenberge und ihn selbst dem Namen entsprechend, und so, unter dem mächtigen Felsengewölbe stehend, sah ich den goldhaarigen Sohn der Luft glühend[416] hinter dem Tzschirnsteine hinabsinken. Einsam entzündeten wir dann am Felsen ein kleines Feuer, die beiden Frauen bereiteten den notdürftigen Imbiß selbst, endlich stiegen wir hinab und abends unterm Sternenhimmel, auf schmalem Kahn, gleiteten wir, von leichtem Wind und Wellenzug doppelt begünstigt, gen Schandau hinab, wo wir blieben, um den andern Morgen nach Dresden zurückzukehren. Die Betrachtung dieser wunderbaren Herbstschönheit gab mir viel Stoff zu Vergleichungen mit der Reise des vorhergegangenen Jahres, und der Reichtum dieser Elbnatur fesselte mich immer fester an einen Ort, dem man mich nun schon mehrmals hatte so gern entführen wollen. Mögen seine Sterne mir bis ans Ende günstig leuchten!

Es ist eine eigene Sache um das Wachstum des Menschen! Erst neuerlich hat man sich genauer mit der Geschichte des leiblichen Wachstums beschäftigt und hinreichender beachtet, wie dasselbe so merkwürdig an ein gewisses periodisches Aufschießen geknüpft ist. Man braucht ja auch nur schärfer auf Kinder und junge Leute Achtung zu geben, um sich zu überzeugen, wie da manchmal zeitenlang alles Größerwerden aufzuhören oder zu stocken scheint und wie dann mit einemmal wieder ein Schub erfolgt, so daß, wenn man den jungen Menschen nach einem halben Jahre wiedersieht, man ihn kaum wiedererkennt. So aber geht es doch eigentlich auch mit dem geistigen Wachstum! Jahre kommen und gehen, und das innere Sein des Menschen zeigt wenig merkbaren Umschwung, und dann kommt oft plötzlich wieder ein Jahr, in welchem alles treibt und drängt und vorwärts will, ja wirklich ein gut Stück vorwärts kommt. Das Jahr 1823 war mit ein solches, und manches wirkte zusammen, um mich innerlich zu fördern.

Sollte ich aber jetzt im einzelnen aufzählen, was es gerade[417] war, das diese innere Triebkraft so besonders aufgeregt hatte, so würde es mir doch nur sehr unvollkommen gelingen. Der Mensch hat Mühe, sich in der Gegenwart zu verstehen, 30 Jahre rückwärts aber mit klarem Auge die Fäden alle zu verfolgen, welche immer als neuer Einschlag in den alten Aufzug des Lebensgespinstes verwoben wurden, ist fast unmöglich. Vielleicht war es im ganzen doch, daß die heiße Sonne Italiens mir etwas eingeimpft hatte, was nun mit besonderm leidenschaftlichem Regen sich zutage herausarbeiten wollte! Erscheinungen, von denen ich gegenwärtig es nicht begreifen könnte, daß sie Gewalt über mich haben sollten, konnten daher damals bei solch entzündlichem Zustande mit fieberhafter Heftigkeit mich aufregen, meine Tatkraft steigern und meinem Gefühl eine Wärme geben, welche ebenso in tiefempfundenen künstlerischen Produktionen sich Luft machte, wie sie den wissenschaftlichen Arbeiten, die mir damals vorlagen, so gut wie meiner praktischen Wirksamkeit zum wahren Vorteil gereichten. Wie es aber zu gehen pflegt, daß, wenn überhaupt eine größere Empfänglichkeit gegeben ist, sogleich alle äußere Einwirkungen entschiedenere Folgen hervorrufen, als sie außerdem gehabt haben könnten, so wird man es nun auch erklärlich finden, daß bei solcher Stimmung meines Innern jede Begegnung mit selbst nur einigermaßen befähigten Individuen stärkern Eindruck machte und mich einerseits zuweilen verletzte, andererseits aber, und zwar häufiger, zu merkwürdigster Förderung meines Wesens ausschlug.

In diesem Sinne darf ich daher auch jenes Zusammentreffen von Umständen glücklich nennen, wodurch es mir um diese Zeit möglich wurde, neben meinen amtlichen Vorlesungen mitunter wieder Vorträge über vergleichende Anatomie für eine Auswahl von Zuhörern zu halten. Das alte Wort, »daß wir im Lehren lernen«, bewährte sich dabei[418] vielfach, und außerdem, da auch mehrere ältere, wissenschaftliebende Männer an diesen Vorträgen teilnahmen (es hörte zum Beispiel der damalige Besitzer des Schlosses Wesenstein, ein Baron von Uckermann, bei mir, ein Mann, der eine reiche Bibliothek gesammelt hatte und viel Fremde bei sich sah), so kam ich dadurch überhaupt in manche angenehme und ersprießliche Berührung.

