Erstes Kapitel.
Elternhaus und Kindheit

Die Vaterstadt. Ich im Herbst 1853 in Riga, Livland, geboren. Riga gehörte damals zum Russischen Reich, in welchem der alte Julianische Kalender herrschte, den die griechisch-katholische Kirche trotz seines heidnischen Ursprunges dem christlichen Gregorianischen vorgezogen hat und vorzieht, weil der richtige von »Schismatikern« eingeführt wurde. Nach jener Rechnung fiel mein Geburtstag auf den 21. August, nach der neuen fällt er auf den 2. September. Ich war der zweite Sohn meiner Eltern; ein Bruder Eugen ging mir vorauf, ein anderer Bruder Gottfried folgte mir, beide in einem Abstande von zwei Jahren. Eine Schwester habe ich nicht gehabt.

Riga war damals im wesentlichen eine deutsche Stadt, in Bauart und Verfassung ähnlich ihrer Mutterstadt Lübeck, von der aus sie vor etwa 1000 Jahren gegründet worden war. Die ganze obere und mittlere Schicht, Adel, Großgrundbesitz, Studierte (sie wurden »Literaten« genannt), Kaufleute und Handwerker sprachen deutsch als Muttersprache und lebte ihr geistiges Leben durchaus auf dem Boden der deutschen Kultur. Waren doch beispielsweise seinerzeit die ersten Auflagen von Kants Kritik der reinen Vernunft bei dem Verleger J.F. Hartknoch in Riga erschienen. Die[1] Landbevölkerung bestand aus eingeborenen Letten, die am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts durch die Betätigung der livländischen Großgrundbesitzer lange vor der russischen Bauernbefreiung aus der früheren Hörigkeit entlassen und mit leidlichem Landbesitz ausgestattet waren. Sie wohnten in Einzelhöfen, die sich nicht zu Dörfern zusammengeschlossen hatten. Von dort ergoß sich ein stetiger Strom überschüssigen Nachwuchses in die Städte, vor allem in die Hauptstadt Riga, wo sie als Dienstboten, Lehrlinge usw. bereitwillig aufgenommen und im zweiten Geschlecht von der Hauptbevölkerung eingedeutscht wurden. Doch galten sie immerhin als eine geringere Schicht.

Die Russen waren durch eine Anzahl Regierungsbeamte und Militärs vertreten; eine kleine Zahl fand sich im Handel, Handwerk und als Gärtner vor. Sie galten als kulturell und gesellschaftlich minderwertig und wurden meist als unvermeidliches Übel mit kühler Höflichkeit behandelt. Eine kleine Zahl unter ihnen, die sich als Männer von europäischer Bildung auswiesen, fand wegen persönlicher Vorzüge gesellschaftliches Entgegenkommen, doch nicht ohne den Nebengedanken, daß sie doch im Grunde Fremde seien.

Rußland. Diese Einstellung der baltischen Deutschen gegenüber Rußland war sehr wohlbegründet. Was der Zar Peter seinerzeit getan hatte, um Rußland aus der vollen Barbarei der europäischen Kultur zuzuführen, war sehr äußerlich geblieben, da Peter selbst nie aus der Barbarei herausgekommen war. Die eigentliche Kulturarbeit wurde erst von Alexander II. begonnen, welcher erkannt hatte, daß sie nur auf Hebung der breiten Masse des Volkes begründet werden konnte und die entsprechenden Maßnahmen traf. Solche Arbeit ist allerdings wie die Pflanzung eines Waldes: der Gärtner erlebt günstigsten Falles nur die ersten Anfänge und er muß[2] der Zukunft vertrauen, welche nicht nur die Zeit bringen muß, die zu dem natürlichen langsamen Wachstum notwendig ist, sondern auch günstige Entwicklungsbedingungen während dieser ganzen Zeit. Weil Peter seinem rohen Naturell gemäß Früchte ernten wollte, nachdem er kaum den Samen ausgestreut hatte, konnte er unter allen Umständen nicht mehr erzielen, als äußerliche Scheinkultur, deren Erzeugnisse hernach durch einen vaterlandsliebenden Russen mit den Worten gekennzeichnet wurden: Unreif und schon angefault. Die ungeheuren Umwälzungen, welche Rußland seit zwei Jahrzehnten erschüttern und welche heute noch keineswegs abgeschlossen sind, müssen als die antiperistaltischen Bewegungen verstanden werden, durch welche sich das russische Volk der unverdauten weil unverdaulichen »Reformen« Peters zu entledigen sucht. Erst nach ihrem Abschluß wird es an einen organischen Aufbau seiner eigenen Kultur gehen können.

