Ungarn

1809

[332] Am andern Morgen fuhr ich mit frischem Vorspann aus Preßburg ab und weiter in Ungarn hinein; durch die Raschheit der Pferde, die Munterkeit und Kühnheit des jugendlichen Lenkers, dem die Unebenheiten eines willkürlichen Weges wenig Sorge machten, dann durch den Reiz eines mir neuen Landes eine ganz lustige Fahrt, welche den Eindruck der gestrigen Gespräche bald verwischte und mich das Abenteuer meines Lebens aufs neue in romantischem Schimmer betrachten ließ. In Tyrnau sah ich die ersten bedeutenden Scharen österreichischer Truppen und alle Eindrücke des Lagers von Wagram wieder, wobei mir ein schon völlig heimisches Gefühl das Herz erregte.

Der Empfang der Kameraden war überaus herzlich, und der einstweilige Kommandant des Regiments, Oberstlieutenant von Liezenmayer, ganz eingenommen von einem kurz vorher empfangenen Briefe, durch den ich meine nahe Rückkehr angemeldet hatte, wußte mir nicht genug Freundliches und Artiges zu erweisen; der Brief war den sämtlichen Offizieren vorgelesen worden und galt für ein Muster guten Ausdrucks; »geschickt in der Feder« war aber ein Lob, das allgemein in höchstem Werte stand und von dem einzelnen, der es empfing, auf die ganze Körperschaft, der er angehörte, überzugehen schien. Nach einigen Flittertagen, in denen ich alles seit der Trennung Erlebte getreulich mitgeteilt und dafür[332] das inzwischen bei dem Regiment Vorgefallene vernommen hatte, nahm die gewöhnliche Tagesweise mich in Anspruch, und ich fand mich in eine von allen Seiten beschränkte, in ihren Leistungen und Genüssen langweilige, durchaus unergiebige Lebensordnung abgeschlossen. Ein paar Ausflüge nach Tyrnau zu dem Fürsten von Reuß-Plauen ließen außer der gleichmäßigen Freundlichkeit desselben wenig in der Erinnerung. Oft besucht ich das Ufer der Waag; der reißende Strom stürzte seine wallenden Fluten durch weite Wiesenfläche, die, hin und wieder von Strauchwerk und Baumgruppen unterbrochen, eine malerische Wildnis erschien, wo mächtige Weidenstämme teils modernd am Boden lagen, teils in noch stehenden Trümmern üppig grünend abstarben; in dieser Einsamkeit, wo ich ungestört meinen Gedanken nachhing und die Augen an den starken Natureindrücken erfrischte, verbracht ich meine besten Stunden, oft in tiefer Wehmut, oft auch in kräftiger Ermutigung; mehr als hundertmal las ich hier, unter den Zweigen eines ungeheuern Weidenstumpfs, der wie ein Denkmal der Urzeit über die ganze Gegend hervorragte, die wenigen Briefblätter, die ich von Rahel noch bei mir führte, und steigerte das Andenken der Freundin so zur Gegenwart, daß ich mit ihr Gespräche zu haben, ihre Stimme zu hören, ihr Urteil und ihren Rat zu vernehmen glaubte; stets kehrte ich dann gestärkt heim, und meine Kameraden, die mich zufriedner und heiterer sahen, meinten mit Recht, ich müsse in der Nähe ein Geheimnis wünschenswerter Zusammenkünfte haben, deren Weg mir allein durch besondere Gunst eröffnet sei. Ich ließ ihre Vermutungen unberichtigt und suchte mich ihren Scherzen und Unterhaltungen, in denen die gute Meinung immer offen lag, soviel als möglich anzubequemen, so daß ich allen bei der größten Verschiedenheit der Ansicht, und des Benehmens doch im ganzen als ein guter Kamerad galt und gehalten wurde.

