Dreizehntes Kapitel.
Naturphilosophie.

[299] Die Vorlesung. Gleichzeitig mit dem Anfang der praktisch-volkswirtschaftlichen Arbeiten am Problem des Stickstoffs begann ich eine ganz andere Betätigung, die jener vollkommen entgegengesetzt war. Vielleicht ist dabei ein unterbewußter Wunsch wirksam gewesen, für jene Angelegenheit, bei der die Vertretung persönlicher Geldinteressen nicht vermieden werden konnte, einen ethischen Ausgleich durch einen kräftigen Vorstoß in rein gedankliche Sphären zu gewinnen.

Es wurde schon erzählt, daß philosophische Fragen seit jener eindrucksreichen Lübecker Tagung mich zunehmend beschäftigten, so sehr, daß der Eröffnungsvortrag des neuen Laboratoriums bereits im wesentlichen philosophischen Inhaltes war. Da der deutsche Professor vermöge der grundsätzlichen Lehrfreiheit sich des unschätzbaren Vorzuges erfreute, ein in der Gestaltung befindliches wissenschaftliches Gebiet sich erfolgreichst klar zu machen, indem er eine Vorlesung darüber hält, so benutzte auch ich dies Hilfsmittel, als der langsam gesammelte Stoff überzufließen begann. Ich zeigte im Sommer 1900 eine Vorlesung über Naturphilosophie an. Mein Hörsaal, der etwa 100 Personen faßte, erwies sich sogleich viel zu klein, ebenso der etwa doppelt so große des benachbarten Botanischen Instituts, den mir[300] Kollege Pfeffer freundlich herlieh. Ich mußte in das größte Auditorium der Universität übersiedeln, wo die etwa 400 Zuhörer auch nicht alle Platz fanden, welche Naturphilosophie hören wollten.

Der Name war nichts weniger als einladend. Denn ihm haftete all die Verachtung an, mit dem die exakte Wissenschaft den vor etwa 80 Jahren erfolgten Einbruch einer hemmungslosen Spekulation der durch Kant entfesselten idealistischen Philosophie nach kurzer Herrschaft zurückgewiesen hatte. Diese hatte, nicht ohne Goethes Mitwirkung, sich der aufstrebenden Jugend bemächtigt, welche sich für den Mangel politischer Freiheit an der unbegrenzten Freiheit des Denkens entschädigte und berauschte. An den Folgen waren die schwächeren Köpfe zugrunde gegangen, während die stärkeren den Rausch überwanden und mit Schreck und Ekel an die vergeudete Zeit und Energie zurückdachten.

Somit war es einigermaßen ein Wagnis, unter dieser verrufenen Flagge sich einzuschiffen. Doch bewies der Erfolg, daß man sich dadurch nicht hatte abschrecken, eher anlocken lassen. Daß die Philosophie erfolgreich von Außenseitern bearbeitet werden kann, war gerade in Leipzig durch Wilhelm Wundts weitreichende Tätigkeit ersichtlich geworden. War dieser doch studierter und promovierter Mediziner. Als er nach Leipzig berufen war, wurde die philosophische Fakultät erst nachträglich zu ihrem Schreck gewahr, daß Wundt die amtlich vorgeschriebene Würde eines Dr. phil. überhaupt nicht besaß und mußte ihm diese ehrenhalber verleihen, damit der Vorschrift Genüge geschah. Auch hatte damals die lang verzögerte Wirkung der philosophischen Arbeit des Physikers Ernst Mach eben sich zu entfalten begonnen, so daß die Zeit insgesamt günstig für ein solches Unternehmen war.[301]

Den Vertretern der »Geisteswissenschaften« unter meinen Leipziger Kollegen erschien aber mein Vorgehen als unlauterer Wettbewerb. Leider nicht strafbar wegen der Lehrfreiheit, aber in hohem Maße »unkollegial« und verwerflich. Man hätte es noch hingehen lassen, wenn sich die Sache im engeren Kreise meiner Schüler draußen im naturwissenschaftlichen Viertel abgespielt hätte. Der große Hörsaal lag aber mitten in der alten Universität und die große Anzahl der Hörer bedeutete eine unliebsame Konkurrenz. So wurde manche spitze Bemerkung an mich gerichtet, wenn ich mich vor den Vorträgen im allgemeinen Professorenzimmer einfand.

Das Buch. Für mich war aber die starke Teilnahme meiner Zuhörer eine wirksame Anregung, die meinen Gedankengang beflügelte. Von meiner Wohnung bis zum Hörsaal hatte ich etwa eine halbe Stunde zu gehen. Diese benutzte ich, um mir den Inhalt des bevorstehenden Vortrages zurechtzulegen. In großen Zügen war er ja durch den allgemeinen Gedankengang gegeben. Aber er mußte noch so geordnet und geformt werden, daß innerhalb der Vorlesung ein abgerundetes Stück Denken vor den Hörern aufgebaut werden konnte, dessen Form und Ordnung wegen seiner übersichtlichen Gesetzlichkeit den Eindruck eines Kunstwerkes machte, wenn auch eines bescheidenen. Und außerdem dachte ich mir die »Rosinen« aus, die kleinen überraschenden Gedanken, Wendungen, Witze, welche in den Kuchen hineingebacken wurden, um besonders wichtige Stellen hervorzuheben und die Hörer zu erquicken.