Unter die guten Begegnungen dieses Frühjahrs durfte ich es noch weiter rechnen, daß mir von Kopenhagen die Anzeige zukam, es sei eine von mir der dortigen Akademie eingesendete Schrift über eine ausgesetzte Preisfrage gekrönt worden, womit denn zugleich die Übersendung der großen goldenen Medaille von daher verbunden war. Jene Frage betraf die »äußern Lebensbedingungen weiß- und kaltblütiger Tiere« und sollte namentlich beitragen, einen Streit zu entscheiden, welcher, durch einen sehr seltsamen Fall im Kopenhagener Spital veranlaßt, in der Akademie über die Möglichkeit des Fortlebens gewisser niederer Geschöpfe innerhalb des menschlichen Leibes geführt worden war. Natürlich mußten, um hierüber zur Entscheidung gelangen zu können, zuerst die Bedingungen geprüft werden, unter welchen das Leben solcher Geschöpfe überhaupt nur zu denken ist. Daß diese Bedingungen wirklich ganz andere sein würden als die für das Leben höherer Tiere oder des Menschen, verstand sich alsbald, dieselben indes genau und einzeln aufzuführen war bisher unterlassen worden, und eben darum hatte jene Frage mich interessiert, ich hatte ziemlich lange an deren Beantwortung gearbeitet und meine Schrift endlich im vorigen Jahre der Akademie übersendet, von welcher sie denn preiswürdig gefunden wurde.

Hierbei ist es vielleicht nicht uninteressant, noch jenes Falles zu gedenken, welcher die obgedachte Streitfrage in der Akademie angeregt hatte und der einer der seltsamsten[419] Beiträge zur Geschichte menschlicher Irrtümer wohl genannt werden darf. Seit einigen Jahren nämlich befand sich in dem großen Kopenhagener Spital ein Frauenzimmer namens Rachel Herz, welche die unglaublichsten Erscheinungen darbot und dadurch in der medizinischen Welt nicht wenig Aufsehen veranlaßt hatte. Das Seltsamste waren Hautabszesse, die an verschiedenen Teilen ihres Körpers vorkamen und aus welchen jedesmal bald größere, bald kleinere Nähnadeln hervorgezogen wurden, bevor sie heilten. Man hatte nach und nach ein ganzes Paket solcher Nadeln gesammelt, und die darüber gebildete Hypothese, welche man in mehrern medizinischen Zeitschriften las, war die, daß die Person als Kind wirklich ein Paket solcher Nadeln verschluckt haben müsse, welche nun auf diese merkwürdige Weise ihren Ausweg suchten. Dabei waren später noch ungewöhnliche Unterdrückungen natürlicher Ausleerungen und Klagen über Bewegung lebendiger Tiere in ihrem Innern hinzugetreten; kurz, Professor Herold, der Direktor des Krankenhauses, wurde über diese sogenannten Krankheitserscheinungen auf das mannigfaltigste in Anspruch genommen, bis endlich, nach beinahe zehnjähriger Dauer dieser Komödie der Irrungen und lange nach jener aufgegebenen Preisfrage der Akademie, man die Betrügerin entlarvte und sich überzeugte, daß sie namentlich alle jene Nadeln (gewiß unter vielen Schmerzen) sich absichtlich in Haut und Fleisch eingestochen habe, um später das Vergnügen zu haben, deren Herausschwären von vielen Ärzten höchlich bewundert zu sehen. Auf gleiche Weise hatte sie die andern Krankheitssymptome vorgespiegelt und hatte es wenigstens dadurch erreicht, einen so langen Aufenthalt im Hospital sich zu erzwingen; für welches ungewöhnliche Bestreben übrigens auch, wie man sagte, eine verborgene Neigung für den Direktor der Anstalt den Grund mit abgegeben haben[420] sollte, welchem letztern daher freilich aus all diesen Geschichten auch manches Unangenehme erwuchs, wie denn das ebenfalls mit in die Irre geführte Publikum dadurch sich einst an ihm rächte, daß, als sein Porträt in Form eines großen Ölgemäldes auf der Kunstausstellung erschien, dasselbe eines schönen Morgens mit einer in das Auge eingestochenen großen Nadel gesehen wurde, wobei dann die Geschichten jener Nadeln vielfältig zu seinen Ungunsten ausgebeutet wurden.

