IV.

[188] Die Zwischenzeit zwischen der vollendeten zweiten Ausgabe der »Physiologie« und den Vorarbeiten zu der ein paar Jahre später erschienenen »Physis« füllten nun teils verschiedene kleinere, in Zeitschriften erschienene Abhandlungen aus, so »Das Maschinenwesen im Lichte der Physiologie«, dann »Über Verhältnis zwischen Abformung, Daguerreotyp (oder Photographie) und Gemälde oder Zeichnung des Kopfes für Beurteilung der Individualität«, teils führte mir das hundertjährige Geburtsfest Goethes, welches am 28. August feierlich begangen werden sollte, mehrere umfängliche Arbeiten zu. Ein Komitee nämlich, aus Gelehrten und Künstlern bestehend, trat für diesen Zweck zusammen, von seiten des Hofs wurde die Teilnahme des Theaters zugesagt, und mir selbst fiel hierbei,[188] nächst Hofrat Schulz und Reichenbach, das Los, in einer Art von Akademie, welche am Geburtstage selbst in der Mittagsstunde sich versammeln sollte, eine Rede über den werten Mann zu halten. Außerdem hatte ich für mich eine Denkschrift für diesen Zweck gearbeitet, welche einige Zeit später zu erscheinen bestimmt war. Jene akademische Feier gab mit Ausnahme dessen, daß Hofrat Schulz seine nicht wohlpräparierte Rede plötzlich aus Mangel fortgehen der Gedanken unterbrechen mußte, einen durchaus würdigen Ausdruck. Rietschel hatte eine kolossale Feststatue im Saale der Harmonie über dem Katheder errichtet, welche in ihrer antiken natürlichen Draperie einen schönen Effekt machte. Prinz Johann und eine glänzende Versammlung waren gegenwärtig, und meine (später auch gedruckte) Rede »Goethe und seine Bedeutung für diese und die künftige Zeit«, welche Punkt zwölf Uhr in der hundertjährigen Geburtsstunde des Meisters sich eröffnete, schien einen guten und erhebenden Eindruck nicht zu verfehlen. Auch Freund Reichenbachs Andeutungen über Goethes naturwissenschaftliche Studien waren sehr erfreulich und belehrend.

Am zweiten Tage sah man im Theater nach angemessenem Prolog eine reizende Darstellung von der »Laune der Verliebten« und dann ein Fragment des zweiten Teils vom »Faust«; der dritte Tag aber war einem heitern öffentlichen Fest im Großen Garten mit Konzert im großen Saale des dortigen Palais gewidmet, wobei die Mendelssohnsche Komposition von Goethes »Walpurgisnacht« sehr befriedigend aufgeführt wurde. Alles dies hatte durch große und allgemeine Teilnahme wirklich einen bedeutenden volkstümlichen Charakter gewonnen, und so darf ich es auf alle Fälle einen besondern Gewinn nennen, auch diese Erscheinung in die Reihe meiner Lebenserfahrungen haben eintragen zu können.[189]

Man mag übrigens denken, daß namentlich jener erste Versuch, den zweiten Teil des »Faust« auf die Bühne zu bringen, mich ganz besonders bewegen mußte, denn wie viel hatte ich selbst schon lange über dies merkwürdige Gedicht gedacht und gesprochen, und wie oft hatte ich mich mit den Gedanken beschäftigt, daß es für ein künftiges Jahrhundert einmal eine eigene Aufgabe werden müsse, ein so kolossales Werk auch bühnenhaft irgendwie zur Erscheinung kommen zu lassen. Damals schrieb ich noch darüber an Regis:

»Oh, daß doch endlich einmal der Mensch erst seine Glieder wahrhaft brauchen lernte! Er könnte so viel weiter greifen, als er tut – und mit diesem Greifen würde er auch mehr begreifen lernen. Wenn ich manchmal das alles recht bedenke, so liegt doch die Menschheit immer noch gewissermaßen in den Windeln! Eingewickelt und eingelullt scheint sie oft keine Ahnung haben zu sollen, wie groß und herrlich der Mensch sein könnte, träte er einmal in seinem eigensten Wesen und rechter Macht hervor! Das ist ja eben das Zittern und Ringen, das durch die Zeiten geht, diese Binden endlich loszuwerden, und doch wird das fast immer so verkehrt angegriffen! Indes nach und nach lüften sich wohl hier und da solche Bande und fallen endlich stückweise ab!«