Die Heimat. Im Gegensatz zu dem unstetigen und unorganischen Schicksal, welches die kulturelle Entwicklung des russischen Volkes um Jahrhunderte aufgehalten hatte, war die Entwicklung der deutschen Bevölkerung der baltischen Provinzen völlig stetig erfolgt, dank dem ununterbrochenen Zusammenhang dieser Kolonie mit ihrem deutschen Mutterlande. Wer unter den Balten es irgend ermöglichen konnte, studierte in Deutschland oder beendete wenigstens dort seine Ausbildung. An jeder größeren Universität, vor allem in Jena und Göttingen waren seit Jahrhunderten Kurländer und Livländer wohlbekannt und bildeten einen deutlich gekennzeichnten Bestandteil der Studentenschaft.

Im Sinne dieser deutschen Kultur hatte man sich auch bemüht, die heimischen Verhältnisse zu gestalten. Die Bauernbefreiung war, wie erwähnt, freiwillig etwa ein halbes Jahrhundert früher als in Rußland durchgeführt[3] worden. Überall waren auf dem Lande Volksschulen gegründet worden, die im engen Zusammenhange mit der Kirche gepflegt wurden. Die lettische Sprache war von den Geistlichen erforscht und bearbeitet worden, da sie den einzigen Weg zu den Seelen der Landbevölkerung bahnte. So lag die kulturelle Grenze zwischen Europa und Asien nicht an der politischen Grenze des Russischen Reichs, sondern ging durch dieses nördlich und östlich von den baltischen Provinzen durch.

Die Voreltern. Mein Großvater väterlicherseits – weiter gehen die Familienerinnerungen nicht zurück – war Böttchermeister in Riga gewesen. Er war seinerzeit aus Deutschland, und zwar aus Berlin, nach Riga eingewandert, hatte es aber in seinem Beruf nicht weiter gebracht, als daß er seinen fünf Kindern – es waren vier Söhne und eine Tochter – soviel Unterricht und Ausbildung verschaffte, daß sie sich im Leben weiter helfen konnten. Meine Onkel blieben noch alle in dem engen Kreise des kleinen Handwerks haften, konnten aber ihren Söhnen etwas höhere Berufe zugänglich machen. Ich erinnere mich meines Großvaters Ostwald nur als eines hinfälligen Greises, der tagaus tagein fast unbeweglich mit einer langen Pfeife in seinem Lehnstuhl saß. Seine Frau, meine Großmutter war dagegen überaus rüstig. Sie hielt das Hauswesen und den Betrieb der Böttcherei aufrecht, solange ihre Söhne, die im Beruf des Vaters arbeiteten, noch nicht ihren eigenen Hausstand gegründet hatten. Sie ist lange hernach als hohe Achtzigerin gestorben, als ich, ihr Lieblingsenkel, eben im Begriff stand, meinerseits eine Familie zu gründen. Sie war glücklich, meiner Braut, die gerne zuhörte, allerlei Geschichten aus meinen Kinderjahren zu erzählen. Als dann ihre letzte Krankheit sie ans Bett fesselte, blieb ihr heiterer Mut ungebrochen. Nachdem sie Gewißheit über ihren baldigen Tod erhalten hatte, bestellte sie ihr Haus bis[4] auf das letzte und ordnete jede Einzelheit für ihre Beerdigung an. Der zuständige Geistliche war ein unbedachter Eiferer, der sie durch Drohungen mit möglichen Höllenstrafen auf ihren Tod »vorbereiten« wollte. Sie hörte ihn geduldig, doch mit geringer Andacht an. Als er sich endlich verabschiedete, zog sie mit einem unbeschreiblichen Ausdruck überlegener Ironie ihre Haube an einem der Bindebänder vom Kopf und warf sie ihm nach an die Tür, die er eben hinter sich geschlossen hatte. Sie war ihr Lebtag eine gläubige Christin und auch eine Verehrerin ihres alten Pastors Dietrich gewesen; in den Worten jenes unreifen Zeloten fand sie aber ihr Christentum nicht wieder. Bald darauf schloß sie ihre munteren Augen zur ewigen Ruhe.