Dieser Fall, dem ich leicht noch manchen andern beigesellen könnte, bietet übrigens einen merkwürdigen Beitrag dar, nicht bloß zur Geschichte menschlicher Irrtümer überhaupt, sondern auch zur Schilderung jener sonderbaren, tief im Menschen gelegenen Lust zur Täuschung, zur absichtlichen Herbeiführung des Irrtums. Die Neigung, sich zu verbergen, sich zu verkleiden, eine Art von Komödie zu spielen, ist bei Kindern schon vielfältig zu bemerken, es sagt Goethe selbst, daß ihn dergleichen gar oftmals angewandelt habe, und in seinen größten Werken leuchtet die Freude zuweilen hervor, den Leser gewissermaßen irrezuführen und auf falsche Spur zu bringen; ja haben doch diese Dinge mit der Geschichte der Entstehung der Künste selbst einen tiefen wunderbaren Zusammenhang! Wollte man endlich paradox sein, so könnte man – die Erscheinung des Lebens vorzüglich ihrem Scheine nach nehmend – vielleicht sogar sagen, jegliches sich leiblich Verwirklichen einer Idee, jegliches Fleischwerden des Geistes sei gewissermaßen ein sich Verstecken und sich Verkleiden, und es konnte insofern endlich selbst einem Dante wohl erlaubt sein, die große und tiefsinnige Geschichte der Seele an und für sich mit dem Namen einer Divina Commedia zu bezeichnen.

Ich darf übrigens vielleicht noch erwähnen, daß diese seltsame Krankengeschichte (wie denn im Leben so oft[421] ganz unerwartete Verkettungen von Ursache und Wirkung sich einstellen) für mich gerade im Gegensatz des Krankhaften eine offenbare Förderung meiner Gesundheit herbeiführte, indem jene Medaille für die dadurch veranlaßte Preisschrift in ihrer Verwertung das Mittel wurde, mir ein eben um mäßigen Preis verkäufliches Reitpferd zu erwerben. War doch das Bedürfnis, mich aus der gedrückten Luft der Krankenzimmer und des Lehrsaals in eine frische, weite Atmosphäre einzutauchen, seit der letzten Reise nur noch größer geworden, und empfand ich es gleich um so niederdrückender, wenn ich durch Mangel an Zeit ein solches Bedürfnis entbehren mußte.

Natürlich hatte ich nicht verabsäumt, von dem schön geprägten Geldstück einen zierlichen Abguß entnehmen zu lassen, bevor es dem Wechsler anheimfiel, und es wurde mir derselbe zwar von dem Inspektor der königlichen Stück- und Glockengießerei des Zeughofes gefertigt, einem Manne, den ich damals schon in schweren Krankheitsfällen glücklich behandelt hatte und den ich später noch 30 Jahre erhalten konnte, obwohl die vielen Metall- und Schwefeldünste dergestalt auf ihn eingewirkt hatten, daß dadurch eigentlich alle Anwartschaft auf eine nur kurze Existenz gegeben schien. Der Mann hieß Schröttel, war aus Nürnberg gebürtig und hatte in seinem Fache tüchtige Erfahrung und gesunden Handwerksverstand dergestalt erwandert und sich abgesehen, daß er, der als ganz unbemittelter Gesell hierher kam, später sich eine nicht unergiebige Stelle erworben und durch Lösung mancher wichtigen Aufgabe für die sächsische Artillerie sich rühmlich bekannt gemacht hatte. Nun war es mir immer interessant gewesen, Menschen dieser Art in ihrem tüchtigen Geschäftstreiben zu beobachten; es lag mir darin so viel echt Deutsches, und das gute alte Nürnberg, hatte auch mit aus diesem Grunde mich mannigfaltig beschäftigt.[422] Kam nun noch die Liebe zu Schillers »Glocke« hinzu, deren Sang und Geschichte ich bei ihm oftmals praktisch mir deutlich zu machen Gelegenheit hatte, so versteht man vollkommen, warum der Mann mich interessierte und warum auch er wieder mit ausnehmender Treue zu mir hielt. Es wurde nicht leicht ein bedeutendes Geläut Glocken gegossen, ohne daß ich, vom Arbeiten der Form an bis dahin, wo es heißt:


Stoßt den Zapfen aus,

Gott bewahr' das Haus!