In dieser Zeit wurde mir auch zuerst ein Anblick, den ich schon lange gewünscht hatte und der freilich in Ungarn[333] kaum ausbleiben konnte. In der Nähe unsres Dorfes hatte sich eine Horde Zigeuner gelagert, und ich war nicht wenig beeifert, mir diese Leute zu betrachten. Alles, was von ihrer Herkunft, Lebensart, ihren Künsten und Eigenheiten mir bekannt geworden, Geschichte und Poesie, rief ich mir ins Gedächtnis und suchte es an der Wirklichkeit zu prüfen. Nun konnten sie zwar sich der Neugier der Augen nicht entziehen, aber jeder vertraulichen Annäherung und Erforschung wichen sie sorgsam aus; sie arbeiteten emsig als geschickte Schmiede, Kesselflicker, Stellmacher, sie sagten die Zukunft vorher, wenn es verlangt wurde, sie spielten auch zum Tanz auf; aber weiter ließen sie sich nicht ein, ein unüberwindliches Mißtrauen hielt sie von uns getrennt. Die Männer waren durchgehends schön und hatten ein trotziges, verwegnes Ansehen, von Weibern hingegen konnten nur ein paar jüngere leidlich heißen; die völlige Nacktheit der Kinder und auch schon halb erwachsener Jünglinge und Mädchen in dieser Jahreszeit schien aus Zufall oder Dürftigkeit nicht zu erklären, sondern auf irgendeine Satzung zu deuten. Eindringlich und aufregend klang ihr Nationalgesang, der Rákóczi genannt, der ihren Wohltäter, einen Fürsten von Siebenbürgen dieses Namens, mit rührenden Klagelauten feierte. Dieser hatte sie aus ihrer schmachvollen Niedrigkeit zu erheben gesucht, ihnen bleibende Wohnstätten anweisen, sie zu Waffenehren befördern wollen, aber sein eigner Untergang ließ sie nur um so tiefer in das Elend zurückfallen, und das rätselhafte Volk schloß sich wieder um so mehr in sich selber ab. Sie wurden zum österreichischen Kriegsdienste herangezogen, und man rühmte sie als gute Soldaten, doch wollte man wissen, daß sie als solche die Abhärtung und Unverdrossenheit bald verlören, welche bei ihnen in freiem Umherschweifen oft an das Fabelhafte grenzten.


Gewiß hatten wir die Gewaltsamkeit der Kriegszustände in tausend schreienden Zügen der Härte und des Unglücks vor Augen und konnten in jeder Stunde hundertmal unsre[334] Menschenliebe und unser Rechtsgefühl empört finden; ja, wir halfen wohl gar unwillkürlich durch unsern Stand das Unrecht und die Leiden mehren, welche unsern Mitmenschen widerfuhren; aber diese Mißgeschicke waren nicht mit zarter Wehmut zu behandeln, sondern bedurften eher der zornigen Kraft eines Helden, der zu sein der Unberufene sich nicht anmaßen darf, dem aber, wenn er erscheint, zu folgen und beizustehen jeder berufen ist. Zwar die Feindseligkeiten waren eingestellt und Blut wurde jetzt nicht vergossen, aber schwerer als Tod und Wunden auf dem Schlachtfelde trafen jetzt Krankheiten unser armes Kriegsvolk und wüteten schrecklich in seinen Reihen! Der erkrankte Soldat gab sich augenblicklich verloren, und er war es fast immer, denn in das Spital gebracht, konnte er in den seltensten Fällen der Ansteckung der dort schon herrschenden Faulfieber entgehen! Schon hatten auch die Spitäler keinen Raum, die unglücklichen Leute lagen scharenweise unter Wagenschuppen oder auch in Höfen unter freiem Himmel, aller Nässe und Kälte des Oktobers ausgesetzt; es fehlte in den meisten Orten an schicklichen Gebäuden, die ansehnlichern gehörten fast immer den Edelleuten oder bevorrechteten Körperschaften, die nach ungarischem Gesetz keiner Einquartierung unterworfen sind. Man suchte die Not dadurch zu mindern, daß man die Kranken zu Tausenden nach Niederungarn schaffte; ich selbst habe zahlreiche Stromkähne mit solcher traurigen Ladung die Waag hinabeilen sehen, um nachher auf der Donau weiterzuschiffen; manche der Kähne, die bei Wagha anhielten, hab ich bestiegen, und das Herz mußte sich bei dem Anblick empören! Die übergedeckten Bretter hielten nicht überall den Regen ab, an gehörige Erwärmung, Erquickung und Pflege war nicht zu denken; die Ausdünstungen des Flusses verursachten schnelle Verschlimmerung, die spärlichen Arzneien blieben wirkungslos unter diesen gehäuften Nachteilen. Ob und wo die Armen lebend anlangten, hab ich nicht erfahren, aber es ist gewiß, daß keiner von ihnen zurückkehrte.[335]

Dieser Zustand, den wir heftig besprachen und der unser Menschengefühl empörte, hatte nebenher auch seine politische Wichtigkeit. Das ganze Heer, welches im August und September mit bewundernswürdiger Anstrengung sich wieder stark und schlagfertig aufgestellt hatte, sank im Oktober auf die Hälfte seines Bestandes zurück, und die Angabe, daß neunzigtausend Kranke gezählt wurden, war ein Hauptgrund, den Frieden um jeden Preis nötig, die Wiederaufnahme des Kampfes für ganz unmöglich zu erachten. Unter solchen Umständen mußte auch dem Eifrigsten jede Lust und Hoffnung des Krieges erlöschen, und auch wir, die wir noch an künftigen, in besseren Händen nochmals möglichen Aufschwung dieser Sachen glaubten, mußten uns eingestehen, daß für jetzt ein schleuniger Frieden zu wünschen sei.

