[268] Tübingen, Anfang Novembers 1808
Da sind wir denn in Tübingen! Am 1. spätabends, bei vollem Mondschein, der die Berge und ihre vom Herbst wunderkräftig gebräunte Waldung schön beleuchtete, fuhren wir munter hier ein und haben in den ersten Tagen die Stadt und Gegend, die Anstalten und zum Teil auch die Menschen schon zur Genüge angesehen. Ob wir recht getan, hieher zu reisen? Es war eine kühne, frische Tat, alle Gründe waren dafür – und doch fürcht ich schon, daß der Ausgang es als ein unnützes Abenteuer erscheinen läßt. Der Eindruck von manchem einzelnen war gut, die Gegend ist schön, das[268] Volk unterhaltend, die Männer, die uns anzogen, sind ihres Rufes wert; aber das Ganze wirkt auf uns gräßlich niederschlagend! Wir haben ganz dasselbe Gefühl, Harscher und ich, da doch sonst unsre Seelenstimmungen weit auseinander liegen, so wie die Gegenstände verschieden sind, von denen wir bewegt werden. Diesmal muß also doch etwas in der Sache sein, was uns beide so benimmt und beängstigt; das gute Tübingen will ich nicht grade beschuldigen, aber desto mehr die grelle Versetzung, die wir zu leichtsinnig gewagt, den ungeheuren Abstand des Lebens hier von unsrem in Berlin; wir dachten den so leicht zu ertragen, und ich sehe schon, wir beide können es nicht! – Für mich ist das schlimmste, daß alle die Kämpfe, denen ich entgangen zu sein glaubte, sich hier grade am heftigsten erneuen. Von allen Seiten bestürmen mich Zweifel und Lockungen! Was ich eigentlich will, was ich im Tiefsten des Herzens will, das ist mir klar und gewiß; aber davon ist nicht die Rede! Die Rede ist davon, daß ich eine Gestalt finde, in der mein Leben sich das Ziel jenes innersten Wollens aneignen könne, und da sind so viele Wege, da begegnen mir auf jedem günstige und widrige Zeichen. Es ist kein Irrtum, daß ich Arzt werden will, gewiß nicht; dieser Beruf ist mir lieb, und ich kann darin glücklich sein. Aber es liegt in den Umständen, daß ich, um als Arzt zu leben, keinen andern Ort als Hamburg wählen kann, und so lieb mir der Ort an und für sich ist, so wenig darf ich ihn jetzt für mich wünschen, und nun gar der Gedanke, mich für immer in einer Stadt niederzulassen, die französischer Herrschaft unterworfen ist, während doch vielleicht – vielleicht! – noch einige Strecken des Vaterlandes sich als freie Deutsche erhalten! Soll man überhaupt in solcher Zeit sich niederlassen? Und was kann man sonst tun? Ich genug! Ich finde nur zu viele Möglichkeiten, denen ich folgen kann. Zum Kriege kann jeder taugen und ich also auch; die Gelegenheit wird nicht fehlen, denn Deutschland ist noch lange nicht völlig unterjocht und noch lange nicht völlig frei; da muß noch oft zu den Waffen[269] gegriffen werden; kann ich hieran nicht teilnehmen, so bleibt mir ein entschiedener Anspruch ewig unbefriedigt. Aber auch geistige Tätigkeit reizt mich, literarische, auf das gesellschaftliche Leben wirksame; sollt ich nicht als Schriftsteller leben können und auch hier mitunter die gewünschte Kriegsbahn gegen den Feind eröffnet finden? Aber der Augenblick drängt; was soll ich wählen, was kann ich ergreifen? Ich kann nichts abwarten, ich habe nur Boden, sofern ich gewählt habe, und auch da zuerst nur unfruchtbaren! Ob die Früchte dann kommen oder ausbleiben, das steht dahin.
Ich war bei Cotta, dem ich meinen Empfehlungs-und Kreditbrief übergab. Ich glaubte meinen Augen nicht, als ich nach der Cottaschen Buchhandlung fragte und man mich in ein Lädchen wies, wo ich mich fast schämte einzutreten; so winzig, eng und schmucklos hab ich neue Bücher noch nie wohnen sehen, alte wohl! Und noch dazu ist dies der Ort, wo die Schiller und Goethe recht eigentlich zu Hause sind, von wo sie ausgehen. Der eine, emsig beschäftigte, aber dennoch gutmütig aufmerksame Diener, den ich traf, lächelte über meine Befremdung und geleitete mich, da ich den Herrn Doktor sprechen wollte, zwei schmale Stiegen hinauf, in ein enges Stübchen, wo es aber doch etwas elegant aussah, sogar ein Sofa breitete sich hinter einem Tische, das einzige bis jetzt, das ich in Tübingen zu sehen bekommen, denn Studenten und Professoren haben so schwelgerische Gewohnheiten nicht. Cotta trat ein, ein hagrer, ältlicher Mann, lebhaft, geschmeidig in eckigen Manieren, in schwäbischer Gemächlichkeit rasch; er war prompt, artig und meinen Wünschen zuvorkommend, hatte aber viel zu tun, daher ich ihn bald wieder verließ. Seitdem war ich auch schon einen Abend bei ihm, wo ich ihn mit seiner Frau und seinen zwei artigen Kindern sah, als freundlichen, liebevollen Hausvater, den das lustige Töchterchen mit klugem Mutwillen in beste Laune setzte; auch die Frau war voll Güte, doch sehr gehalten, maßvoll und[270] verständig, im Praktischen gewiß nicht leicht zu irren noch umzugehen. Ich mußte von Hamburg erzählen und machte geflissentlich eine prächtige Beschreibung von dem Buchladen meines Freundes Perthes im Jungfernstieg, von der reizenden Lage, der schönen Einrichtung, den weiten Räumen und den aufgereihten kauffertigen Vorräten alles Neuen, Wertvollen und Anziehenden in- und ausländischer Literatur. Ich erweckte keinen Neid, im Gegenteil, das süßeste Behagen, daß man hier solchen Glanz nicht nötig habe und in der geringsten Einrichtung sich behelfe. Dabei leugnet Cotta seine Mittel nicht und macht immer neue Unternehmungen, gibt das größte Honorar, kauft Güter und Häuser, und in seinen Geschäften gedeiht alles bestens. Und wie klug spricht er über Literatur! Wie fein und tüchtig ist sein Urteil, wie erkennt er die Talente, wie genau weiß er anzugeben, wo und wie jedes im Publikum Anklang und Erfolg finden kann! So vortrefflich er die buchhändlerischen Interessen versteht, so sind sie ihm doch gar nicht das Höchste; er hat sein eignes Urteil, seinen eignen Geschmack. Wir sprachen von Heinrich von Kleists »Penthesilea«, die er verlegt hat; er war unzufrieden mit dem Erzeugnis und wollte das Buch gar nicht anzeigen, damit es nicht gefordert würde; überhaupt war er gegen die neuere Schule ergrimmt, und von Görres, Achim von Arnim und Clemens Brentano, die in Heidelberg durch die Einsiedlerzeitung ihm übel mitspielen, durfte man nicht reden, ohne daß er die Augenbraunen heftig zusammenzog und seine Kämpfer Weißer und Haug gegen sie anrief. Auch in politischen Urteilen fand ich ihn scharf und tüchtig, reich an Verknüpfungen, voraussehend, unerschrocken, gar wohl als tapferer Offizier zu denken. So sehr wir, besonders in literarischen Dingen, entgegengesetzter Meinungen waren, so leicht und friedlich tauschten wir diese aus; ich fühlte gleich ein volles Vertrauen zu ihm, das auch nicht unerwidert schien. Ich glaube, mir, dem Norddeutschen, zu Ehren wurde die Hausordnung verändert und Tee getrunken, um[271] 6 Uhr, dann aber auch unerbittlich geeilt zum Nachtessen, und um 9 Uhr fand ich, daß es hohe Zeit sei zu gehen; um 8 hatte schon der Nachtwächter gerufen; früher rief er um 7, aber der jetzige Ortsbeamte wollte es nicht mehr leiden.