Vom gesprochenen Wort zum geschriebenen war bei mir der Weg nicht weit. Der Verleger der »Elektrochemie« war bereit, auch die »Vorlesungen über Naturphilosophie« herauszubringen, die ich in einigen Monaten fertig schrieb. Sie fanden eine ebenso freundliche Aufnahme, wie die Vorlesungen, mit einer Null mehr. In[302] zwei oder drei Jahren waren vier Auflagen des Werkes vergriffen. Dann unterbrach ich die Ausgaben, weil ich das Werk neu bearbeiten wollte. So hat es längere Zeit im Buchhandel gefehlt, und als schließlich der erste Band der Bearbeitung unter dem Titel »Moderne Naturphilosophie« erschien, war es ebenso ein neues Buch geworden, wie seinerzeit das Lehrbuch der Allgemeinen Chemie. Auch darin gleichen sich beide Werke, daß die durch den Gegenstand erforderten weiteren Bände der Neubearbeitung ungeschrieben blieben, da die Fülle des Stoffes sich nicht bändigen lassen wollte.

Um eine Anschauung von der Wirkung des Buches zu geben, erlaube ich mir eine (Englisch geschriebene) Postkarte vom Juli 1902 wiederzugeben: »Gestatten Sie einem Fremden, Ihnen das außerordentliche Vergnügen auszudrücken, welches er beim Lesen Ihrer Vorlesungen über Naturphilosophie empfunden hat. Ich habe seinerzeit Band I Ihrer Allgemeinen Chemie gelesen, aber die Weite und »Menschlichkeit« Ihres letzten Satzes1 erfüllt mich mit Bewunderung (und Neid!) gegenüber dem Verfasser. Das Buch wird einen enormen Einfluß haben. Ich denke, die Theorie, wonach das Bewußtsein eine Art Energie ist, muß noch erheblich geklärt werden und ich bin nicht sicher, ob Sie die Energie als eine Art von universalem Wesen ansehen oder nur als einen Sammelnamen für Erscheinungen, die auf eine gewisse Weise gemessen werden, aber in jedem Falle ist Ihr Werk ein[303] enormer Schritt vorwärts zu einer einfachen Auffassung der Dinge. Dank von William James.«

Der Absender war einer der ersten Philosophen Amerikas, dessen Werk über Psychologie grundlegend ist. Bekannter noch hat ihn später sein Pragmatismus gemacht, eine praktische Philosophie, die im bewußten Gegensatz zu der üblichen scholastischen entwickelt wurde. Wie aus den Eingangsworten hervorgeht, bestand bisher keine Beziehung zwischen uns; auch waren mir seine Arbeiten unbekannt geblieben. Wenige Jahre später konnte ich ihm persönlich näher treten, als ich an der Harvard-Universität, Cambridge Mass. vorübergehend sein Kollege war. Doch dies gehört in den dritten Band, für den ich mir eine nähere Beschreibung dieser ungewöhnlichen Persönlichkeit aufspare.

Was die Voraussage James' über den Einfluß des Buches anlangt, so glaube ich sagen zu dürfen, daß er Recht behalten hat. Man kann dies schon äußerlich daran erkennen, daß seit dem Jahre 1901 der Name Naturphilosophie wieder ein anerkanntes Gebiet der Philosophie bezeichnet, über welches regelmäßig Vorlesungen gehalten und Bücher geschrieben werden, was vorher kaum je geschah. Ebenso wird bei Gesamtbearbeitungen der philosophischen Wissenschaft seitdem nicht unterlassen, der Naturphilosophie einen Platz einzuräumen. Der Vorgang hat sich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit vollzogen, wie etwas, worauf man lange gefaßt gewesen war, ja eigentlich gewartet hatte.

Beispielsweise war ich 1905 eingeladen worden, für eine Festschrift an Kuno Fischer, welche die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts darstellen sollte, das Kapitel Naturphilosophie zu schreiben. Ich lehnte ab, um nicht die Stileinheit des Werkes zu stören. Auch fühlte ich durchaus keinen Wunsch, dem Heidelberger Philosophen, dessen Wesen mir von Grund aus zuwider[304] war (persönlich habe ich ihn nicht kennen gelernt), meinerseits eine Reverenz zu machen. Bei anderen Gelegenheiten habe ich mich für die Abteilung Naturphilosophie beteiligt.

Gegenwärtig ist die Lage so, daß die Naturphilosophie als normaler Bestandteil der Wissenschaft und von den Fachphilosophen als Gegenstand ihrer Bearbeitung angesehen wird, wobei sie meist ängstlich vermeiden, meinen Namen zu nennen. Meist sind auch die Erzeugnisse von solcher Beschaffenheit, daß mir diese Fernhaltung durchaus willkommen ist.