Unser Aufenthalt wurde von Tag zu Tag unangenehmer, besonders da die Truppen aus der Gegend mehr und mehr wegzogen und auch an das Regiment in Wagha die Reihe kam; dasselbe auf den langsamen Herbst- und Wintermärschen durch das Slowakenland und Mähren nach Böhmen zu führen, konnte der Oberst ruhig dem bisherigen Kommandanten überlassen, weder Pflicht noch Ehrgeiz litten dabei, und zum Überfluß empfing er von obenher sogar die freundliche Aufforderung, sich demnächst in Wien einzufinden, den Zeitpunkt aber, daß der Weg dahin frei würde, einstweilen in Tyrnau abzuwarten. Wir benutzten den ersten etwas sonnigen Tag, uns mit gehöriger Vorsicht in diese Stadt überzusiedeln, wo wir leidliches Quartier und manche Hülfsmittel fanden, die uns nach der langen Entbehrung in Szered von großem Werte waren. Es gab wieder Zeitungen zu lesen, einige Bücher, auf den Straßen zeigte sich einiges städtische Leben, die Kaufläden, die Handwerke lieferten manches, was der Augenblick wünschenswert machte. Unter andern fand sich ein Schachspiel, und der Oberst freute sich, mir darin überlegen zu sein und sich als mein Lehrmeister zu benehmen.[336]

In Tyrnau, wo jetzt vielfacher Durchzug war, fehlte es nicht an Besuchen; ich sah hier den Obersten von Oberndorf wieder, der mich in Wagram zuerst an Bentheim gewiesen hatte und mich nun beglückwünschte, daß ein so gutes Verhältnis entstanden sei; der General Graf von Weißenwolf war eine willkommne Erscheinung, er wußte feine Laune und soldatische Derbheit angenehm zu verbinden und erzählte beißende Anekdoten mit großer Gelassenheit; auch der General von Wacquant fand sich zu einem Besuch ein, wobei er mich zwar besondrer Aufmerksamkeit würdigte, aber doch jede Anspielung auf jenes frühere Begegnis vermied, gleichsam als grause ihm noch vor der Gefahr, in der er mich damals schweben gesehen; sein Beruf zur Diplomatie, in welcher seine Tätigkeit nicht weniger als im Kriege sich hervorgetan, wurde in solchen Zügen auch bei geringen Anlässen kenntlich. Mehr als alles erfreute mich das unerwartete Eintreten von Marwitz; er hatte mich abermals ausgespürt und wünschte mir Nachrichten aus Berlin mitzuteilen; jedes Gespräch mit ihm war mir ein Reiz und ein Gewinn, jedoch mußte ich diesmal einen großen Teil der Unterhaltung dem Oberst überlassen, der an Marwitz das ausgezeichnetste Wohlgefallen hatte und auch ihm den vorteilhaftesten Eindruck machte.

Die militärischen Ereignisse, die politischen Aussichten wurden gründlich und geistreich besprochen; inmitten der traurigsten Demütigung, die der unglückliche, schmachvolle Frieden uns gebracht, während die Truppen mit gesenkten Fahnen in geschwächter Zahl heimzogen, nach dem größten Länderverlust, dem auch alles vorrätige und noch zu erschwingende Geld nachfolgen mußte, gab und empfing der ungeschwächte Kriegsmut schon wieder Handschlag auf neue Waffenentscheidung; nach vier Jahren, hieß es, werde Österreich erholt sein und sein Heer aufs neue ins Feld rücken; den Frieden könnten wir uns als Waffenstillstand gefallen lassen. Auf welchen Umwegen sich diese Vorhersagung erfüllen würde, das lag ungeahndet in Dunkelheit.[337]

Nachdem dies alles, soweit es jetzt geschehen konnte, in Ordnung und Bereitschaft gebracht war, kam endlich die längstersehnte Nachricht von dem Abzuge der Franzosen von Wien, wo noch zuletzt, ohne Fug und wie zum Hohn, auf Befehl Napoleons die Festungswerke gesprengt worden waren. Ergrimmt über solches Verfahren, aber doch froh, nur endlich die Hauptstadt frei zu wissen, beeilten wir die Abreise und verließen Tyrnau und Ungarn nach einem zweimonatlichen Aufenthalt ohne sonderliches Bedauern. Gegen Ende des Novembers langten wir wohlbehalten in Wien an.

Quelle:
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Berlin 1971, S. 332-338.
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