Wir finden die Stadt mit ihren Straßen und Häusern abscheulich, ein schmutziges Nest, schwarz, klein, baufällig; die Stuben, die man uns anbietet, sehen schrecklich aus, mittelalterige Fensterchen, schiefe Fußböden, klapprige Türen; zwei Stühle, ein Tisch, ein Bett und einige Nägel, um Kleider oder auch sich selbst daran aufzuhängen, sind die Möbel. Was man verlangt, ist nicht zu haben, fremd, vom Hörensagen bekannt; man schämt sich, man scheint sich frech, so viele Ansprüche zu machen. Dagegen ist die Landschaft prächtig; das Neckartal und das Ammertal laden zu den schönsten Spaziergängen ein, die Hügel bieten die reichsten Aussichten, die ganze Gegend hat einen lieblich schwermütigen Charakter. Man zeigt ein Gartenhäuschen vor der Stadt, wo Wieland gedichtet haben soll. Wie reizend fänden wir dieses Stück Natur, wie genügend diesen beschränkten Umfang, könnten wir unser berlinisch Leben darin fortführen!
Tübingen, Mittwoch, den 16. November 1808
Nun haben wir schon mehrere Bekanntschaften gemacht. Ein Mediziner, der nächstens als Arzt in seine Vaterstadt Frankfurt am Main zurückkehrt, klein, gewandt, rotbäckig, Philosophie und Poesie verächtlich belächelnd, aber eifrig fürs Praktische, streng auf sein Fach versessen und wohlbeschlagen fürs Examen, kurz, einer von der infamen Race, die man hoffnungsvolle Jünglinge und später Ehrenmänner nennt, will sich unsrer annehmen und uns mit dem Neste, wo er sich so gut hat flügge werden lassen, aussöhnen. Wir aber wollen nichts mit ihm und seinem Gelichter zu tun haben! Er war uns aber doch schon willkommene Brücke zur Bekanntschaft mit einem andern jungen Mann, mit Justinus Kerner, einem jüngern Bruder[272] des Arztes in Hamburg, Dichter, von dem einige Lieder in der Einsiedlerzeitung gedruckt sind; er ist ein unschuldiges kindliches Gemüt, äußerlich vernachlässigt, innerlich dem Höheren zugewandt; wir verstehen uns aber wenig, er kennt nur sein Schwaben. Auch einen Freund von ihm, Ludwig Uhland, ebenfalls Dichter, hab ich gesehen und gesprochen.
Wir waren bei Kielmeyer und Autenrieth, nun die Männer bedürfen unsres Lobes nicht, aber – es ist doch alles anders, als wir dachten. Autenrieths Klinikum ist vortrefflich, eine lebendige Darstellung, scharfsinnig, eindringlich belehrend; doch die Anstalt ist klein, erst im Entstehen, und er selbst wundert sich, daß Reil und andre solche Ratgeber uns hieher gewiesen haben. Indes könnten wir sehr zweckmäßig unser Studium hier vollenden, zu lernen gäbe es genug, und Ruhe und Stille zum Fleiß fehlte nicht. Nun wir aber an der Schwelle stehen, zaudern wir, erschrecken, wenden uns ab! Wir verzweifeln an unserm Beruf, an dieser Bahn wenigstens, wo wir von allem Leben, das erfreut und erhebt, abgeschnitten sind. Wir haben schon zuviel gehabt, um jetzt alles zu entbehren, gesellige Anregung, reizenden Umgang, Kunst, große Tagesstoffe der Verhandlung, der Betrachtung. Harscher könnte noch eher sich in Studien einspinnen, seine Ideen können auch in der Einsamkeit gesund reifen, er ist weniger auf das Leben in und mit der Welt beschränkt als ich; beschränkt, das ist der Ausdruck, denn angewiesen darauf ist er vielleicht weit mehr als ich. Aber auch er will es nicht aushalten, will aus diesem Loch, in das wir gefallen sind, sich um jeden Preis hinausretten. Wir haben schreckliche Tage unter wechselseitigen Bekenntnissen, unter Beraten und Überlegen hingebracht, die innern Strebungen geprüft, die äußeren Umstände erörtert, die Möglichkeiten berechnet; das Ergebnis dieser großen Krisis war: fürerst weg! Was nachher zu tun, das bleibt leider noch verwickelt genug, besonders für mich, der ich von Ursprung an in widerstreitenden Bezügen gerungen habe, zurückgehalten von diesen, fortgerissen von andern, verspätet[273] und verfrüht zugleich! Harscher nun, so nah der Heimat, wo er doch auch vieles zu ordnen hat, geht in diesen Tagen nach Basel; dort wird er sich besinnen, neue Plane anlegen, die meinigen erwarten. Ich, zu weit von Berlin und Hamburg, bin für den Winter hier gefangen! Doch sobald meine jetzt erschöpften Hülfsquellen wieder etwas gewachsen sind, was zum Frühjahr gewiß geschieht, aber auch vielleicht früher, mache ich mich auf und eile, wohin das Herz begehrt! Wo das sein wird? Ich weiß es selbst nicht; jeder Ort, jede Lage, jede Tätigkeit ist mir recht – wenn sich das eine mir erfüllt! Wien steht uns wohl im Sinn, aber auch Paris. Leider schwank ich nicht allein, alle schwanken und jeder nach andern Richtungen, mit andern Aussichten; wo kein Punkt fest ist, alles nur in fortwährender Bewegung sich gegenseitig bedingen soll, da ist schwer eine Verknüpfung zu treffen. Doch gibt uns der neuste Entschluß wieder Mut, wir sind die Stockung im Innern los. Tadelt nur Harschern nicht, daß er mich allein läßt! Ich selbst habe ihn mit aller Überredung dazu gedrängt. Auch ich bin dadurch freier.