Einiges über die Philosophie. Eine andere Frage ist freilich, wie groß der sachliche Einfluß der dort vorgetragenen Gedanken war und ist. Daß zunächst von den Fachphilosophen Widerspruch erhoben wurde, ist so selbstverständlich, daß es kaum der Erwähnung wert ist. Kennzeichnet sich doch der niedrige Entwicklungsgrad dieser ältesten aller Wissenschaften darin, daß jeder neu auftretende Philosoph das allergrößte Gewicht darauf legt, die Verschiedenheit seiner Ansichten von allen früheren zu betonen, während in den entwickelteren Wissenschaften der Fortschritt in bewußten Zusammenhang mit den bisherigen gesicherten Ergebnissen gebracht wird, so daß er sich als ein Weiterbauen an dem gemeinsamen Gebilde erweist.

Die Ursache dieses Zustandes ist darin zu suchen, daß zu der Philosophie von jeher nur diejenigen Wissenschaften gerechnet wurden, welche es noch nicht zu einem logisch oder vielmehr ordnungswissenschaftlich (mathetisch) zusammenhängenden Inhalt gebracht haben, über den man einig werden kann und geworden ist. Ursprünglich gehörten daher alle Wissenschaften zur Philosophie, wie dies am deutlichsten an den Werken des größten Philosophen des Altertums, Aristoteles, erkennbar ist. Im Laufe der Zeit trennten sich Mathematik, Physik[305] nebst Astronomie, Chemie, Biologie von der Philosophie ab und wurden selbständig. Bei den Chemikern wurden unsere Fachgenossen allgemein Philosophen genannt, solange sie sich um den Stein der Weisen und das Lebenselixir plagten. Seitdem sie aber nüchtern-sachliche Arbeit zu tun anfingen, in Unterscheidung und Kennzeichnung der Stoffe, Ausbildung chemischer Meßverfahren usw., haben sie diesen ehrwürdigen Namen eingebüßt.

In unseren Tagen ist die Abscheidung der Psychologie von der Philosophie aus ganz demselben Grunde erfolgt und die »eigentlichen« Philosophen legen heute ein großes Gewicht darauf, zwischen beiden einen recht deutlichen Trennungsstrich zu machen. Als ich 1905 an der Harvard-Universität die Eröffnung eines neuen Gebäudes für die Lehrtätigkeit des dortigen Philosophen Münsterberg mitmachte, beschrieb dieser mit Nachdruck, wie das untere Geschoß der Philosophie und das obere der Psychologie gewidmet sei, und daß er es als eine seiner ersten Pflichten ansehe, beide sorgsam getrennt zu halten. Das brachte ihm freilich einige ironische Bemerkungen von einem amerikanischen Kollegen ein, welcher die Hoffnung aussprach, daß er beispielsweise das Gebiet der Logik nicht auf das untere Geschoß beschränken, sondern etwas davon auch den Arbeiten über experimentelle Psychologie zugute kommen lassen würde.

So sind für die gegenwärtige Philosophie als Hauptgebiete übrig geblieben: Logik (nebst Erkenntnistheorie), Ästhetik und Ethik, drei weit verschiedene Gebiete von den äußersten Enden der Gesamtwissenschaft, die man notdürftig durch die äußerliche Bezeichnung als Normwissenschaften in Zusammenhang zu bringen versucht. Aber weder die Normal-Aichungs-Kommission noch der Normen-Ausschuß der Industrie hat jemals daran gedacht, die Normungsarbeiten auf jene Gebiete auszudehnen. Jede Wissenschaft hat ihren normativen Teil,[306] und dieser ist in Ethik und Ästhetik weniger entwickelt, als in irgendeiner rationellen Wissenschaft.

Dieser Mangel ist ja die Ursache, daß die wissenschaftliche Einordnung beider Gebiete in die Soziologie noch nicht unter allgemeiner Zustimmung hat vollzogen werden können. Über die Unfruchtbarkeit ihres gegenwärtigen Zustandes findet sich bezüglich der Ästhetik ein unverwerfliches Zeugnis in Selbstschilderungen führender Kunstwissenschaftler, die 1925 veröffentlicht worden ist (Verlag Meiner, Leipzig). Mit kennzeichnender Übereinstimmung wird dort von den verschiedenen Verfassern mitgeteilt, daß das Studium der vorhandenen zahlreichen Werke über Ästhetik sich als gänzlich unfruchtbar für ihre persönliche Entwicklung erwiesen hat.

Was aber das dritte Gebiet anlangt, das man zurzeit der Philosophie zuzuschreiben pflegt, die Logik, so ist diese ein Teil der Ordnungswissenschaft, welche die unterste Platte der Pyramide der Wissenschaften bildet und daher allen anderen Wissenschaften zur Grundlage dient. In der oben erwähnten Neubearbeitung der »Vorlesungen über Naturphilosophie« habe ich versucht, die Grundlagen dieses arg vernachlässigten Gebietes darzulegen. Und in meiner Farben- und Formenlehre habe ich später Beispiele für den unbeschreiblichen Nützen gegeben, welchen man durch bewußte Anwendung der Ordnungswissenschaft oder Mathetik bei der Gestaltung neuentdeckter Wissensgebiete, ja bei der Entdeckerarbeit selbst gewinnen kann.

