Bei Semmelweis

[231] Wir machten die persönliche Bekanntschaft dieses trefflichen Mannes in dem geburtshilflichen, ganz vorzüglichen Operationskurse, den wir bei ihm genommen hatten. Als er hörte, daß Bronner und ich Assistenten des alten Naegele gewesen seien, den er tief verehrte, nahm er uns auf wie Freunde. Er förderte unsere Studien, soviel er nur konnte, und verschaffte uns im Winter die ersehnte, damals nicht leicht zu erlangende Erlaubnis, im Gebärhause sechs Wochen zu praktizieren. Mochte er die ganze Nacht durchwacht haben, wir kamen ihm niemals ungelegen. Von allen Bekanntschaften, die ich in Wien gemacht habe, ist mir die von Semmelweis in angenehmster und dankbarster Erinnerung geblieben. Als wir ihn kennenlernten, hatte er die große, segensreiche Entdeckung, die ihm die[231] Menschheit verdankt, kurz zuvor gemacht, sie beschäftigte ihn fortwährend und war der Gegenstand unserer täglichen Gespräche mit dem vortrefflichen Manne.

Ignaz Philipp Semmelweis war ungarischer Staatsbürger und 1818 in Ofen geboren. Er war mehr als mittelgroß, breit und stark gebaut, sein Gesicht rund, mit etwas vortretenden Backenknochen, seine Stirn hoch und das Kopfhaar dünn; er hatte auffallend fleischige, geschickte Hände, ein lebhaftes Temperament, große Arbeitskraft und Arbeitslust, ein warmes und gewissenhaftes Herz.

Als Semmelweis seine Kraft der Geburtshilfe widmete, war der schlimmste Feind der Gebärhäuser, der die Wöchnerinnen in furchtbaren Seuchen dezimierte, das Kindbett- oder Puerperalfieber, aber auch in den Privathäusern raffte diese Krankheit die teure Gattin dem Gatten, die geliebte Mutter der Familie weg. Ratlos standen die Geburtshelfer dieser Geißel des Frauengeschlechts gegenüber. Semmelweis erzählte uns, daß er gleich in den ersten vier Monaten, nachdem er seine Hilfsarztstelle angetreten, 15% aller Entbundenen durch die Seuche verloren habe; niedergedrückt von dem Bewußtsein seiner Ohnmacht, habe er sich tief unglücklich gefühlt. Unerwartet sei ihm, gelegentlich der Sektion eines hochgeschätzten Kollegen, des Professors der Anatomie Kolletschka, ein Licht aufgegangen, das ihm die ersehnte Aufklärung über die Natur und Ursache der mörderischen Krankheit verheißen und schließlich wirklich verschafft habe.

Kolletschka hatte sich an einem verletzten Finger eine Leichenvergiftung zugezogen und war ihr am 13. März 1847 erlegen. Semmelweis wohnte der Leichenöffnung bei; ihr Befund überraschte ihn ungemein, er stimmte überein mit dem Befunde bei seinen am Kindbettfieber verstorbenen Entbundenen. Das konnte kein Zufall sein. Er schloß daraus, dasselbe faulige Gift, das den Anatomen getötet, töte auch die Wöchnerinnen. Bei Kolletschka war es durch den verletzten Finger in das Blut eingedrungen, bei den Wöchnerinnen drang es während der Geburt durch die bei diesem Vorgange verletzten Leibesteile. Der Anatom hatte sich das Gift selbst in den[232] Körper gebracht, den Gebärenden führten es die Finger zu, die mit faulenden Stoffen in Berührung gekommen waren. Eine auffallende, bisher unerklärte Tatsache fand darin ihre einfache Erklärung. Die beiden Abteilungen des Wiener Gebärhauses, obwohl unter einem Dache gelegen, wurden von der Seuche ungleich häufig und heftig heimgesucht, sie wählte mit Vorliebe die Abteilung für den Unterricht der Ärzte und verschonte die für den Unterricht der Hebammen. Die Erklärung lag nunmehr nahe: Die Mediziner beschäftigten sich mit anatomischen Studien im Leichenhause, die Hebammen nicht. Auf diese Erwägung gestützt, wurde fortan niemand zu Untersuchungen auf der Klinik zugelassen, der sich nicht vorher die Hände sorgfältig mit Chlorkalklösung gereinigt hatte; sie galt damals für das beste desinfizierende Mittel, wir besitzen heute noch wirksamere. Die Sterblichkeit nahm darauf ab.