Tübingen, Ende Novembers 1808
Harscher ist längst in Basel und ladet mich ein, zu ihm zu kommen, im elterlichen Hause mit ihm zu wohnen, zu leben. – Hier hat sich Justinus Kerner sehr an mich angeschlossen, und auch Ludwig Uhland hab ich nun erst recht kennengelernt. Zwei liebe, herrliche Menschen, echte, ursprüngliche Seelen, reich begabt mit innrem Leben und äußerem Talent. Mein ihnen durch die Almanachspoesien schon bekannter Name, jene unreifen, vergessenen Gedichte sind es, die mir diese neuen Freunde verschafft, aus diesem geringen Faden spann sich die schönste Verbindung. Die uns damals wegen unsres kecken Auftretens tadelten, dachten nur an den Gewinn der Literatur, wir freilich auch, aber der Lebensgewinn ist ein ganz anderer, und wie reich ist uns der aus jenen jugendlichen Strebungen aufgegangen![274] Ein Trost für schlechte Poeten, für schlechte Schriftsteller, aber in der Tat ein Trost, sobald nur wirklich der Gewinn erlangt wird.
Von Uhland brachte mir Kerner ein ganzes Päckchen handschriftlicher Gedichte. Da tauchte mir wirklich die Seele in frische Dichtungsflut! Seine Lieder sind goethisch; das heißt aber nicht Goethen nachgeahmt, sondern in gleichem Werte mit dessen Liedern: ebenso wahr und rein, so frisch und süß! Uhland behilft sich nie mit Worten und Redensarten; nur das Gefühl spricht und die Anschauung, daher ist sein Ausdruck immer echt. Die Natur, die ihn umgibt, die Vorzeit, deren Sage er verhallen hört, bezeichnen den Kreis seiner Dichtung, aber sein Geist ist doch aus unserer Zeit, sein Gemüt umfaßt die ganze Bildung derselben, und so ist er der Auffassung und Wirkung nach durchaus modern. Seine gedrungene Kürze macht mich bisweilen aufjauchzen. Vaterlands- und Freiheitsliebe durchströmen ihn, und auch dies macht ihn mir wert. Ich schicke euch einige Lieder von ihm; »Des Knaben Berglied« und »Die drei Lieder« gefallen euch gewiß. Auch eine Stelle aus einer Dichtung in Prosa stehe hier; von einer Geliebten wird gesagt: »Sie war der Glanz meiner Jugendtage; des Morgens Morgenstern, des Abends Abendrot. Ein Kuß von ihr! ein Abschiedskuß! Und sind wir uns nicht bestimmt fürs Leben, so mögen wir uns doch bestimmt sein für einen Kuß. Und drängt sich in einen solchen Kuß nicht eines Lebens Lust und Schmach?« – Umgang hab ich nicht viel mit ihm, und nur durch Kerners Vermittelung, denn er ist der entschlossenste, hartnäckigste Schweiger, der mir noch vorgekommen, er übertrifft unsern Bekker sogar! Keine Verlegenheit, keine Angst wirkt auf ihn, er wartet es ab, was draus werden möge, und schweigt. Redet er aber, so ist, was er sagt, gediegen, klar, zweckmäßig und möglichst kurz; ohne alle Absicht und Ziererei ist es so, aus freier Natur heraus. Ist das nicht schön? Und so ist der ganze Mensch. Seine Redlichkeit, Hochherzigkeit und Treue preist[275] jeder, der ihn kennt, als unerschütterlich und probehaltig. Er wird nächstens die Universität verlassen und eine Reise nach Paris unternehmen. Er ist im ganzen nicht rauh und herb, aber wo er es ist, werden ihn die Franzosen nicht glätten und gesprächig machen noch weniger.
Nun muß ich aber auch von Kerner mancherlei erzählen! Auch er ist nicht nach unsrer norddeutschen Weise gebildet und gesprächig, aber den guten Willen hat er, sich anzuschmiegen und mitzuteilen. Mich beruhigt es, jemand in meiner Nähe zu haben – denn wir wohnen in demselben Hause –, der sich so wohlwollend und teilnehmend bezeigt, und mich freut es jedesmal, wenn der liebe, treue Mensch abends zu mir hereintritt und an meinem Tische seine Dissertation schreibt, während ich an meinen Sachen fortarbeite, als wäre niemand zugegen. Später sieht er dann mit Bewunderung, wie ich Tee trinke anstatt des Schoppen Weins, der den Leuten hier so wohlschmeckt, und wir plaudern dann offen und frei über alles mögliche. Daß mir Tübingen nicht behagt und daß ich so manche bittre Bemerkung ausstoße, ist ihm eine wahre Herzenskränkung; er sieht wohl meistens ein, daß mein Tadel nicht ohne Grund ist, er erkennt in manchen Fällen sogar seine eigne Unzufriedenheit wieder, allein er will ihn doch nicht leiden und nimmt ihm wenigstens das Bittre, indem er den besten Humor daraus macht. Er hat den lebendigsten Sinn für Scherz, für alles Komische und Barocke und eine Art von Leidenschaft, dasselbe ans Licht zu bringen und zu fördern. Da er es mit der Einsiedlerzeitung hält, so hat er deren Gegner, die Herausgeber des »Morgenblattes« und Cottan selbst, durch manchen launigen Einfall geärgert. Jedoch ist seine Gesinnung, wie die seines Freundes Uhland, durchaus rein, unzerstörbar rechtschaffen, edel, tapfer und so menschenfreundlich, gutmütig und zutraulich, daß er wohl nie jemanden aus freien Stücken gekränkt und immer gleich verziehen hat, wo er der Gekränkte war. Früher sollte er in Ludwigsburg die Handlung lernen, dann kam er zur Universität,[276] er folgte der Bestimmung, die man ihm gab, empfand weder Vorliebe noch Abneigung; er meint, es sei so wenig Freude in der Welt, daß man nur eben etwas – gleichviel was – tun müsse, damit die Zeit verstreiche und so das ganze Leben; den Vorteil hat er, daß, wie ihn nichts sonderlich freut, ihn auch nichts eigentlich schmerzt, und so lebt er munter und harmlos fort. Die vier Jahre, die er nun hier studiert, hat er ohne Anstrengung, doch mit großem Fleiße benutzt, außerordentlich viel gelernt und auch schon Kranke mit Geschicklichkeit und Erfolg behandelt. Sobald er Doktor geworden, reist er nach Hamburg und von da nach Kopenhagen oder Wien; auf ihn werden die großen Städte schon wirken! Zu seiner Dissertation hat er