Wie konnte es aber zugehen, daß dies grundlegend wichtige Gebiet methodisch so vernachlässigt blieb, daß jeder Forscher und Organisator einer Wissenschaft sich die erforderliche Mathetik von Fall zu Fall selbst machen mußte? Die Antwort ist: weil unglücklicherweise die Logik des Aristoteles bei der Verschüttung der antiken Kultur durch die Völkerwanderung nicht das[307] Schicksal der meisten damaligen Werke geteilt hatte und uns erhalten geblieben ist. Da sie für ihre Zeit eine gute, ja ausgezeichnete Arbeit war, so hat sie ihren Einfluß ähnlich wie die Geometrie des Euklid in solchem Sinne auf die späteren Jahrhunderte ausgeübt, daß sie für unübertrefflich galt und allen weiteren Fortschritt verhinderte. Bekanntlich hat an all den großartigen Fortschritten der Mathematik seit dem 16. Jahrhundert die Geometrie gar keinen Anteil genommen; erst mit dem Anfang des 19. Jahrhunderts begann ihre selbständige Entwicklung mit Steiners synthetischer Geometrie. Ebenso verhält es sich in anderen Gebieten. Die Malerei hat sich selbständig entwickeln können, weil von den Griechischen Bildern fast nichts übrig geblieben war und die später in Pompeji aufgedeckten antiken Überreste glücklicherweise so spät bekannt wurden, daß der hindernde Einfluß, den sie alsbald auszuüben begannen, überwunden werden konnte. Die Werke der Plastik dagegen überdauerten vermöge des derberen Werkstoffes die Zeit und ihre Kenntnis hat große Nachteile bewirkt. Zunächst unterbrach sie völlig die wunderschöne bodenständige Entwicklung der mittelalterlichen Bildhauerei, von der wir u.a. im Naumburger Dom unvergeßliche Zeugnisse haben. Sodann hat sie bis auf den heutigen Tag die Entwicklung einer dem gegenwärtigen Fühlen entsprechenden Kunst verhindert, wiederum weil man die antiken Erzeugnisse für unübertrefflich hielt und hält. Weil aber im Lauf der Zeit zwar die Gestalten der antiken Marmorwerke sich erhalten haben, die Farbe aber abgegangen ist, hat die inzwischen betriebene Plastik sich jene Werke zum Vorbild genommen, nicht wie sie von den Künstlern hergestellt waren, sondern wie sie sich nach dem Ausgraben und Abputzen zeigten. Dieser Irrtum hat die Kunst jahrhundertelang beherrscht und ist auch heute noch wirksam.[308]

Ganz in derselben Weise hat Aristoteles' Logik entwicklungshemmend gewirkt, zumal selbst Kant sie für endgültig abschließend hielt. Darüber war man blind dagegen geworden, daß sie nur ein kleiner Ausschnitt einer umfassenden Wissenschaft ist, deren Gegenstand die allgemeinsten Verhältnisse sind, welche sich bei allen Dingen finden, wovon die Logik nur jene Abteilung behandelt, welche das wechselseitige Ein- und Ausschließen von Gruppen gleichartiger Dinge betreffen.

Die wissenschaftliche Bearbeitung dieser allgemeinen Fragen ist bisher meist von Mathematikern ausgeführt worden, für deren Wissenschaft die Mathetik die nächste Voraussetzung oder Hilfswissenschaft ist. Ein wichtiger Teil hiervon ist die symbolische Logik. Als erfolgreichster zeitgenössischer Forscher sei der Engländer Bertrand Russell genannt.

Steht so für die Logik ihre richtige Einordnung in das System der Wissenschaft bevor, so läßt sich ein Gleiches auch für die beiden anderen Reste voraussehen, die zurzeit noch von der »Philosophie« in Anspruch genommen werden. Die Ästhetik ist ein Gebiet der angewandten Psychologie, insbesondere der der Gefühle. Und die Ethik ist angewandte Soziologie.

Es ist gegenwärtig modern, dem Intellekt alles denkbar Üble nachzusagen, und so werden diese Bemerkungen, die auf die Einordnung dieser Gebiete in die rationelle Wissenschaft zielen, geringe Zustimmung finden. Solange aber die Vertreter dieser Geistesrichtung die Anerkennung, daß ihnen bei ihren eigenen Erzeugnissen die Ausschließung des Intellekts vorzüglich gelungen sei, nicht als ein erstrebenswertes Lob auffassen, sondern als eine Kränkung, darf an der Dauerhaftigkeit dieser Modeströmung gezweifelt werden.

Ernst Mach. Die »Vorlesungen« sind Ernst Mach gewidmet, als dem Denker, der unter den Lebenden mich[309] damals am stärksten beeinflußt hatte. Er war 1838 in Mähren geboren, also 15 Jahre älter als ich und hatte den größeren Teil seines Lebens als Physikprofessor in Prag zugebracht, wo er eine Anzahl durch Eigenartigkeit der Aufgabenstellung und Ausführung ausgezeichneter Experimentaluntersuchungen ausgeführt hat. Über psychophysische Einzelfragen war er dann zu erkenntnistheoretischen und wissenschaftsmethodischen Forschungen gelangt, die nicht weniger selbständig, ja grundlegend waren. Als einer der ersten hat er die allgemeine Bedeutung der Energiegesetze erkannt und entwickelt; auf eine Energetik aber wollte er sich nicht einlassen.