Der Vater. Mein Vater war zur Zeit meiner Geburt ein ganz armer aber geschickter und unternehmungslustiger Handwerker, der nach langen Wanderjahren als Böttchergeselle im inneren Rußland sich in seiner Vaterstadt als Meister niedergelassen und eine ebenso arme Bäckerstochter geheiratet hatte. Das erste erarbeitete Geld verwendete er zum Ankauf eines eigenen Häuschens. Es langte nur zu einem sehr dürftigen Heim in der billigsten Gegend, nämlich am äußersten Rande der Moskauer Vorstadt in den »Sandbergen«, einem breiten unfruchtbaren Dünenzug, der die Stadt nach Osten begrenzte. Dies mein Geburtshaus ist bald hernach unter dem Bahndamm des Riga-Dünaburger Schienenweges begraben worden, so daß ich es selbst niemals bewußt gesehen habe.

Unter seinen Brüdern war mein Vater der begabteste. Ich habe dies aus dem Munde seines Lehrers H. Fromm, bei dem ich selbst dreißig Jahre später meine ersten Schulkenntnisse erwarb. Da dieser fast hundert Jahre alt wurde, hätte er auch noch an meinem ältesten Sohne die gleiche Arbeit tun können, wenn ich damals nicht[5] gerade Riga verlassen hätte. Eine besondere Fertigkeit bewies mein Vater in der Zeichenstunde. Sie war so ausgeprägt, daß sie mich beinahe meine Existenz gekostet hätte. Dies ging so zu: Damals regierte in Rußland der Kaiser Nikolaus I. als kräftiger und rücksichtsloser Herrscher. Um der Kaiserlichen Akademie der Künste in Petersburg einen guten heimischen Nachwuchs zu verschaffen, an dem es anscheinend damals besonders mangelte, hatte er an alle Schulverwaltungen des ungeheuren Reiches den Befehl ergehen lassen, die für bildende Künste begabtesten Schüler auszuwählen und namhaft zu machen. Eine gewisse Anzahl von ihnen – ich glaube ein Hundert – sollten dann als kaiserliche Stipendiaten nach Petersburg geschickt und dort ausgebildet werden. Mein Vater befand sich unter denen, die von Riga aus genannt werden sollten. Doch kam die Sache meinem Großvater zu bedenklich vor; er machte seine väterlichen Rechte geltend und verhinderte die Nennung. Wäre dies nicht geschehen, so wäre mein Vater nach Petersburg übergesiedelt, hätte dort eine ganz andere Frau gefunden und die besondere Kombination väterlichen und mütterlichen Erbgutes, auf der die besondere Beschaffenheit meiner Person beruht, wäre nicht zustande gekommen.

Durch den väterlichen Machtspruch wurde aber jene mögliche künstlerische Laufbahn alsbald abgeschnitten und durch die Lehrlingszeit in der Werkstatt ersetzt. Als Erinnerung hingen in meinem Elternhause zwei von meinem Vater mit spitzester Kreide höchst sorgfältig ausgeführte Zeichnungen unter Glas und Rahmen an der Zimmerwand, die mir ein Gegenstand steter Bewunderung während meiner Kinderjahre waren. Eine war eine Kopie eines der Raffaelischen Engel vom Dresdener Madonnenbilde, die andere war ein Frauenkopf in orientalischer Tracht, dessen Original mir unbekannt geblieben ist. Später hat mein Vater die Kunst nie mehr ausgeübt;[6] seine Hand sei, sagte er, durch die Arbeit in der Werkstatt zu schwer geworden.