Bemerkungen über das Gehör gewählt und deshalb ganz neue Versuche mit Tieren angestellt. In seiner Stube lebt er mit Hunden, Katzen, Hühnern, Gänsen, Eulen, Eichhörnchen, Kröten, Eidechsen, Mäusen und wer weiß was noch sonst für Getier ganz freundschaftlich zusammen und hat nur seine Not, Tür und Fenster zu verwahren, daß ihm die Gäste nicht entschlüpfen; ob seine Bücher oder Kleider in Gefahr sind, ob ihn ein Tier im Schlaf anschnopert oder unversehens aufgeschreckt nach ihm beißt, das kümmert ihn nicht. Seine Versuche sind schlau und sinnreich, und er sucht alle Quälereien zu vermeiden. Überhaupt steht er der Natur sehr nah und besonders ihrer dunklen Seite. Seine Augen haben etwas Geisterhaftes und Frommes; sein Herz kann er willkürlich schneller schlagen machen, aber es nicht ebenso wieder hemmen; die Erscheinungen, welche neulich Ritter an Campetti beobachtet hat, die Pendelschwingungen des Ringes am seidnen Faden, das Umdrehen des Schlüssels mit dem Buche und alles dergleichen zauberhaft Magnetisches tritt bei ihm in auffallender Stärke hervor. Er selbst hat etwas Somnambüles, das ihn auch im Scherz und Lachen begleitet. Er kann lange sinnen und träumen und dann plötzlich auffahren, wo dann der Schreck der andern ihm gleich wieder zum Scherze dient. Wahnsinnige kann er[277] nachmachen, daß man zusammenschaudert, und obwohl er dies possenhaft beginnt, so ist ihm doch im Verlauf nicht possenhaft dabei zumut. In der Poesie ist ihm das Wunderbare der Volksromane, der einfache Laut und die rohe Kraft der Volkslieder am verwandtesten, Dichtungen höherer Art läßt er gelten, aber er begehrt ihrer nicht; so spricht er auch mit Vorliebe die rohe Landesmundart, will sie nicht ablegen und verstockt sich wohl gar gegen die Schriftsprache. Der Sinn für gebildete Kunst tritt zurück; in der Musik hat er sich die Maultrommel angeeignet und weiß dem geringen und doch wunderlichen Instrument die zartesten und rührendsten Töne zu entlocken. Nun denkt euch noch die einfachste, ganz vernachlässigte Kleidung, völlige Gleichgültigkeit gegen die Dinge, mit denen man sich berührt, vorgebeugte Haltung, ungleichen, ungraden Gang, eine stete Neigung, sich anzulehnen oder niederzulegen, wie er denn lieber auf einem Stuhl unbequem liegt als bequem sitzt, und bei allem diesen einen doch schlanken, wohlgewachsenen, ganz hübschen Jungen – so habt ihr ein vollständiges Bild meines Kerners.
Vor einigen Tagen fuhr ich mit Kerner nach Reutlingen, zwei Stunden von hier, wo die Volksbücher und Volkslieder in Menge gedruckt werden. Der Tag war nicht ganz schlecht, die Landstraße noch gut, ungeachtet des vielen gefallenen Regens, und der Posthalter gab uns sehr gute Pferde. Die Fahrt machte mich ganz heiter, und als wir nur eben zum Tor hinaus im Freien waren, mußte ich in laute Freudenbezeigungen ausbrechen. Die schwarzblauen Berge stachen scharf gegen den Himmel ab, und die vielgezackten Gipfel durchbrachen mit ihrem dunklen Ernst überall die dünnen Wolkenwogen, welche um sie her spielten. Nachdem wir das Neckartal verlassen, eröffneten sich neue schönere Berggegenden, und Reutlingen lag vor uns, am Fuß eines hohen Berges, der die Ruinen der Burg Achalm trägt, deren Grafen einst mit denen von Tübingen harte Kriege geführt und zuletzt den kürzern gezogen haben. Schnell waren wir in[278] der Stadt; alles in diesem Schwaben ist so gedrängt und nah, kaum ist ein Gegenstand ersehen, so ist er auch schon erreicht! Eine Freude war mir's, nach Tübingen wieder eine solche Stadt zu sehen, die ordentliche Häuser hat, sehr gute Straßen, große Kirchen und eine zahlreiche, betriebsame, wohlhabende Einwohnerschaft, deren Schlag mir hübscher vorkommt als der Tübinger, falls nicht die ersten Gesichter mich irreführten. An allem sieht man noch jetzt, daß Reutlingen eine Freie Reichsstadt war und daß die Früchte der Freiheit ihr in Handel, Gewerbfleiß, Gemeinsinn und Volksbildung nicht fehlten, denn was da ist, ist von sonst. Die Stadt hat etwa 10000 Einwohner, die sich durch Arbeitsamkeit auszeichnen, ehemals den eifrigsten Anteil an dem ganz demokratischen Gemeinwesen hatten und ihre jährlichen Magistratspersonen frei wählten; daß sie auch kriegerisch in früherer Zeit gewesen, bezeugen die hohen Mauern, festen Türme und tiefen Gräben, welche die Stadt umziehen. Es war, als ob die Leute mir die schmerzlichen Empfindungen ansähen, mit denen der Anblick einer untergegangenen Reichsstadt mich jedesmal erfüllt; denn auch hier schütteten sie ihre bittern Klagen über die erlittene Veränderung vertrauenvoll gegen mich aus. Die armen Leute sehen die Franzosen als die allgemeinen Unheilsstifter an, die ehmals Freiheit mit Worten verkündigt, in der Tat aber überall Herren eingesetzt hätten, und nun gäbe es gar doppelte Herrschaft, denn die Franzosen drückten schwer auf die Fürsten und diese dann um so schwerer auf das Volk. Im ganzen Rheinbunde herrschte diese Unzufriedenheit, der französische Einfluß macht überall die Regierungen dem Volke fremd, und dieses steht nirgends mit ihnen in einer gemeinsamen, einträchtigen Masse vereint. Wunderbar stellen sich damit die neuen preußischen Anordnungen in Gegensatz, von denen die Leute mit Begier in den Zeitungen lesen, wie den Bürgern Anteil an der Verwaltung ihres Gemeinwesens, Wahl ihrer Vertreter, dem ganzen Volke Waffen und Sprache verliehen werden; ja[279] daß zu dem ganzen Volke geredet werden soll, wenn auch meines Bedünkens nicht grade durch den besten Mund, doch gewiß im besten Sinne – die Zeitungen melden von einer Adresse an die Preußen, die der Geheimrat Schmalz beauftragt