Früheste Erinnerungen

[20] Aus dem Nebelmeer meiner frühesten Erinnerungen tauchen mir als erste lichte Punkte zwei Bilder auf, die sich an ein schmerzhaftes Ereignis in Emmendingen knüpfen.

Lebhafte Kinder zieht es unwiderstehlich zum flackernden Herdfeuer der Küche wie die Fliegen zum Kerzenlicht. Es ist weniger die Naschsucht wie bei Hund und Katze, die den kleinen Menschen in den verbotenen Raum lockt, als die Neugier und Lust an dem unterhaltenden Schauspiel, womit die Küche alle Sinne befriedigt. Es lodert die Flamme, es siedet der Topf und brodelt der Kessel, es dampft und duftet; die Köchin schürt die glühenden Kohlen, sie schneidet und schält, backt und brät und ist immer tätig; es geschehen die merkwürdigsten Verwandlungen: Aus Mehl und Eiern wird Teig und ein gelblicher Kuchen, der in der Pfanne sich bräunt. Mit dem Angenehmen verbindet sich das Nützliche. Ist die Köchin dem Kinde hold, so gibt sie ihm Gutes zu kosten, und ist das Kind ein Leckermäulchen, so verlangt es noch mehr.

Mein erstes Erinnerungsbild versetzt mich in die Küche. Im Röckchen laufe ich der Köchin in die Beine, sie hat gerade einen Topf mit siedendem Wasser vom Herde gehoben, schwankt, schüttet ihn aus und verbrüht mir den behaarten Kopf. Ich schrie unbändig, meine zum Tod erschrockene Mutter fliegt herbei und schließt mich in die Arme.

Im zweiten Bild lieg' ich im Bette. Mein Vater ist von der Praxis heimgekommen, neigt sich über mein Haupt und besieht den Schaden.

Alles andere, was sich an die Verbrühung angeschlossen haben muß, ist in der Erinnerung nicht haften geblieben, nur[20] diese beiden Augenblicke bleiben unauslöschbar beleuchtet. Als objektives Zeichen behielt ich eine narbige Vertiefung am Scheitel, die das Haupthaar von den Rändern her überdeckt.

Als mein Vater 1828 von Emmendingen nach Boxberg versetzt wurde, legten wir den weiten Weg dahin in einer großen Mietkutsche zurück. Wir waren damals vier Kinder, und der Umzug machte uns großes Vergnügen. Mit uns fuhr ein lieber rothaariger Spielgefährte, ein junges Eichhorn oder Eichkätzchen. Es war an ein langes Kettchen gebunden und trieb sein possierliches Spiel mit Männchenmachen und Nüsseknacken bald auf dem Kutschendach, bald im Innern. Wurde es abends kühl, so schlüpfte es zu uns Kindern herein in die Wärme. Nachdem wir glücklich an den Neckar bei Hasmersheim gekommen waren, fuhren wir im Dunkel der Nacht die schlechte Straße ins Dorf hinab, der Kutscher warf um, und wir quetschten unseren armen Spielkameraden, der bereits bei uns untergeschlüpft war, unseligerweise zu Tode. Wir waren untröstlich, bis uns der holde Freund der Kinder, der Engel mit der Mohnblume, die verweinten Augen zudrückte.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 20-21.
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