Rauchend in des Henkels Bogen

Schießt's mit feuerbraunen Wogen,


Kenntnis davon genommen hätte, und manch Phänomen kam mir dabei vor, dessen Schiller wohl noch hätte gedenken können, zumal eins, welches so bedeutungsvoll und so wenig gekannt ist, daß ich es hier noch mit einigen Worten erwähne. Man hat nämlich, wie ich da lernte, eine Art der Berechnung der Glockenform und der Metallmasse gefunden, um einem Geläute dreier Glocken jeden beliebigen Akkord zu geben, dergestalt, daß Prime, Terz und Quinte, in welcher Tonart man will, schön zusammenklingen müssen. War nun die Glocke gegossen und ziseliert und hing sie schwebend in der großen Werkstatt, so kam es natürlich darauf an, sich zu versichern, ob sie auch ganz rein den beabsichtigten Ton angebe. Hierzu bediente man denn sich folgenden Verfahrens. Einer mäßig großen, aber doch leicht mit dem Munde anzublasenden hölzernen Orgelpfeife hatte man die Einrichtung gegeben, daß sie durch einen tiefer oder weniger tief einzustoßenden Stempel ganz rein die zwölf Töne einer Oktave angab. Sollte nun die Glocke zum Beispiel die Stimmung von f haben, und man wollte sich überzeugen, ob sie auch wirklich diesen Ton ausgebe, so brauchte man die Pfeife nur auf f[423] zu stellen und nahe bei der Glocke sie sanft anzublasen, und alsbald fing die große Glocke an zu tönen. Kein andrer Ton, zum Beispiel e oder fis, machte sie mitklingen, nur f versetzte sie in lebhaftes Tönen. Wäre aber etwa die Glocke selbst in ihrer Stimmung nicht gelungen gewesen, hätte sie nicht rein in f geklungen, so hätte sie auch auf das angeblasene f keineswegs geantwortet. Gewiß! Hat irgendein einfaches physikalisches Experiment einen entschiedenen, tiefen und poetischen Sinn, so ist es dieses! Das Wort »Anklang«, das unsere Sprache bereits so schön benutzt, um die Verwandtschaft eines geistigen Lebens zu einem andern zu bezeichnen, es findet in diesem Miterzittern des gleichgestimmten Metalls teils seine Erklärung und teils auch seine vollkommene Rechtfertigung.

So genoß ich denn also, seit ich ein Reitpferd besaß, öfters der Erfrischung, die schönen Umgegenden der Stadt in früher Morgenstunde (die einzige, die mir gewöhnlich frei blieb) im Sattel zu durchstreifen, und wenn ich dabei die Launen eines Tieres studierte, wurde mir oft manches in der menschlichen Natur auch klarer, ja, das, was ich eben mit mir selbst zur Entscheidung zu bringen hatte, entwirrte sich auf solchen einsamen Ritten oft rascher als bei ruhigem Nachdenken im Zimmer. So hatte mir zum Beispiel um diese Zeit abermals ein neu wiederholter Antrag jener Breslauer Professur, aber diesmal mit beträchtlich erhöhtem Gehalt, neues und vielfaches Hinundherdenken veranlaßt; ich kam indes an eben einem solchen Morgen schnell zum Entschluß und schrieb es auch zum zweitenmal ab. Ich darf wohl sagen, daß ich dabei zugleich besonders meiner großen Arbeit über die »Ur-Teile des Knochengerüstes« gedachte, welche jedenfalls durch jene Übersiedelung bedenklich gestört worden wäre. Mit meinem Werke schreite ich gemessen und langsam schon ins fünfte Jahr vorwärts. Ich möchte hier den Kern von dem,[424] was ich für diesen Bereich der Naturwissenschaft zu leisten irgend vermag, treu und sorgsam niederlegen. Das Bewußtsein, so etwas recht mit voller Kraft und so rein um der Sache willen mühevoll durchzuführen, ist der eigentliche Lohn solcher Arbeiten. Zoëga schreibt einmal über dergleichen Dinge, zwar vielleicht etwas in der Sprache der Sturm- und Drangperiode, aber doch wahr: »Der Mensch hat nur eine wahre edle, hohe Bestimmung – die Fülle des Genusses in der Wirksamkeit, wenn der Geist vom Himmel auf uns fällt, die Feuerseele heilig und allgewaltig, Funke zur ewigen Flamme, daß der Trieb selbst Zweck ist, der Kampf selbst Siegeskrone. All das übrige ist Sklavenarbeit ohne die Freude der Ernte, Mühe ohne Dank, Hingeben sich selbst und seine Kraft um das, was nichts ist. Ein Wesen, das nicht alles ist, was es sein kann, nicht in der geraden, unwankenden Richtung es zu werden, ist nichts, stets in dem Gefühl des Überdrusses und der Zernichtung.« – Was mich betrifft, so habe ich bei dieser Arbeit so recht die Freude, mich an keine Mutter Baubo, sondern an die wahre Isis zu halten, und so darf ich wohl sagen, daß die hier allmählich tiefer und tiefer sich erschließenden Erkenntnisse nebst der Kunst und der Liebe zu den Meinen, bei eigenem aufrichtigem Wohlwollen für die Menschheit, recht eigentlich die Flügel sind, die mich allein über manches Mühsal hinüberheben.