sei abzufassen. Ich habe hier, wie schon früher in Franken, die regste Teilnahme und ein festes Vertrauen für Preußen wahrgenommen, dessen Unglücksfälle niemand als letzte Entscheidungen ansehen will. – Es fiel Regen ein, der uns hinderte, die Merkwürdigkeiten der Stadt einzeln durchzugehen. Wir besuchten aber den berühmten Buchdrucker Justus Fleischhauer, wo wir uns mit Volksbüchern und Liedern wohl versahen. Der Nachdrucker, der zunächst am Volke steht, für dessen Bedürfnis wohlfeile und geringe Ausgaben liefert, ist für Kerner der eigentliche Buchhändler, mehr als der ordentliche für Gelehrte und Gebildete sorgende Verleger, und der Name Fleischhauer macht ihm einen bessern Eindruck als alle Cotta, Göschen und Perthes. Er liebt die Nachdrucker, wie man Zigeuner liebt, aus dem romantischen, gesetzlosen Hang im Menschen, wobei man doch nicht ansteht, erforderlichen Falles gegen die Lieblinge es mit der ordentlichen Obrigkeit zu halten. Unser Mann erzählte, seit die Stadt königlich geworden, habe sich sein Absatz ungemein beschränkt, auch dürfe mancher beliebte Artikel nicht wieder aufgelegt werden. Auf die Frage, ob bei neuem Abdruck der Volksbücher nie etwas verändert, sondern der alte Text treu wiedergegeben würde, versetzte der Mann, unsre Meinung mißverstehend, er würde gern manches ändern, aber es sei dazu keine Zeit übrig. »Gottlob!« seufzte Kerner, »haben Sie nur immer recht viel zu tun!« Diese warme Teilnahme für sein gewerbliches Gedeihen nahm der Mann mit gerührter Dankbarkeit auf. Kerner versprach ihm noch den hier nicht mehr vorfindlichen und überhaupt seltnen »Ritter Pontus« zum neuen Abdruck, und ich empfahl ihm den in Berlin bei Litfaß herausgekommenen »Werther«. Er versprach, beides zu drucken. Eigentlich hält er uns, die wir doch Tübinger Gelehrte[280] vorstellen, für etwas närrisch, daß wir uns mit seinem Löschpapier befassen und um seine Ausgaben kümmern. Daß auf unsrer Rechnung der »Kaiser Oktavianus« wie ein bloßes Format als 8vian angesetzt war, darüber hatte Kerner unendliches Vergnügen! – Die Rückfahrt geschah in dunkler Nacht, bei kaltem Regen, wir fuhren aber gut, und auch das war ein Vergnügen. – Die Briefe von Rahel sind jetzt mein einziger Trost. Was sie mir schreibt, erfüllt meine Seele mit Vertrauen und Stärke. Mir ist, als wär ich erst durch sie zur Tageshelle gekommen, als hätte ich bis dahin nur Dämmerung gekannt. Besonders ist der ältere Briefwechsel, den sie mir geschenkt, reich an starkem Ausdruck des Lebens, aus den höchsten ethischen Standpunkten, in reichster Wahrheitsglut. Harscher, mit dem ich zuletzt noch viele Blätter las, auch einige aus den neuesten Briefen an mich, wußte nicht genug zu preisen, welch Glück mir geworden, und begriff nicht, nach diesem Lesen besonders nicht, wie ich mich von Rahel habe trennen können.
Tübingen, Donnerstag, den 1. Dezember 1808
Nach einem zerstreuten, unnütz verbrachten Abend nahm ich den »Wilhelm Meister« und las ein ziemliches Stück. O wie wohl tat mir die edle, klare, lebendige Darstellung. Es war, als hörte ich eine schöne, kräftige Troststimme in der Brust, als fühlte ich eine sanfte streichende Hand auf den Augen, als flösse der Tag wieder in silbernen Wellen, getrübt bisher zur dunklen, trägen Flut. Nie hat mich der »Meister« so entzückt wie bei dem diesmaligen Lesen, er rührt mich innig und reißt mich zu staunender Bewunderung hin; ich entdeckte, indem ich die alten bekannten Züge schärfer fasse, tausend neue. Den Stil studier ich bis ins genaueste Detail hinein, und mich dünkt, daß ich ihn sehr gut kenne. Ich weiß ihm nichts an die Seite zu stellen, im Deutschen nichts, denn wenn ich in Berlin bisweilen gelten ließ, daß Harscher die »Weihnachtsfeier« von Schleiermacher als etwas Ähnliches pries, so dünkt mich[281] jetzt diese Prosa gegen jene doch nur wie eine affektierte Melina neben der anmutigen Philine. Und dieser Zauber der Vortrefflichkeit, dieser wunderbare Lichtreiz erscheint mir am stärksten, indem ich darauf ausgehe – ihr werdet es kaum glauben –, Schwächen und Lücken in dem Buche aufzuspüren, die ich auch – werdet ihr es glauben? – reichlich finde und aufzeichne. Es ist aber, als ob die Einsicht in diese Schwächen auch die Vorzüge heller strahlen machte. Mir ist, als wandelte ich an einem Feiertage durch die kunstreiche, geheimnisvolle Werkstatt des Dichters, sähe seine Arbeit auf allen ihren Stufen, vom rohen Stoffe, wie er daliegt, bis zum feinsten Gebild, in das er verarbeitet worden, sähe die Werkzeuge und Hülfsmittel, deren er sich bedient, und könnte ihm sein ganzes Verfahren absehen und es so gut wie er machen – wenn er mir zu allem diesen nur noch ein bißchen seinen Kopf und seine Hand leihen wollte! – Verlacht mich nicht, aber meine Sinnesart führt mich immerfort in solche Untersuchungen, wobei viel einzelnes genau zu betrachten ist; sogar die Übersicht eines Ganzen und seiner Gliederung gewinn ich meist nur auf diese Weise, und ich finde nach dem absichtlichen Aufmerken auf das einzelne auch mein Verständnis der ganzen Gestalt und ihrer Bedeutung erhöht. – Ich lese aber auch, weil ich ihn doch persönlich kennengelernt, jetzt viel in Jean Paul Richter. Aus dem »Hesperus«, den ich eben vorhabe, hängen eine Menge bunter Papierstreifen, die als Abfall ausgeschnittener Bilderchen auf meinem Tische lagen, als Zeichen und Freudenbänder schöner Stellen heraus; die Bilderchen waren für Jean Pauls Kinder, und so gibt er mir Geschenk für Geschenk zurück, daß ich beinah sagen kann, diese Stelle sei der Dank für dieses Bildchen. Wie aus Jean Pauls Zettelkasten, nicht wahr?