Für diesen Sommer gaben übrigens noch ein besonderes Motiv zu manchen nähern Betrachtungen die ersten beiden im vorigen Jahre erschienenen und jetzt zuerst gründlich durchgegangenen Bände der »Briefe Goethes an Frau von Stein«. Der zweite Teil hat mir nun schon entschieden besser gefallen, denn ein festeres und klareres Verhältnis spricht hier aus jedem Blatt, und leicht ist zu folgen, wie diese so eigentümliche Begegnung doch wesentlich und unzweifelhaft beigetragen hat, den Glücklichen glücklicher zu machen und seine geistigen Fühlfäden[190] und Schwingen zu reifen und zu kräftigen. Ich gestehe, daß ich von diesem zweiten Teile an anfange (was ich früher dem Kanzler von Müller nicht recht glauben wollte), diese Briefe als den wichtigsten Kommentar und als das wertvollste komplementäre Moment zu seinen Werken zu betrachten. Ist es doch überhaupt so schwer, das innere eigenste Seelenleben eines Menschen zu begreifen! Denn bleibt uns darin auch nur eine wesentliche und grundursachliche Richtung des Geistes ganz verborgen (wie denn dies früher mit dieser ganzen Periode Goethes der Fall war), so muß natürlich auch ein um ebensoviel dichteres Dunkel über den gesamten Lebensgang und Charakter gebreitet bleiben.

Während wir jedoch nun so in Pillnitz das längst vergangene Liebesleben eines Dichters verfolgten, hatten in meinem eigenen Hause in Dresden die ersten Fäden eines neuen Liebeslebens sich angesponnen, denn indem mein ältester Sohn, in ärztlich-praktischer Tätigkeit damals schon rühmlich bekannt, eine lebhafte Neigung gefaßt für eine junge Dame, bat er jetzt um unsere Einwilligung, als wir eben zur Stadt zurückgekehrt waren. Ich sowohl als meine liebe Frau, nachdem wir von der Liebenswürdigkeit und dem wahren innern Werte der Auserwählten uns überzeugt hatten, fanden keinen Grund, dieselbe zu versagen. Noch war das junge Fräulein Herbst als talentvolles Mitglied dem hiesigen königlichen Hoftheater verbunden, doch der stets sehr freundlich uns gesinnte Herr von Lüttichau, als Intendant, genehmigte sofort deren Entlassung aus dem Kontrakt, da das junge Paar sehr sich sehnte, bald sein eigenes Home sich einrichten zu können, und so sollte denn bereits zur Wiederkehr meines und meiner Eltern Hochzeitstags (1. November) die Verheiratung stattfinden.

Gewiß! Bei diesem im ganzen so schnell uns herangekommenen[191] Ereignis mußte ich wieder, wie oft schon sonst, an jenes hübsche Gedicht im »Diwan« denken:


Reit'st du an einem Schmied vorbei,

Weißt nicht, ob er dir dein Pferd beschlägt;

Find'st du eine Hütte im Felde frei,

Weißt nicht, ob sie dir ein Feins-Liebchen trägt

usw.


Denn wohl hatte dies liebe Kind damals, als ich sie zuerst in der Rolle des Arthur im »König Johann« sah, wie sie so rührend um Erhaltung des Augenlichts flehte, mir zwar im allgemeinen den besten Eindruck gemacht, und doch war ich dabei noch weit entfernt zu ahnen, daß sie in kurzem meinem Erstgeborenen eine so liebe Lebensgefährtin und auch uns allen eine geliebte Tochter und Schwester werden sollte.

Sonderbar! – Welche Gegensätze im Raume eines halben Jahres – von dem grimmigen Anfang dieses Mai bis zu dem heitern Schlusse dieses Oktober! – Und wie oft wiederholen sich solche Widersprüche im Leben des armen Sterblichen! So ungleich aber auch die Ereignisse, so gleichmäßig hatte im ganzen die Schönheit des Wetters vom Frühjahr bis Herbst sich erhalten. Noch im September, als ich Pillnitz verlassen und zur Stadt wiedergekehrt war, welche Schönheit der Atmosphäre hatten wir oft zu bewundern. Ich erinnere mich namentlich eines Abends, da ich einen einsamen Spaziergang nach der Neustädter Seite gemacht hatte und dort einen Kahn nahm, um mich gegen die Bogen der eben erst neu aus den Elbwellen aufgestiegenen großen Eisenbahnbrücke hinabschwimmen zu lassen! Der ganze Zauber, der über dieser Örtlichkeit ausgegossen sein kann, wurde mir damals wieder so recht fühlbar! Schon war die Sonne unter, der Neumond leuchtete, prachtvolle Rötung säumte den Horizont,[192] und in dunkelm saftigem Braun ragten die schattigen Linden des Geheges über die großen, am Kai angelagerten Frachtschiffe. Alles, was Clair-obscur, Luftspiegelung, Widerschein und Reiz des Abendlichts genannt werden kann, hatten die bei jeder Wendung des Kahns neu beschäftigten Augen zu bewundern! Und wie groß die Wirkung der einfachen mächtigen Architektur der Brücke, noch in ihrer vollen Einfachheit ohne alles Eisengeländer und ähnliches Kleinliche! Als der Kahn durch solchen mächtigen Bogen hindurchgeschwommen war, so daß dieser nun wie ein ungeheuerer Rahmen das dahinterliegende Bild der Stadt umschloß, von farbiger Gegendämmerung gehoben und durch die alte Elbbrücke und die lagernden Schiffe geziert, und als dann die Farben des Himmels und das Licht des wachsenden Mondes hundertfältig von den leicht dahinzitternden Wellen widerglänzten, da versenkte mich die milde Wasserluft in halbes Träumen, und mir fiel das alte Hoffmannsche Märchen wieder ein von den drei grünen Schlänglein und der geheimnisvollen Atlantis, das mir doch in so mancher Beziehung wahrhaft prophetisch für mein Dresdener Leben geblieben ist! Denn war mir nicht heute wieder begegnet, was oft schon mich hier beglückte! Hatte ich nicht da wieder eine wunderbare Atlantis erschaut, wo so viele nur die alte kursächsische Residenz gewahr werden! –