Mir war seine Denkweise in hohem Maße willkommen, ja vorbildlich durch seine Ablehnung aller Hypothesen, die er nicht nur für entbehrlich, sondern für schädlich hielt. Ich teilte diese Ansicht und habe an früheren Stellen schon von meiner Abneigung gegen die atomistisch-kinetischen Anschauungen erzählt. In den Vorlesungen unterschied ich Hypothesen als willkürliche Annahmen, die man nicht prüfen kann, von Protothesen als vorläufigen Annahmen, die man zum Zweck der Prüfung in einem bisher unbekannten Gebiete macht. Erstere hielt ich für nachteilig, letztere für notwendig.

Mach hatte es zuerst sehr schwer, seine Gedanken zur Geltung zu bringen, denn seine Veröffentlichungen fielen in eine Zeit, wo die Angst vor der überwundenen Naturphilosophie alle philosophischen Bemühungen den Physikern verdächtig machte, zumal damals die Fachphilosophie ihren Bankerott als schöpferische Wissenschaft angesagt und sich auf die Geschichte der Philosophie als einzigen möglichen Forschungsgegenstand zurückgezogen hatte.

Persönlich habe ich Mach 1890 auf der Naturforscherversammlung in Halle kennen gelernt. Er war ein langer, magerer Mann von nachlässiger Haltung und[310] Kleidung, mit etwas zu langen Gliedern und einem blassen Gesicht, das von braunem Haar und Bart etwas zugewachsen war. Er erzählt selbst irgendwo, wie er nach einer ermüdenden Nachtreise in den Gasthofomnibus gestiegen war; im gleichen Augenblick trat von der entgegengesetzten Seite ein anderer Gast herein und Mach dachte: wo kommt denn dieser verkommene Schulmeister her? Er bemerkte erst einen Augenblick später, daß dort ein Spiegel angebracht war und er sein eigenes Spiegelbild gesehen und beurteilt hatte.

Die Geschichte kennzeichnet diesen eigenartigen Mann. Zuerst, daß er sie selbst erzählt, ohne sich durch persönliche Eitelkeit behindert zu fühlen. Er teilt sie mit, um zu erläutern, daß man gegebenenfalls das begriffliche Durchschnittsbild (Schulmeister) besser im Gedächtnis hat, als das persönliche. Er erwähnt aber nicht, daß er offenbar sich so selten im Spiegel betrachtet hat, daß bei ihm das Erinnerungsbild seiner eigenen Person nur schwach entwickelt war.

Ich glaube fast, daß er dieses Erlebnis bei seiner Ankunft in Halle gehabt hat, denn dort gab es einen solchen Omnibus mit Spiegel und auch die Nachtfahrt kann stimmen. Ich stellte mich ihm vor, hatte aber sehr wenig von ihm, da er die Versammlung sehr bald verließ. Er war wegen einer Unterrichtsfrage gekommen, über welche Beschlüsse gefaßt werden sollten und fand die Kollegen allzu nachgiebig gegen die philologische Scholastik, für die er nichts übrig hatte.

Als G. Wiedemann 1899 gestorben war, wünschte ich sehr, daß Mach als sein Nachfolger berufen würde und wandte mich an ihn mit der Frage, ob er gegebenenfalls den Ruf annehmen würde. Er schrieb mir einen sehr bemerkenswerten Brief, in welchem er sorgfältig und ausführlich alles entwickelte, was gegen die Berufung sprach, der er im übrigen wohl Folge geleistet hätte.[311] Der Haupteinwand war sein Alter von 61 Jahren, der auch in der Fakultät geltend gemacht wurde und die Berufung nicht zustande kommen ließ.

Mach wurde bald darauf nach Wien als Vertreter der Geschichte und Theorie der exakten Wissenschaften berufen, doch mußte er die Vorlesungen später wegen eines Schlaganfalles aufgeben. Ich versäumte bei keiner Anwesenheit in Wien, ihn in seinem Häuschen weit draußen im Vorort Pötzleinsdorf zu besuchen. Er war an einer Körperseite gelähmt, doch wußte er sich mit dem Gleichmut des Wissenschafters über die großen Behinderungen hinwegzusetzen und war unausgesetzt als Forscher und Denker tätig.

Sein weltanschaulicher Grundsatz war, daß es nicht die Aufgabe des Denkers ist, auf den sehr unvollständigen Grundlagen der gegenwärtigen Wissenschaft sich durch hypothetische oder metaphysische Ergänzungen ein abgerundetes Weltbild zu erbauen, sondern sich mit dem unvollständigen Weltbild zufrieden zu geben, welches die Wissenschaft zurzeit zu formen erlaubt.

Die kurzen Stunden, die ich mit ihm verbringen durfte, waren mir Weihestunden, obwohl ich wußte, daß manche von meinen Anschauungen bei ihm keineswegs Anerkennung fanden. Denn wir waren gegenseitig von der persönlichen Ehrlichkeit unserer Denkarbeit überzeugt und bereitwillig, den subjektiven Anteil gelten zu lassen, der allem menschlichen Tun anhaftet.