Nach beendeter Lehrzeit wanderte mein Vater als Handwerksbursch in das innere Rußland, wo er sehr mannigfaltige Schicksale erlebt hat. Außer mehrfacher äußerer Gefahr, in Winter, Schnee und Einsamkeit umzukommen, hat er manche innere Gefahren glücklich bestanden, die den jungen, frischen und energischen Burschen aus seiner Laufbahn herauszuwerfen drohten. So ist er unter anderem einige Zeit Hauslehrer in der Familie eines Grafen Tolstoi gewesen. Ob der nachmals so berühmt gewordene Graf Leo Tolstoi zu seinen Schülern gehört hat, habe ich nicht ermitteln können. Der Zeit nach könnte es stimmen, denn Leo Tolstoi ist 1828 geboren und die Wanderjahre meines Vaters fallen in die erste Hälfte der Vierziger. Doch war die Familie Tolstoi mehrfach verzweigt und bestimmte Anhaltspunkte bezüglich jener Vermutung sind nicht vorhanden.

Ich habe meinen Vater gefragt, wie er als Böttchergeselle zu einer solchen Tätigkeit gekommen war. Die Einzelheiten sind mir nicht mehr gegenwärtig; der zufällig Dazukommende scheint durch entschlossenes Eingreifen den alten Grafen aus einer unwillkommenen Lage befreit zu haben. Das hatte diesem alsbald ein solches Vertrauen eingeflößt, daß er seinen Helfer dauernd festhalten wollte.

Damals wurde in Rußland jeder Deutsche ungefähr als Gelehrter angesehen und die Ansprüche waren nicht allzu hoch. Indem er die halben Nächte damit zubrachte, sich das erst selbst anzueignen, was er am folgenden Tage zu lehren hatte, konnte mein Vater die übernommenen Pflichten erfüllen und sich in seiner Stellung befestigen. Bei einem Spaziergange mit seinen auffallend hübschen Zöglingen wurde er einmal auch vom Kaiser Nikolaus angeredet; er erzählte uns Kindern gern von[7] dem starken Eindruck, den der scharfe Blick des Kaisers aus stählernen blauen Augen auf ihn gemacht hatte.

Dieses Verhältnis nahm dann ein schnelles Ende durch den Umstand, daß eine erwachsene schöne Schwester der Zöglinge aus der Pension ins Haus zurückkehrte. Sie wurde natürlich alsbald der Gegenstand einer stillen aber glühenden Anbetung des Hauslehrers und scheint auch für dessen Huldigung nicht unempfindlich geblieben zu sein. Jedenfalls hielt es die Familie für ratsam, künftigen Schwierigkeiten durch Verabschiedung des Lehrers zuvorzukommen und ein schildpattenes, zierlich mit Perlmutter eingelegtes Nadelbüchschen, das mein Vater noch lange unter seinen wenigen Kostbarkeiten aufbewahrt hat, läßt vermuten, daß der Abschied nicht ohne Tränen aus schönen Augen und ein Pfand der Erinnerung verlaufen ist.

Diese Episode hatte den jungen Böttcher aber nur vorübergehend aus seinem Beruf herausgeworfen. Er fand bald Unterkunft in der Faßbauerei einer großen Brauerei in Petersburg, wo er sich schnell zu leitender Stellung emporarbeitete. Aber auch hier war seines Bleibens nicht sehr lange, da die Besitzerin, eine reiche Witwe in mittleren Jahren, ihm zu verstehen gab, daß sie ihn gern zu noch höherer Stellung promovieren wollte. Er nahm seinen Abschied und kehrte nach Riga zurück, um seine Meisterprüfung abzulegen und seinen Hausstand zu begründen.