Tübingen, Freitag, den 9. Dezember 1808
Ich habe mit Kerner einen Abend und eine Nacht verlebt, an die ich gedenken werde. Aus Cottas Laden hatte ich[282] die eben erschienene »Theorie der Geisterkunde« von Jung-Stilling mitgebracht, das Titelbild, die Weiße Frau vorstellend, machte schon einen unheimlichen Eindruck, und als Kerner abends zu mir kam, reizte uns der schauerliche Inhalt. Es ist merkwürdig, wie Jung sich zugleich als schlechter Denker und als geschickter Darsteller zeigt. Sein rastloser, gläubiger Eifer, die wirkliche Frömmigkeit, mit der er schlechthin alles auf den Buchstaben des Christentums zurückführt, alle geselligen und politischen Ereignisse davon abhängig macht, das Feuer seiner Überzeugung, alles dies reißt unsern Glauben auf einen Augenblick hin, und unsre Phantasie nimmt er aufs ungeheuerste dadurch ein, daß er alles, was für sie gelten soll, grade als die barste Wirklichkeit nicht ihr, sondern der sinnlichen Anschauung aufdrängt. Wer dürfte alles, was er erzählt, Täuschung nennen, aber in einigen Stücken ist doch der plumpe Aberglauben handgreiflich! Die Erscheinungen des Magnetismus muß man am meisten zugestehen, doch sind das dunkle Regionen, mit denen sich der besonnene, dem Tage zugewandte Geist nicht gern befaßt, sondern sie den Forschern überläßt, die dazu durch Naturanlage begünstigt sind. Jung war Arzt, indes, davon kommt dem Buche nichts zugut, als daß er bei manchen Wundern zweifelt und sie als Verirrungen des Aberglaubens verwirft. Aber seine willkürlichen Vorstellungen vom bläulichen Dunstkreis der Seele, vom Hades und andres dergleichen stellt er als unzweifelhafte Naturwahrheiten hin. Seine Gläubigkeit ist rührend, seine Absicht sehr redlich, nur hat er nicht frische Geisteskraft und scharfen Verstand genug, um die wahre Bahn zwischen Unglauben und Aberglauben zu bestimmen. Wir lasen und merkten auf, prüften, lachten, verwarfen, wurden nachdenklich und endlich von einer Geschichte nach der andern so übernommen, durch die wiederholte Terminologie und die sich steigernde Aufdringlichkeit dieses ganzen Geisterspuks dergestalt befangen, daß wir nach Mitternacht todschläfrig und aufgereizt in banger Verstimmung einander gegenüber saßen[283] und uns von Zeit zu Zeit ansahen, ob wir's auch noch wären und nichts Geisterhaftes ein Spiel mit uns treibe! Wir verwünschten das Buch, billigten die Baseler Regierung, die es weislich verboten, konnten aber aus der Gewalt seiner Schauer nicht los, fürchteten, einzeln und einsam dieser noch mehr zu verfallen, und beschlossen, die Nacht beisammen zu bleiben; Kerner hatte nur wenige Schritte über einen Flur und eine Treppe hinab zu seinem Zimmer, allein er mochte nicht fortgehen, und ich bat ihn, mich nicht zu verlassen. Spät und verstört schliefen wir ein, und ein unerfreuliches Erwachen trug noch die Spuren der unseligen Lukubration!
Dieses Württemberg ist recht die Heimat des Spuk-und Gespensterwesens, der Wunder des Seelenlebens und der Traumwelt. Die Einbildungskraft der Schwaben hat dafür eine außerordentliche Empfänglichkeit, ihre Nerven sind nach dieser Richtung besonders ausgebildet. Das Land ist gepfropft voll von Sagen, Prophezeiungen, Wundern, Seltsamkeiten dieser Art. Die Physiognomie des Bodens trägt gewiß das ihrige dazu bei, sie spricht im allgemeinen das Gemüt tief an, man fühlt sich einsam und wie aus der Welt geschieden in diesen beschränkten Talstrecken und auf diesen mäßigen Höhenzügen; überall trifft der Blick auf zerstörte Burgen, einsame Kapellen, man wird an ein vergangnes Leben erinnert, zwischen dessen Trümmern sich die Gegenwart kleinlich ausnimmt. Tübingen besonders hat in seinem Örtlichen etwas Ahndungsvolles, Seltsames, und es gibt Hügelecken und Talwindungen, wo man am hellen Mittag irgendeine Unheimlichkeit argwöhnen könnte. Sonderbar ist es, daß gegen diese Stimmung des Landes und der Einwohner die Wirksamkeit des Protestantismus, der hier in den trefflichsten Anstalten und Geistlichen eine unaufhörliche Quelle tief in das Volk dringender Bildung ist, bisher nichts vermocht hat.