Schiller hat in seinen »Räubern« einem herrlichen Gedanken Luft gemacht, wenn er sagt: »Frei muß Moor sein, wenn er groß handeln soll!« und ebenso da, wo sich Tells Knabe nicht will binden lassen, weil er sonst toben würde gegen seine Bande. Ich fühle in mir oft etwas Ähnliches, ja ich glaube, ich könnte schlecht handeln, wenn man mich zum Guten zwingen wollte. Empfinde ich doch immer eine geheime Freude, wenn ich daran denke, daß ich hier,[425] durch die noch so ungewissen Zustände bei meiner Anstellung verhindert, gar nicht so, wie es sonst jedem bei seiner Amtseinführung geschieht, feierlich verpflichtet worden bin, und ich darf wohl sagen, daß ich eben deshalb nun um so mehr pünktlich und pflichttreu mich verhalte. – Ich lese mit den Meinigen abends die »Lalla Rookh« von Thomas Moore; es ist wohl manches wahrhaft Hübsche und Lebendige darin, aber an sich geht auch das nicht aus einem ganz gesunden und tüchtigen Gemüt hervor. O du dreimal seliger Homer! In dir ist allein so gar nichts Krankes, nichts gereizt Humoristisch-Sarkastisches, nichts erschlafft Sentimentales, nichts überladen Gewaltsames! Immer groß auf großem Bezirk schreitet rein und frei der Genius der Dichtung aus! Deinesgleichen wird wohl dem armen Menschen nie wieder erstehen! Ich muß noch mein Griechisch wieder anfangen, nur um des Homer willen! –

Ich habe nun schon oben erwähnt, daß Krause, eine Individualität, die im Wissenschaftlichen hier eigentlich am bedeutendsten auf mich wirkte, in diesem Jahre Dresden verließ, um nach Göttingen zu ziehen. Neun lebende Kinder nahm er mit dahin, und man kann denken, daß somit der Umzug nicht leicht war. Eins davon, das zwölfte Kind, hatte ich ihm noch zuvor aus der Taufe gehoben, und einen Sohn ließ er hier zurück, den ich durch einige Freitische und sonst unterstützte. Noch ehe er uns verließ, hatten wir manche tiefgehende und vielumfassende Gespräche, von denen einige Resultate auch meinem großen Werke von den Ur-Teilen des Knochen- und Schalengerüstes zugute gekommen sind. Einesmals sah ich ihn mit Schneider, Ficinus und meinem Oheim Jäger aus Leipzig bei mir, und das Heterogene dieser vier Naturen stellte sich erst in solchem Gegenüber recht lebhaft heraus. Jener Oheim, der jüngere Bruder meiner Mutter und der Vater[426] des nachmals anerkannt tüchtigen Historienmalers Jäger, hatte eine stark pietistische Färbung, Ficinus, ein derber praktischer Chemiker, und Schneider, dieser vagierende Halbphilolog, Halbkameralist, sie befanden sich mit dem tiefsinnigen Krause vor vier Bildern, die ich um diese Zeit [alla] prima gemalt hatte und in denen die alten vier Elemente ganz frisch und leicht kenntlich symbolisch sich aussprachen. Wie ein und dasselbe Objekt nun so ganz verschieden auf verschiedene wirkt und oft so ganz Entgegengesetztes in ihnen anregen kann, ist mir fast nie so klar geworden als hierbei! Wo der eine an Schlange und Lilie, welche über dem Element der Erde erschienen, das Christentum und die Bekämpfung des Satans ablas, da sprach der andere von Kohlenstoff und Stickstoff, der dritte berechnete den verkäuflichen Wert der Bilder, und der vierte erkannte absolut nur die philosophische Seite und ließ daher dieser das eigentlich Artistische fast ganz fallen. Und treiben es denn etwa die Menschen mit dem großen Element des Lebens anders? Wie engherzig höken es die einen aus, und wie leichtsinnig vergeuden es die andern!

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 407-427.
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