Die mütterlichen Großeltern. Meine Mutter war auch rein deutschen Stammes. Sie ist in Moskau geboren, wo ihr Vater, der aus dem Hessischen eingewandert war, das Bäckergewerbe betrieb. Ich weiß nicht, was ihn dann veranlaßt hat, Moskau zu verlassen, um sich in Riga anzusiedeln. Die Reise war damals ein schwieriges Unternehmen. Man vereinbarte mit einem Fuhrmann den Transport, der 30–40 Tage dauerte und nur im Winter[8] ausführbar war, wo Frost und Schnee die Wege fahrbar gemacht hatten; im Sommer waren sie es nicht. Nahrungsmittel und Schlafausrüstung mußten mitgenommen werden, denn Unterkunft war unterwegs nur ausnahmsweise zu finden. So ist meine Mutter als halbwüchsiges Mädchen in die Stadt eingezogen, in der sie hernach ihr ganzes Leben verbringen sollte. Zur Familie gehörten außer der Mutter noch zwei Schwestern und zwei Brüder.

Meines mütterlichen Großvaters Heinrich Leukel erinnere ich mich noch gut. Er hatte in seinen späteren Lebensjahren das Bäckergewerbe aufgegeben und war Einnehmer an der langen Floßbrücke geworden, welche damals allein die Verbindung der auf beiden Ufern der Düna liegenden Stadtteile herstellte. Die Brücke und die anliegenden Bollwerke des Dünaufers waren die Landestellen der zahlreichen Handelsschiffe, welche den Hafen belebten. Dadurch war ein seemännischer Zug in die Kleidung und Sprache des früheren Bäckermeisters gekommen, der auf mich einen großen Eindruck machte, welcher durch gelegentliche Geschenke von Schiffszwieback und anderem Seeproviant noch gesteigert wurde. Im übrigen war der Großvater ein herzensguter Mann, der den Enkeln die Freude nicht verbarg, welche er an ihnen hatte. Er starb, als ich noch sehr jung war.

Die Großmutter war eine runde, tätige Frau, die durch ein organisches Leiden im Hause festgehalten wurde. Sie ist mir durch den trockenen Humor, mit dem sie den Wechselfällen des Lebens gegenübertrat, am deutlichsten in der Erinnerung geblieben.

Mit großer Liebe betrieb sie das Gewerbe ihres Mannes im häuslichen Maßstabe weiter und beglückte uns Kinder bei jeder festlichen Gelegenheit, deren sie zahlreiche zu schaffen wußte, mit selbstgebackenen »Saftpiroggen«, einem mit eingekochten Preißelbeeren gefüllten flachen Gebäck von der Gestalt einer Schuhsohle, aber bedeutend[9] größer. Den Tod des Großvaters hat sie nicht lange überlebt.

Wie man sieht, waren es überall kleinbürgerliche Zustände, in denen ich aufwuchs. Notleidend im schweren Sinne war niemand, aber jedermann mußte sich kräftig dazu halten, um durch den Tag und das Jahr zu kommen, und für Entbehrliches waren im allgemeinen keine Mittel übrig. Meine Mutter erzählte uns oft, wie sie in den ersten Jahren ihrer Ehe gegen Abend in der Werkstatt des Vaters die Späne zusammengekehrt hat, die bei der Arbeit abgefallen waren, um mit ihnen das Abendessen zu kochen.

Doch ging es bald aufwärts. Zu derselben Zeit, wo ich das Licht der Welt erblickte, gelang dem Vater der erste größere Gewinn in seinem Beruf, und von da ab steigerten sich die Erfolge. Das Hüttchen in den Sandbergen wurde gegen ein besser gelegenes Haus vertauscht, dessen geräumiger Hof eine zweckmäßige Entwicklung der Böttcherei ermöglichte. Der Hof grenzte an einen Bach, genannt der Speckgraben, an dessen Lauf sich verschiedene Betriebe, insbesondere Gerbereien angesiedelt hatten. Sie hatten die Fische fast vertrieben und neben Wasserkäfern sind mir die zahlreichen Blutegel im Gedächtnis, welche die trüben Gewässer des Speckgrabens erfüllten.