Kerner ist nun in diesen Richtungen der wahre Ausdruck seines Landes und Volkes, nur emporgehoben aus der[284] untersten Region in eine höhere, wo wissenschaftliche Einsicht und dichterische Phantasie zu dem Volkstümlichen sich mischen. Seine Natur wirkt so entschieden, daß in seiner Gegenwart mehr möglich scheint als sonst, daß die Empfänglichkeit andrer Gemüter durch ihn wächst. Er hat selbst einmal – voriges Jahr am Weihnachtsabend – etwas Seltsames erlebt. Es war tief im Winter, und er saß mit einem Freunde, einem freisinnigen, aufgeklärten Menschen, abends bei Licht auf seiner Stube, eine Gitarre lag zur Hand, und er fing an, darauf zu spielen. Während des Spielens fühlte er eine wunderbare Beklommenheit, die schnell zunahm, er war in einem unbegreiflichen Zustand, den er nie vorher gekannt, ihm fehlte jeder Maßstab und jeder Ausdruck für seine Empfindung, die dadurch noch fürchterlicher wurde, daß er ganz deutlich sah, wie sein Freund, von ähnlichem Ein druck erfüllt, ganz erschrocken über ihn hinaufblickte; jetzt war ihm, als drücke von oben her eine schwere Masse ihn gewaltsam nieder, und in demselben Augenblicke, als die fürchterliche Angst aufs höchste gestiegen war, sprang der Freund auf, schrie voll Entsetzen: »O Jesus, Kerner!« und stürzte zur Tür hinaus. Kerner fiel hin und lag eine Weile besinnungslos, nicht durch den Schreck, wie er ausdrücklich sagt, sondern durch die davon unabhängige Steigerung seines innern Zustandes. Als er zu sich kam, verließ er eiligst das Zimmer und ging einige Zeit im Freien umher; die sternenhelle Winternacht erquickte ihn, und er konnte, als er in seine Stube zurückgekehrt war, ruhig einschlafen. Am Morgen traf er mit dem Freunde zusammen, beide waren verlegen, doch endlich erzählte der Freund, noch ganz angegriffen und erschaudernd vor der Erinnerung, es sei ihm vorgekommen, als habe über Kerners Kopf, während des Spielens, sich eine Gestalt undeutlich gebildet und sei dann längs der Wand hingezogen. Kerner wußte nur, daß ihm unendlich weh gewesen, mit den Gitarrentönen seine Angst wie von oben her vermehrt worden, ihm dann plötzlich so kalt und alles umher licht[285] und hell gewesen sei. Kein äußrer Umstand, der zur Erklärung hätte dienen können, war aufzufinden, das Licht hatte Kerner bei der Wiederkehr erloschen gefunden, die Luft nicht beengt. Sie wußten sich einander keine Rechenschaft von ihrer Empfindung zu geben, die Worte fehlten ihnen. »Mer hänn nicks schwätze könne«, sagte mir Kerner mehrmals, indem er seine Erzählung beschloß, die ihn selber noch jetzt heftig angriff und ihm fürchterlich war. Die Empfindung, meinte er, sei so schrecklich gewesen, daß er davon auf der Stelle hätte tot bleiben oder wahnsinnig werden können; vorher war er sehr lustig und guter Dinge, in den Tagen nachher aber fühlte er sich krank, bekam eine Art von Veitstanz und mußte längere Zeit unter ärztlicher Behandlung bleiben. Er will auch jetzt noch die ganze Geschichte nur als Krankheit angesehen wissen und verwirft jede geistergläubige Deutung, obwohl er die wunderbare Erscheinung sich nicht wegstreiten kann. Fast gereut ihn, die Sache mir erzählt und dadurch sie wieder so lebhaft in sich aufgerufen zu haben.
Tübingen, Donnerstag, den 29. Dezember 1808
Hier hat sich noch ein Poet eingefunden, mit dem ich bei Cotta einen Abend zugebracht habe. Es ist der Däne Jens Baggesen, der mir auf das Wort von Voß, Erhard und andern bisher viel galt und der mir nun auf sein eignes wenig gilt. Er kommt von Paris, hat gegen Napoleon einen politischen »Faust« gedichtet, den er natürlich nicht kann drucken lassen, macht Spottgedichte gegen die deutschen Romantiker, will sogar von Goethe wenig wissen und meint, man sei ein Dichter, wenn man sich selbstgefällig über alles erhebt und von Voß die Schmiedearbeit deutscher Hexameter gelernt hat! Er ist grenzenlos eitel, trägt sich immer vor, paßt sich alte Anekdoten und Geschichten an, sucht Effekt darin zu machen, und das läuft bisweilen so schal und kläglich ab, daß ich mich für ihn schäme. Er tut sehr wichtig damit, daß er die französischen Sachen und die[286] bedeutenden Personen in Paris einigermaßen kennt, spricht von seinen großen Verbindungen, Planen, sogar Gefahren. Cottan hat er ganz für sich eingenommen und die Frau gleichfalls. Sie sind beide geschmeichelt durch die Art, wie er sich um ihren Beifall bewirbt, und Cotta findet, daß er Geist und Witz im Übermaß habe. Ich aber empfehle mich nicht durch meinen Witz, daß ich sage, sein »Faust« sei doch nur eine Faust in der Tasche! – Baggesen scheint in Stuttgart etwas zu suchen und einiger Gunst schon versichert zu sein, das wirkt auch bei Cotta mit, wie ich das schon in betreff Matthissons gesehen, der die entschiedene Vorliebe des Königs gewonnen und eine schöne Anstellung erhalten hat, weshalb ihm nun von allen Seiten auf die widerwärtigste Weise der Hof gemacht wird und er in poetischen und literarischen Dingen plötzlich eine Ministerautorität sein soll; das »Morgenblatt« ist da denn eifrig auf dem Platz und lächelt huldigend!