Die Annahme lag nahe, daß nicht bloß das faulige Gift aus Leichen die Seuche verschulde, es konnte ebensogut den Gebärenden aus eiternden Wunden und Geschwüren von pflegenden Händen zugeführt werden. Gerade zu der Zeit, als ich mit meinem Freunde im Gebärhause praktizierte, lieferten zwei äußerst lehrreiche Beobachtungen den zwingenden Beweis für diese Annahme. In einem Briefe, datiert vom zweiten Weihnachtstage teilte ich sie meinem Vater mit. Es wurden zu zwei verschiedenen Zeitpunkten zwei Frauen in die Anstalt gebracht: eine Müllersmagd vom Lande mit einem schlecht gepflegten, eiternden Amputationsstumpfe am Oberarm und ein armes Weib mit einer verjauchten Neubildung am Halse der Gebärmutter, beide waren bereits von Wehen befallen. Sie wurden deshalb sofort in den Gebärsaal geschafft, wo stets einige Frauen der Niederkunft entgegenharrten. Beide Male kam es zu kleinen Seuchen des bösartigen Kindbettfiebers, sie beschränkten sich auf diejenigen Entbundenen, die mit den unglücklichen Personen im Gebärsaal gelegen und mit ihnen untersucht worden waren.

In der Geschichte der Medizin wird Semmelweis neben Lister als einer der größten Wohltäter des Menschengeschlechtes[233] fortleben. Sein Scharfsinn verdient kein geringeres Lob als der des englischen Chirurgen. Dieser konnte sich auf Pasteurs epochemachende Untersuchungen stützen, Semmelweis schöpfte einzig und allein aus der klinischen Beobachtung und dem anatomischen Befunde. – Die antiseptische Behandlung ist heute, wie in der Chirurgie so am Gebärbette, gesetzlich eingeführt, und strafbar sind Arzt und Hebamme, die ihre Vorschriften nicht strenge befolgen. Semmelweis hat den Triumph seiner Lehre nicht erlebt, er stieß auf Mißachtung und Widerspruch vieler der angesehensten Geburtshelfer, doch ließ er sich dadurch nicht von dem richtigen Wege abbringen; erst nach seinem Tode fand er die verdiente Anerkennung, und seit einigen Jahren ziert sein Standbild die Hauptstadt Ungarns.

Der Name Semmelweis bleibt mit der Geschichte der jungen Wiener Schule innig verknüpft. 1855 erhielt er die Professur für Geburtshilfe an der Universität in Pest. Die langen Kämpfe, die der gemütvolle Mann im Interesse der Frauenwelt führen mußte, haben zweifelsohne zu einer Seelenstörung beigetragen, die seine letzten Lebensjahre verdüsterte. Er starb 1865.

Als ich vor unserer Abreise von Wien Abschied von Semmelweis nahm, gab ich ihm das Versprechen, dem alten Naegele seine Entdeckung mitzuteilen. Ich habe meine Zusage erfüllt, aber meine Worte verhallten in dem Brausen der Revolution, die dem alten Herrn, wie ich erzählte, so übel mitspielte.

Da ich mir die Aufgabe gestellt habe, die Menschen und Zustände meiner Jugendjahre getreu zu schildern, darf ich den Professor Klein, den Vorgesetzten von Semmelweis, nicht mit Stillschweigen übergehen. Ich bin ihm wiederholt im Gebärhause begegnet, der Professor war eine der typischen Figuren aus dem nachjosephinischen Österreich, wo die Protektion oft sicherer als das Verdienst zu amtlichen Stellen und Lehrkanzeln verhalf.