An diese Örtlichkeit knüpfen sich meine ersten bewußten Erinnerungen. Ich sehe mich bemüht, mit einer ins Wasser gehaltenen Rute Blutegel zu fangen. Einer von Vaters Böttchergesellen versuchte mich damit zu erschrecken, daß die Blutegel mich an der Rute ins Wasser ziehen und dort auffressen würden; ich überlegte mir aber, daß ich doch im schlimmsten Falle die Rute loslassen könnte. Dann sehe ich mich mit meinen Brüdern und den Lehrlingen beim ersten Schnee auf runden Brettchen unter großem Jubel vom niedrigen Scheunendach herunter rodeln.[10]

Im Sommer diente das Gewässer zu Bootfahrten, die verboten waren und schmerzhafte Folgen nach sich zogen, wenn sie entdeckt wurden; im Winter bot es gute Bahn für den Schlittschuhlauf. So haftet in meiner Erinnerung noch deutlich das Bild eines Knaben in schwarzsammten Pumphosen, roter Jacke und gelber Kappe, der an einem sonnigen Wintermorgen ruhevoll auf seinen Schlittschuhen am jenseitigen Ufer vorüber glitt, während ich diesseits mich im Schweiße meines Angesichts um die Anfangsgründe der Kunst abmühte.

Zwischen meinen Brüdern, welche den hohen Wuchs und die robuste Kraft des Vaters geerbt hatten, erschien ich, der ich mehr nach der Mutter gebildet war, ein wenig als der Schwächling; auch zog ich oft eine stille Beschäftigung für mich allein den lauten Spielen der andern vor.

Häusliche Umwelt. Im Vordergrunde steht um diese Zeit für mich meine Mutter, deren Liebling ich war. Der Vater hatte vom Morgen bis zum Abend in seinem Beruf zu tun, der ihn oft von den gemeinsamen Mahlzeiten fern hielt. Er war, wie erwähnt, hochgewachsen und stark. Als ich später den großen Chemiker R. Bunsen kennen lernte, erinnerte mich dessen Gesicht an ihn. Von Temperament war er heftig und rasch zum Zorn, so daß wir Kinder eine nicht geringe Scheu vor ihm hatten, zumal wir ihn nicht viel sahen. Denn die Zeit, welche sein Beruf nicht beanspruchte, widmete er der einzigen starken Leidenschaft, die er hatte, der Jagd, und diese hielt ihn gleichfalls von Hause entfernt. Während des Sommers pflegte er regelmäßig am Sonnabend Nachmittag auf seinem kleinen Wagen nach dem etwa 15 km entlegenen Babitsee zu fahren, einem verschilften, flachen Gewässer, das zahllose, wilde Enten beherbergte. Diese wurden von einem kleinen, schmalen Boot aus geschossen, das von einem ortskundigen Bauern mit einer Stange durch das Schilf geschoben wurde. Spät am Sonntag Abend kehrte[11] er dann mit seiner Beute, oft 30–40 Enten, Wasserhühner und anderes Wildgeflügel, heim. Am Montage mußten wir Knaben dann den größten Teil davon zu Freunden und Verwandten bringen, die in regelmäßigem Kreislauf mit diesem Wild beschenkt wurden. Der Rest wurde zu Hause verzehrt und meine Mutter hatte es bald zu einer hervorragenden Geschicklichkeit in der schmackhaften Zubereitung gebracht.

Im Winter gab es Treibjagden auf Hasen, Rehe und Füchse, im Frühling Schnepfenstrich und Birkhahnbalze, so daß nur geringe Pausen dazwischen lagen, in denen der Vater zuhause blieb und sich der Familie widmete.