Zu einem andern Dichter hat mich Kerner geführt, zu einem Dichter im wahren vollen Sinne, einem echten Meister der Poesie, der aber nicht am Hofe zu suchen ist noch in Cottas Abendgesellschaft, sondern – im Irrenhaus. Wie ein Strafschauder traf es mich, als ich zuerst vernahm, Hölderlin lebe hier seit ein paar Jahren als Wahnsinniger! Der edle Dichter des »Hyperion« und so manches herrlichen Liedes voll Sehnsucht und Heldenmut hatte allerdings eine Übersetzung des Sophokles in Druck gegeben, die mir ziemlich toll vorgekommen war, aber nur literarisch toll, worin man bei uns sehr weit gehen kann, ohne grade wahnsinnig zu sein oder dafür gehalten zu werden. Diese Tollheit zu rügen war völlig erlaubt, und ich hatte mir für den Doppelroman zu den übrigen literarischen Figuren auch einen Übersetzer Wachholder ausgedacht, der wie Hölderlins Sophokles werden sollte. Nur durch Zufall unterblieb es, und wahrlich mir zum Heil! Denn mir wäre es ein schrecklicher Gedanke, einen Geisteskranken verspottet zu haben, ebenso schauderhaft wie eine Leiche prügeln zu wollen![287] Wie kläglich erscheint das irdische Beginnen, wie ohnmächtig der Haß und die Liebe gegen das unerreichbar Entrückte, wie heiligend der Tod und großes Unglück! Der Scherz gegen Hölderlin hätte freilich ihn selber nie berührt, wäre nicht böse gemeint gewesen, war in seiner Voraussetzung nicht unrecht einmal, und diese Voraussetzung war die argloseste! Aber doch ist es mir unendlich lieb, daß dieser Ausfall nicht geschah, ich fühlte mich wie einer großen Gefahr, einem tiefen Frevel entgangen. – Der arme Hölderlin! Er ist bei einem Schreiner in Kost und Aufsicht, der ihn gut hält, mit ihm spazierengeht, ihn soviel als nötig bewacht; denn sein Wahnsinn ist nicht grade gefährlich, nur darf man den Einfällen nicht trauen, die ihn plötzlich anwandeln könnten. Er raset nicht, aber spricht unaufhörlich aus seinen Einbildungen, glaubt sich von huldigenden Besuchern umgeben, streitet mit ihnen, horcht auf ihre Einwendungen, widerlegt sie mit größter Lebhaftigkeit, erwähnt großer Werke, die er geschrieben habe, andrer, die er jetzt schreibe, und all sein Wissen, seine Sprachkenntnis, seine Vertrautheit mit den Alten stehen ihm hiebei zu Gebot; selten aber fließt ein eigentümlicher Gedanke, eine geistreiche Verknüpfung in den Strom seiner Worte, die im ganzen nur gewöhnliches Irrereden sind. Als Ursache seines Wahnsinns wird ein schrecklicher Auftritt in Frankfurt am Main angegeben, wo er Hofmeister in einem reichen Hause war. Eine zarte, liebenswerte, unglückliche Frau würdigt den hohen Dichtergeist, das reine Gemüt des in seiner Lage gedrückten und verkannten Jünglings, es entsteht eine unschuldige Freundschaft, die aber dem rohesten Argwohn nicht entgeht, und Hölderlin wird tätlich mißhandelt, sieht auch die Freundin mißhandelt! Das brach ihm das Herz. Er wollte seinen Jammer in Arbeit vergraben, er übersetzte den Sophokles; der Verleger, der den ersten Teil drucken ließ und ausgab, ahndete nicht, daß in dem Buche schon manche Spur des Überganges zu finden sei, der in dem Verfasser leider nur allzubald sichtbar wurde.
[288]
Tübingen, Anfang Januars 1809
Ich lebe in der größten Einsamkeit. Ein paar Abende ausgenommen, von denen ich den einen sehr, langweilig bei Cotta, den andern angenehm bei Froriep zugebracht, bin ich gar nicht aus dem Hause gekommen. Bei Froriep ist es norddeutsch, Halle und Berlin klingen mir dort nach, ich bin in heimatlicher Luft, auch freuen mich die Kinder sehr, die mich öfters besuchen. Man bleibt bei Froriep bis in die Nacht hinein, das heißt bis nach 10 Uhr, freilich auf die Gefahr, als Nachtschwärmer auf der Straße dem Wächter aufzufallen.
Tübingen, Mitte Januars 1809
Kerner, der nach seiner ehrenvollen Doktorpromotion gleich nach Hause gereist war, ist wiedergekommen, jetzt aber leider krank. Ich bin die Abende immer bei ihm. Autenrieth ist sein Arzt und bleibt auch ganze Stunden. Da gibt es die lebhaftesten Gespräche; die romantische Schule, die Naturphilosophie und vor allem das »Wunderhorn« werden schrecklich angegriffen, hartnäckig verteidigt. Autenrieth ist voll schwäbischer Phantasie und Laune, da er aber auch großen Verstand besitzt, und der ihn mißtrauisch gegen sein Naturell macht, so hat er dieses jenem ganz dienstbar untergeordnet, und nun streiten diese muntern Kräfte wider das, was ihnen eigentlich befreundet ist. Ich habe ihm das einmal bewiesen, daß sein Eifer gegen die Volkslieder nur versteckte Freude an ihnen ist, und er lachte sehr vergnügt darüber. Ein paar junge Tübinger, Pregizer und Köstlin, nehmen warmen Anteil an diesen Verhandlungen, für Kerner sind sie stärkende Arznei; Uhland schweigt in schroffem Ernst, und seine Gegenwart verhindert uns auch wohl, die streitigen Meinungen allzu stark hervorzurufen.
Tübingen, Donnerstag, den 16. Februar 1809
Ich konnte heute nicht schreiben, das Frühlingswetter hatte in meine Brust wie in einen jungen Baum seine Unruhe[289] getrieben; der Tag war ein verkündender, noch nicht selber schön, aber schöne Nachfolger verheißend. Ich eilte vor das Tor hinaus, in das freie Neckartal. Indem ich durch die schmutzigen, engen Straßen ging, und nachher, als ich draußen auf die Stadt zurückblickte, fühlte ich deutlich, daß der Ort mir doch schon lieb geworden, daß ich den Aufenthalt, den ich hier gemacht, und alle Zweifel und Schmerzen, die ich hier durchgekämpft, doch nicht entbehren möchte in meinem Leben. – Die nahe Abreise nahm mir heute die Angst, das Tal war mir kein Kerker mehr, der Sinn konnte sich frei ergehen und sich jedem lieben Eindruck überlassen. Die Luft war warm und still, die Gegend hell, die Landstraßen fest und trocken und sehr belebt. Rings am Himmel stand doch viel Gewölk, aber klein, still und vielfarbig in mattem Glanz; die Wolken schienen sich nur zu bewegen, um sich in einen zarten weißen Flockenschleier über die Himmelsbläue langsam auszubreiten; seine Nebelfäden schwammen hoch im weiten Blau, und unten um die fernen Berge löste sich das dichtere Gewölk sanft in duftigen Nebel auf, der spielend heranwogte mit dem Abend. Längs einem Seitenbache des Neckars ging ich eine weite Strecke fort und freute mich meines Alleinseins, das mir auf Wanderungen immer behagt. Aber angekommen wär ich gern bei lieben Freunden, dieses Ziel fehlte mir! Und so mußt ich endlich den Rückweg nehmen und unter allmählichem Verstummen des vorher so lauten Herzens mich in die Stadt und in mein Zimmer zurückfinden, umdüstert von dickem Abendnebel, der dicht vor meinen Fenstern die schwarzen Dächer überschwebt. Als ich hinausging, sah ich Kürasse schmieden, auf dem Rückwege begegneten mir württembergische Reiter. So mahnt auch in dem friedlichen Tal schon manches an Krieg, der sich aus Osten und Westen allerdings in allerlei Zeichen drohend ankündigt!
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