In diesem Herbst war auch Kaulbach, dessen Bekanntschaft ich acht Jahre früher in München in seinem Atelier gemacht hatte, kurze Zeit in Dresden. Sein Ruhm war seitdem durch die großen Aufgaben für Berlin sehr gestiegen, und schon hatten wir seinen mächtigen Karton – den Sturz Babels – hier zu bewundern Gelegenheit gehabt. Eine größere Schärfe in seiner ganzen Individualität wurde mir gegen früher entschieden fühlbar und erklärte mir auch recht wohl die Neigung zur Ironie, die[193] denn namentlich in noch spätern Werken, und vielleicht nicht immer zu deren Vorteil, so viel mehr hervorgetreten ist. Bei alledem erfreute mich die Tüchtigkeit seines Wesens in allen Zügen.

Hatten wir nun so einen großen Maler für einige Tage gewonnen, so sollten wir dagegen zum Winter auf Jahre einen bedeutenden Musiker verlieren, dem auch ich besonders so manches Gute zu danken hatte. Es war Hiller, den die Rheingegenden mit ihrer Lust am Wein und Gesang wieder zu sich zogen. Ich sollte bei dieser Gelegenheit mich seinem Album einzeichnen und tat es mit folgenden Worten, in welchen ich einen Gedanken weiter ausführte, den ich schon früher einmal hingeworfen hatte:

»Man kann nicht wohl über die tiefere Bedeutung der drei großen, sozusagen Kardinalkünste – Plastik, Malerei und Musik – nachdenken, ohne die Geschichte der drei großen, und auch sozusagen Kardinalsinne – Getast, Gesicht und Gehör – dabei sich gegenwärtig zu halten. Die merkwürdigsten Beziehungen zwischen der Entwicklung dieser Sinne in der belebten Welt des Planeten und der Entwicklung dieser Künste in der Geschichte der Menschheit ergeben sich dabei ganz ungesucht. Wie das Getast das erste und überall Unentbehrlichste ist, durch welches das lebendige Geschöpf sich orientiert, so ist irgendeine Art von Plastik die erste und notwendigste Kunst der Völker, und ihre höchste Blüte hat sie am frühesten erreicht.

Das Gesicht, jenes wunderbare Wahrnehmen feinster Lichtwirkung, tritt erst auf höherer Stufe des Tierreichs hervor, aber gewissermaßen unstetig, bald zu einem Auge, bald zu tausenden von Augen sich gestaltend, ja zuweilen selbst in höchsten Tierformen wieder ganz verkümmernd. Entsprechend dem fällt die Blüte der Malerei erst in die[194] mittlern Perioden der Menschheit, nimmt die verschiedensten Formen an, taucht auf und sinkt zuweilen wieder plötzlich.

Noch später und zuhöchst erst vollkommen entwickelt sich das Gehör: es deutet sich nur an in den höhern Mollusken und wird erst vom Reiche der Fische an bleibendes Eigentum der Tierwelt, dann aber auch mit großer Stetigkeit und Symmetrie. Nie mehr, nie weniger als zwei Organe, ein rechtes und ein linkes, und dann nie wieder sich verlierend. In ähnlichem Maße nun tritt eine wahre Musik erst in den letzten Jahrhunderten auf; mit großer Festigkeit dann sogleich in ihren Grundgesetzen sich gestaltend und an diesen nun gleichsam vor Anker liegend, gibt sie sich hin den feinsten wie den erhabensten Schwankungen und wird so das Mysterium, in welchem frei von aller Nachahmung wirklicher Welt das vergeistigte Reich der Gefühle sich spiegelt.

Wenn daher jene andern Künste über ihre höchste Blüte längst hinaus sind, fällt das volle Erblühen des Tonreichs durchaus in die neueste Zeit, und sicher liegen noch manche Geheimnisse hier unter leichter Decke verborgen – dem rechten Rhabdomanten unfehlbar immer von neuem sich bedeutungsvoll zu erschließen bereit!« –

So endete sich denn also dies merkwürdige Jahr, dies Jahr, das auch mir mit dem Eintritt in die sechziger Jahre ein neues Element unsers Familienlebens herbeigeführt hatte!

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 2. Band. Weima 1966, S. 188-195.
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