Von der Jagdleidenschaft meines Vaters habe ich nicht das Geringste geerbt. Vielmehr befand ich mich früh in bewußtem Gegensatz zu ihr. Es fing damit an, daß mir das Austragen der Geschenke von Wildpret an die Freunde des Hauses unleidlich wurde. Dazu kamen wohl tierfreundliche Beeinflussungen aus volkstümlichnaturwissenschaftlichen Schriften, die mir zufällig in die Hand gekommen waren. Dann langweilten mich die endlosen Jagdgeschichten, die ich am häuslichen Tische anzuhören hatte, da mein älterer Bruder die Jagdneigung des Vaters teilte und von ihm frühzeitig mitgenommen wurde. Wenn wir Schulbuben an freien Nachmittagen Spaziergänge ins Freie machten, pflegten sich die meisten mit Blaseröhren zu bewaffnen, um Vögel zu schießen. Ich aber ging voraus und bemühte mich, die voraussichtlichen Opfer jugendlicher Mordlust, die übrigens selten genug erlegt wurden, zu vertreiben, ehe die Jäger in Schußnähe waren. Da diese sich das nicht gefallen lassen wollten, hatte ich nicht selten für meine Tierfreundlichkeit selbst zu leiden, doch bestärkte das mich, wie natürlich, nur in meinen Gedanken und Taten.

Meine Mutter war zufolge Begabung und Erziehung eine vorzügliche Hausfrau. Der schnell anwachsende[12] Werkstattbetrieb vermehrte in hohem Maße ihre Pflichten, da nach der damals üblichen Ordnung die Gesellen und Lehrlinge von der Meisterin beköstigt wurden. So waren täglich außer der Familie 6–12 Kostgänger zu versorgen, denen gegenüber sie ihren Ruf als Hausfrau aufrecht zu erhalten hatte, wenn jene mit dem durch stramme Arbeit geschärften Hunger sich an den Tisch setzten. Auch wurden zunächst die Arbeiter abgefüttert; erst nach ihrem Fortgange wurde für die Familie gedeckt; für alle zusammen hätte die Stube nicht gereicht.


Ich staune noch immer, wie die Mutter es fertigbrachte, das große Hauswesen mit geringer Hilfe in tadelloser Ordnung zu erhalten und dabei noch Zeit fand, um Bücher und Zeitschriften zu lesen und einen bestimmten, gar nicht eng gezogenen Kreis geistiger Betätigung in sich lebendig zu halten. Schon früh, als die Mittel es eben erlaubten, hatte mein Vater ihr einen regelmäßigen Sitz im Stadttheater beschafft und sie folgte mit leidenschaftlicher Teilnahme den Darbietungen der gut geleiteten Bühne, auf der zahlreiche ausgezeichnete Künstler zu sehen und zu hören waren, die auf Gastspielreisen nach Petersburg gern in der kunstsinnigen und gastlichen Dünastadt die lange und ermüdende Fahrt unterbrachen.


Auf meine persönliche Entwicklung hat diese lebendige Teilnahme meiner Mutter an der Kunst einen großen Einfluß ausgeübt. Ich wurde frühzeitig auf die starke Bereicherung des Innenlebens hingeleitet, welche solchen Quellen entnommen werden kann und es entstand eine stille Interessengemeinschaft, die uns beide ein wenig von den anderen Familienmitgliedern absonderte, bei denen solche Neigungen sich nicht so stark äußerten. Wie das in solchen Fällen geht, wuchs ich bald über den Kreis hinaus, auf den meine Mutter unter der Last der täglichen Arbeit an Haus und Kindern sich beschränken[13] mußte und ging als omnivorer Leser alles irgend erreichbaren Gedruckten meine eigenen Wege, auf denen sie mich liebevoll wenn auch kopfschüttelnd laufen ließ.


Förderung durch den Vater. Als stärksten Eindruck hatte mein Vater aus seinen Wanderjahren die Überzeugung von dem unersetzlichen Wert der Bildung heimgebracht. So hatte er es sich zum unverbrüchlichen Gesetz gemacht, seinen Söhnen jede Möglichkeit persönlicher Ausbildung zu erschließen.