Zu Beginn des Weltkrieges verließ E. Mach Wien und siedelte nach Haar bei München über, wo er 1916 starb. Kurz vor seinem Tode hatte ihn noch mein Sohn Walter aufgesucht, um ihm seine Ehrfurcht zu bezeigen, und mir von dem ergreifenden Eindruck berichtet, den der Greis auf ihn gemacht hat.

Die Zeitschrift. Wie ich es an der allgemeinen oder physikalischen Chemie fünfzehn Jahre früher erfahren[312] hatte, wird das Selbständigwerden eines neuen Wissensgebietes durch das zugehörige Buch zwar ermöglicht, gesichert aber erst durch die entsprechende Zeitschrift. Im vorliegenden Falle hätte ich vielleicht eine der vorhandenen philosophischen Zeitschriften, die fast alle einen etwas schwindsüchtigen Eindruck machten, dafür gewinnen können, die Naturphilosophie besonders zu pflegen. Doch wäre dabei der bisherige Schriftleiter beibehalten worden und ich wäre von ihm abhängig gewesen. Das war mir unerträglich, und so gründete ich frischweg eine eigene Zeitschrift, die Annalen der Naturphilosophie, deren Schriftleiter (ohne Gehalt) ich selbst sein konnte. Das erste Heft erschien Ende 1901; die erste Abhandlung darin war von Ernst Mach mitgeteilt worden.

Als Arbeitsgebiet der neuen Zeitschrift bezeichnete ich die Pflege der Beziehungen zwischen den einzelnen Wissenschaften und der Philosophie als der Wissenschaft von den gemeinsamen Bestandteilen aller Einzelwissenschaften. »Als ein an treibenden Kräften und Entwicklungsbedürfnis reiches Gebiet läßt sich der mehr oder weniger breite Streifen Land bezeichnen, welcher sich zwischen den seit langer Zeit bestellten Feldern der einzelnen Wissenschaften und dem mehr als zweitausendjährigen Walde der Philosophie hinzieht. Zwar sind jene Felder auch einstmals Teile des Waldes gewesen und fast überall hat nur das praktische Bedürfnis den Anlaß gegeben, daß sie in Ackerpflege genommen worden sind. Aber zwischen ihnen und dem Urwalde hat vielfach der Zusammenhang aufgehört. Undurchdringliches dialektisches Buschwerk von der einen Seite, Halden unbearbeiteter Steinblöcke von der anderen hindern den Verkehr herüber und hinüber und lassen vielfach vergessen, daß derselbe Boden sie trägt und daß dieselbe Sonne ihnen die Energie schenkt, die sie beide in dauernde Formen zu übertragen beschäftigt sind.«[313]

Es sind, wie man sieht, die gleichen auf Verbindung ausschauenden Gedanken, welche in meiner Antrittsvorlesung auf die engere Aufgabe der Verbindung zwischen Physik und Chemie, aber doch mit Ausblicken auf die Gesamtheit der Wissenschaften zur Anwendung gekommen waren. Insofern durfte ich die neu übernommene Arbeit als eine geradlinige Fortsetzung der bisherigen ansehen, und brauchte mir den Vorwurf ziellosen Schwankens in meinen Bestrebungen nicht gefallen zu lassen.

Da ich ein besonderes Gewicht darauf legte, die Mitarbeit hervorragender Vertreter der einzelnen Wissenschaften zu gewinnen, betonte ich die Bedenken, welche bisher solche Mitarbeit verhindert hatten. Ich gab zu, daß der Verdacht bei der alten Naturphilosophie berechtigt war, daß hauptsächlich solche für spekulative Betätigung Neigung gezeigt hätten, denen es mit der exakten Arbeit nicht recht hatte glücken wollen, und daß zurzeit das Mißtrauen gegen allgemeine und umfassende Gedanken selbst in den philosophischen Äußerungen solcher Männer, wie Helmholtz und J.R. Mayer Dinge sah, welche nicht nachzuahmen, höchstens zu verzeihen waren.

Aber es fand damals eben eine Überwindung dieser Einstellung statt, deren Berechtigung zeitlich begrenzt war. An den verschiedensten Stellen berührten sich benachbarte Wissenschaften und erzeugten neue. Dadurch entstand ein Bedürfnis nach Philosophie aus rein technischen Gründen. »Schon durch die nüchterne Notwendigkeit, die massenhaften Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung für den Gebrauch bereit zu halten, ist ihre systematische Ordnung und die Herausarbeitung ihrer gemeinsamen oder allgemeinen Bestandteile ein praktisches Bedürfnis geworden.«

Auch hielt ich es für wichtig, gegen einzelne Bestrebungen anzukämpfen, welche zwischen benachbarten Wissenschaften Grenzen zu errichten trachteten, die nicht[314] überschritten werden dürften. Sie wurden hauptsächlich von Fachphilosophen ausgesprochen, kamen aber auch gelegentlich bei den Einzelwissenschaften vor. Und wer sich dagegen verging, dem wurde ein Zitat von Kant an den Kopf geworfen.