Joseph II. hatte Kleins Vorgänger, den hochbegabten Lukas Johann Boër, auf den ersten Schulen Europas zum Geburtshelfer erziehen lassen und ihm die Lehrkanzel für die Geburtshilfe in Wien verliehen. Boër galt als der erste Mann seines[234] Fachs in Europa und stand bei dem Kaiser in großer Gunst. Gerade deshalb war er den Nachfolgern Josephs nach dessen frühem Tode und nicht minder dem Klerus verhaßt. Dazu kam das Unglück, daß die erste Gemahlin des Erzherzogs und späteren Kaisers Franz, die Erzherzogin Elisabeth, wenige Stunden, nachdem sie Boër entbunden hatte, von Eklampsie befallen wurde und starb. Nunmehr hatten seine Feinde gewonnenes Spiel am Hofe, und Boër legte schließlich, der Ränke müde, 1822 sein Lehramt nieder. Unter den Bewerbern für die erledigte Stelle galt Klein, Professor in Salzburg, als der unbedeutendste – Boër hatte ihn ausdrücklich als solchen bezeichnet –, aber deshalb eben berief man ihn an seine Stelle, um den verhaßten Josephiner recht zu kränken. – Ich erzähle diese Dinge, wie sie mir in Wien erzählt wurden.

Klein machte auf uns den Eindruck eines ganz gewöhnlichen Praktikers. Solange wir in seiner Abteilung beschäftigt waren, kam er ab und zu in den Gebärsaal, hielt sich jedoch immer nur kurze Zeit darin auf und ignorierte meinen Freund und mich völlig, vielleicht weil er, nach der Versicherung der österreichischen Praktikanten, die Ausländer nicht leiden konnte. Eines Abends aber ging er sogleich, nachdem er eingetreten war, an das Bett der Gebärenden, die ich zu besorgen hatte, und fragte mich nach dem Stand der Geburt, worauf ich genaue Auskunft gab. Soweit verfuhr er nach der Ordnung, dann aber verstieß er gegen Takt und Sitte. Wollte er meine Angabe kontrollieren, so mußte er selbst nachuntersuchen oder den Assistenten, Semmelweis, dazu auffordern, er rief aber die Hebamme ans Bett, um nachzuprüfen. Dies wäre schon einem Studenten gegenüber unpassend gewesen, mir, einem approbierten Arzte gegenüber, war es ganz ungehörig, doch mußte ich es hinnehmen und jedenfalls zunächst schweigend das Weitere abwarten. Vermutlich, um ihm zu gefallen, erklärte die Hebamme meine richtige Angabe für unrichtig. Klein warf mir darauf einen strafenden Bilck zu mit der Frage, was ich dazu sage? Ich erwiderte ruhig, die Hebamme irre sich, ihr Befund sei falsch, der meinige richtig. Nicht nur ich, alle anwesenden Praktikanten und Semmelweis, der hinter Klein[235] stand und über seinen Vorgesetzten sichtlich aufgebracht war, waren gespannt, was er jetzt tun werde. Er schwieg, überlegte einen Augenblick und prüfte, wie es sich vorher geschickt hätte, selbst. Ich war meiner Sache so sicher, daß ich auch Klein, im Falle er der Hebamme zugestimmt, widersprochen hätte; Semmelweis kannte gleichfalls meine Fertigkeit in diesem Abc der Geburtshilfe, und war entschlossen, wie er mir nachher sagte, wenn nötig, gleichfalls nachzuprüfen und für mich einzutreten. Es war jedoch nicht nötig, Klein war ehrlich, nickte mir freundlich zu und sagte: »Sie haben recht!« – Es war ihm, wie die Österreicher meinten, nur darum zu tun gewesen, den Ausländer zu demütigen.

Für die Bestrebungen seines Assistenten fühlte Klein keine Teilnahme. Die Koryphäen der jungen Wiener Schule, namentlich Skoda und Hebra, erkannten die Tragweite der Entdeckung von Semmelweis und unterstützten ihn möglichst, Klein aber stellte sich seinen Untersuchungen hindernd in den Weg, schwerlich aus Bosheit, sondern aus Unverstand.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 231-236.
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