Ich weiß nicht, ob er sich von vornherein die Opfer klar gemacht hat, welche er hierbei außer den pekuniären zu bringen hatte. Ich meine das Bewußtsein, daß ihm die Kinder über kurz oder lang geistig über den Kopf wachsen mußten, und daß durch ihr Aufrücken in den »höheren« Stand für ihn gesellschaftliche Schwierigkeiten entstehen konnten, die bei der damals herrschenden scharfen Kastentrennung in der Rigaschen Bevölkerung ihn gelegentlich empfindlich treffen mochten. Wie dem auch sei: er hat alle diese Opfer ohne Zögern gebracht und niemals auch nur die leiseste Neigung gezeigt, aus solchen Gründen die Möglichkeiten einzuschränken, die er uns aufgetan hatte


Die erste Schule. So besuchten wir Kinder zunächst die Elementarschule des Lehrers Fromm, in die ich vor erreichtem sechsten Jahr aufgenommen wurde. Denn ich war ein frühzeitiges Kind und hatte lesen gelernt durch das, was ich ohne besondere Aufmerksamkeit vom Unterricht meines älteren Bruders angehört hatte. In der Schule war ich fleißig ohne Zwang und machte meinem Lehrer namentlich in den Rechenstunden Freude. Weniger zufrieden war er mit meinen Leistungen im Schreiben. Man pflegt zu sagen, daß die Sünden der Jugend im Alter abzubüßen sind. Das scheint hier zuzutreffen, denn ich bin sicherlich von all meinen Geschwistern und Mitschülern[14] später am meisten mit der Notwendigkeit zu schreiben behaftet gewesen. Ich habe es aber immer gern getan.

Vorausgeworfene Schatten. Die Frommsche Volksschule war eine sogenannte Kronsschule, d.h. sie wurde von der Regierung unterhalten und verwaltet. Daneben gab es Stadtschulen, die von der Gemeinde unterhalten wurden und als die besseren, sowohl in unterrichtlicher wie gesellschaftlicher Beziehung galten.

Die Kronsschule wurde vorwiegend von den Kindern der kleinen Leute besucht, insbesondere fanden sich dort die Söhne aus aufsteigenden lettischen und russischen Familien ein. So hatten wir stets eine kleine Anzahl Letten unter uns, die meist nur sehr unvollkommen deutsch sprachen, an Reinlichkeit und Anstand sehr zu wünschen übrig ließen und nicht recht in die Gesamtheit hineinpaßten. Waren sie begabt, so lernten sie bald, sich unserem Treiben und Denken anzuschließen. Daneben gab es aber meist einige, die nur den zähen Willen mitbrachten, um jeden Preis aufzusteigen, ohne die erforderliche Begabung zu besitzen. Sie arbeiteten sich bald in eine feindselige Gesinnung gegen die Kameraden und den Lehrer hinein, da sie ihr mangelhaftes Fortkommen dem Übelwollen der Schule zuschrieben. Das ergab häufige Reibungen, die nach Jungenart bald mit den Fäusten ausgetragen wurden. So ist mir bildhaft gegenwärtig die Endszene eines solchen Zusammentreffens. Der lettische Junge war, nachdem er mit Nägeln und Zähnen gekämpft hatte, schließlich überwunden worden und saß nun als Besiegter geduckt da, mit zerzausten Haaren und Kleidern, blutigem Schaum vor dem Mund, Wut und Haß im Gesicht und unter gesenkter Stirn seinen Gegner mit tückischen Blicken streifend. Die Letten sind kein schöner Volksstamm und dieser lettische Junge wäre auf einer Stufenleiter der Schönheit auch unter seinen Landsleuten ziemlich weit nach unten eingestellt worden. Obwohl einem Knaben[15] solches sonst nicht aufzufallen pflegt, faßte mich ein Schreck bei diesem Anblick tierischer Wut in einer kaum mehr menschlichen Gestalt.

Der Eindruck trat in den Hintergrund, da jener Junge bald aus der Schule verschwand. Er war aber so stark gewesen, daß er sich dauernd meinem Gedächtnis eingeprägt hatte. Als dann sechzig Jahre später, gegen Ende des Weltkrieges die lettischen Nationalisten die Oberhand in Liv- und Kurland gewannen und an ihren deutschen Landesgenossen die gröbsten Grausamkeiten verübten, kam mir jenes Erinnerungsbild wieder in das Bewußtsein.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 1-16.
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