Dagegen verlangte ich, daß jede Wissenschaft den Anschluß an ihre Nachbarinnen suchen müsse, nicht zu engherziger Abgrenzung des bisherigen Besitzes, sondern zu freundnachbarlicher Aushilfe. Die Philosophie aber müsse ihr Arbeitsgut aus den Fachwissenschaften übernehmen. »Für sich beansprucht sie mehr und mehr nur das Amt einer geistigen Verkehrs- und Austauschzentrale, der es obliegt, die einlaufenden Werte in gegenseitige Beziehung zu setzen und auf einen allgemein annehmbaren Maßstab zurückzuführen.«

Von einzelnen »Philosophen« ist mir die letzte Kennzeichnung als eine Entwürdigung der hohen und heiligen Wissenschaft angerechnet worden. Die Kritiker haben nicht gewußt, daß die hier geforderte organisatorische Arbeit auf höherer Stufe steht, als die Entdeckung neuer Tatsachen.

Der Erfolg der »Annalen« war dem der »Zeitschrift« ähnlich, aber doch deutlich geringer. Es gelang mir alsbald, eine genügende Anzahl Beiträge von hervorragenden Forschern zu erhalten und auch die Verbreitung war ausreichend, um das dauernde Bestehen wirtschaftlich zu ermöglichen. Aber der Kreis der schreibenden wie lesenden Teilnehmer war viel beschränkter, da die internationale Gemeinde fehlte, welcher die damals einzige Zeitschrift für das neue Gebiet nicht entbehren konnte.

Dazu kam, daß der allgemeine Zustand, in welchem ich mich damals dauernd befand, zwar die Durchführung der Arbeiten – Schriftleitung und Bücherschau – noch gestattete, aber nicht eben mehr. Denn während früher mein ganzes Denken und Arbeiten ausschließlich auf die[315] physikalische Chemie eingestellt gewesen war, hatte ich nun neben der Naturphilosophie noch ein halbes Dutzend anderer großer Dinge im Kopf, welche für die Einzelleistung entsprechend weniger Energie übrig ließen.

Immerhin durfte ich mit der Liste der Mitarbeiter wohl zufrieden sein. Der erste Band bringt Beiträge von Ernst Mach (Physiker), F. Wald (Chemiker), A. Scheye (Mathematiker), A.v. Öttingen (Physiker), E. Sievers (Sprachforscher), P. Volkmann (Physiker), L. Natanson (math. Physiker), Ch. Pflaum, (Psycholog), H. Sim roth (Zoolog), B. Delbrück (Sprachforscher), F. Ratzel (Geograph), G. Helm (Mathematiker), A. Bozi (Jurist), Wo. Ostwald (Zoolog), K. Lamprecht (Historiker), G. Heymans (Philosoph), V.v. Türin (Physiker).

Wie man sieht, wurden die Annalen nach sehr demokratischen Grundsätzen geleitet; neben Namen hohen und höchsten Ranges finden sich ganz unbekannte.

Die Energetik. Neben jenen allgemeinen Arbeiten, denen sich die Annalen mit Erfolg widmeten, lag noch eine Sonderaufgabe vor, nämlich die Einführung der Energetik in das philosophische Denken. Es ist schon erzählt worden, welchen Widerständen die Geltendmachung der Energetik in den nächstliegenden Gebieten der Physik und Chemie begegnete. Man kann sich daher leicht vorstellen, wie unmöglich diese Denkweise in den ferneren Gefilden der Biologie und Psychologie erschien. So entstand das wunderliche Verhältnis, daß die Fachphilosophen sich zwar sofort und bereitwillig des neugeordneten Feldes der Naturphilosophie bemächtigten, daß sie aber nicht dulden wollten, daß der Erschließer dort das wichtige Kraut anpflanzte, für welches er die Rodungsarbeit vorgenommen hatte.

So kamen bald von allen Seiten »Widerlegungen« der Energetik, zu deren Richtigstellung die Bücherschau der Annalen willkommene Gelegenheit bot.[316]

Das Schauspiel, das ich hier erleben mußte, war niederdrückend. Obwohl der erste Hauptsatz von der Erhaltung der Energie wirklich nicht schwer verständlich ist, zeigten meine Kritiker eine so unglaubliche Unfähigkeit zu seiner richtigen Anwendung, daß ich einen großen Schreck bekam. Denn unter denen, welche hier grobe Fehler machten, befanden sich angesehene Professoren der Philosophie neben philosophischen Dilettanten gewöhnlichster Sorte. Ich mußte mir sorgenvoll sagen: wenn die sachlichen Kenntnisse in einem so einfachen Falle, den ich genau beurteilen konnte, so unzuverlässig sind, was muß man daraus für die vielen anderen Gebiete schließen, über welche die gleichen Männer Urteile abzugeben pflegten? Wozu ist dann die ganze Universitätsphilosophie nütze?

Im übrigen ging es mit der Eingewöhnung in energetisches Denken in der Philosophie wie in der Physik und Chemie. Trotz der scheinbar einstimmigen anfänglichen Ablehnung fanden sich die Spuren der neuen Auffassung öfter und öfter, doch stets entweder neben anderweitem Widerspruch oder später ohne Erwähnung ihrer Quelle. Einigermaßen als Abschluß dieses Entwicklungsganges konnte ich neun Jahre nach dem Erscheinen der »Vorlesungen« feststellen, daß der damals einflußreiche idealistische Philosoph, P. Natorp in einem Werk über die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften die Energetik als einen selbstverständlichen Bestandteil der exakten Wissenschaften behandelt, über dessen Zulässigkeit oder Richtigkeit nicht mehr gesprochen zu werden braucht. Sogar der Vorgang, daß sich der erzielte Fortschritt vom Namen seines Erzeugers loslöst, anonym wird und ein selbständiges Dasein führt, ein Prozeß, der sonst ein halbes oder ganzes Jahrhundert braucht, hatte sich hier schon vollständig vollzogen.

[317] Wirkung auf den Herausgeber. Die Tätigkeit als Schriftleiter der Annalen erwies sich für mich in hohem Maße fruchtbringend. Sie ist bei einer philosophischen Zeitschrift viel schwieriger, als bei einer naturwissenschaftlichen, weil hier Sinn und Unsinn, Reifes und Ungares viel weniger leicht zu unterscheiden ist: gleichfalls ein Zeichen, für den niedrigen Entwicklungsstand des Gebietes. Damit hängt zusammen, daß unter den einlaufenden Arbeiten sich viel mehr unbrauchbare finden, deren Abweisung, wenn sie nach sorgsamer Prüfung erfolgt ist, dem Verfasser stets als ein schweres Unrecht an der Menschheit erscheint. Denn in der Philosophie ist man niemals bereit zuzugeben, daß der andere etwa von der Sache mehr versteht, und daher das Erzeugnis objektiv beurteilen kann.

Werfe ich einen Rückblick auf die 14 Jahrgänge, zu denen es die Annalen gebracht haben (sie sind durch den Weltkrieg auch zum Erliegen gekommen), so darf ich mir das Zeugnis geben, daß ich keinen Beitrag zurückgewiesen habe, der veröffentlicht zu werden verdiente, und daß die Zulassungsgrenze, die ich ziemlich weit zu ziehen mich verpflichtet fühlte, doch noch reichlich diesseits des Wertlosen durchgeführt worden ist. Nachträglich würde ich kaum ein halbes Dutzend der abgedruckten Arbeiten ausschließen. Vergleiche ich dies Ergebnis mit dem Inhalt anderer philosophischer Zeitschriften mit alter Tradition, so darf ich es als günstig bezeichnen.

Noch mehr Arbeit, aber auch entsprechend größeren Nutzen brachte die Bücherschau. Das erste Jahrzehnt der Annalen fiel in eine Zeit, wo die Verleger äußerst bereitwillig waren, zu drucken, was man ihnen brachte. Und fand sich kein Verleger, so war es nicht allzu teuer, das Geisteskind im Selbstverlag ans Tageslicht zu bringen. Wir waren ein reiches Volk und es muß damals eine erstaunlich große Zahl Deutsche gegeben haben, welche bereitwillig auf gut Glück Bücher kauften. Freilich[318] war auch der ausländische Absatz Deutscher Bücher gut. Die Folge war, daß ein gewaltiger Strom bedruckten Papiers sich durch die Lande ergoß und ein starker Seitenarm davon auf meinem Schreibtisch mündete und beurteilt sein wollte. Denn so entschlossen der freiwillige Philosoph ist, jede gegenteilige Meinung für grundfalsch zu erklären, so begierig ist er doch, die Meinungen anderer über sein Werk kennen zu lernen.

Wenn daher in dem, was ich durchlas, nicht mehr als rund 10 v.H. Körner auf 90 v.H. Spreu zu finden waren, so darf doch der innere Wert dieses Zehntels so hoch eingeschätzt werden, daß das Gesamtergebnis durchaus als lohnend zu bezeichnen war. Ich habe sehr mannigfaltige und fruchtbringende Anregungen aus solchen Büchern empfangen, auch wo ich mich in grundsätzlichem Widerspruch befand. Denn die Notwendigkeit, diesen klar auszusprechen, ergab stets auch eine Klärung der eigenen Gedanken.

Dazu kam schließlich, daß die Annalen Anlaß und Gelegenheit boten, Betrachtungen zu veröffentlichen, die mich lange beschäftigt hatten, ohne einen Ort zu finden, wo ich sie darlegen konnte. Doch die dabei angesponnenen Fäden verlaufen in eine Zeit, die außerhalb der hier zu schildernden liegt.

1

Dieser Satz lautet: So kann der Mensch auf keine Weise besser für sich selbst sorgen, als indem er in möglichst weitem Umfange für andere sorgt. Hier fließen die meist unbewußt empfundenen Quellen der großen Taten, durch welche der Einzelne sich Vielen auf einmal segensreich erweisen kann, und in der hierbei entstehenden gewaltigen Erweiterung des eigenen Selbst liegt die Ursache für das Gefühl höchsten Glückes, das dem leuchtet, dem eine solche Tat zu tun gegeben ward.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 319.
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