[49] War meine Vorbereitung zu der Gelehrtenschule nach jeder Richtung eine unzulängliche, so würde es nun aber trotzdem undankbar sein, wenn ich jenen einsamen Unterricht, den ich bei meinem geliebten Lehrer Müller genoß, und der mehr als wünschenswert in einem verträumten oder höchstens in einem als Übung der Phantasie zu schätzenden Spiel bestand, als eine verlorene Zeit betrachten wollte. Mir selbst tagte beim Abschluß des Gymnasiums schon die Erkenntnis, daß eben diese Zeit nicht ganz ohne Früchte geblieben war. Auf dem Gymnasium war das Motiv, das den Gefahren des einsamen Phantasierens in den Weg trat, die gemeinsame Arbeit der Schule, die zugleich eine Vermittlung zwischen Spiel und ernsthafter Arbeit herstellte. Was das gemeinsame Spiel, das Nachahmung und Vorbild ernster Arbeit zugleich ist, unter günstigen Umständen unmittelbar zu bewirken vermag, das ist nun natürlich dem reinen Phantasiespiel, weil dieses der Einheit von eigener und gemeinsamer Tätigkeit entbehrt, notwendig versagt; doch das Bedürfnis nach seiner Befriedigung schafft sich einen Ersatz, der allerdings mehr oder weniger vollkommen sein kann, der jedoch unter allen Umständen eine Freiheit der Wahl bietet, die manchen Gefahren entgeht, vor denen die Zerstreuung des Verkehrs nicht bewahrt. Dieser Ersatz ist die Lektüre. Eine so unentbehrliche Übung der geistigen Kräfte das gemeinsame Spiel ist, das die Schule als Ergänzung zur gemeinsamen Arbeit hinzufügt, so verbinden sich doch mit ihm, genau so wie mit der Berufsarbeit und der bürgerlichen Tätigkeit des späteren Lebens, die Wirkungen des bösen mit denen des guten Beispiels. Die Lektüre dagegen bietet der Phantasie ein geordnetes Material, das, wenn es glücklich gewählt ist, vorbildlich und, wenn es schließlich[49] in die Bahnen einer planmäßigen Tätigkeit einlenkt, erzieherisch wirken kann und darum zwar nicht allen Richtungen des künftigen Lebens, aber doch gerade denjenigen, die die Wirkungen des gesellschaftlichen Lebens ergänzen, zu Hilfe kommt.
So glaube ich denn jener einsamen Erziehung, die mir beschieden war, eine Erscheinung zuschreiben zu müssen, über deren Ursachen ich später manchmal nachgedacht habe. Diese Erscheinung bestand in einem Lesetrieb, der sich meiner zu einer Zeit zu bemächtigen begann, wo andere meines Alters entweder von einem solchen überhaupt nichts wissen oder ihm nur in beschränkterem Umfang huldigen. Beschränkt nicht bloß quantitativ, sondern vor allem nach dem qualitativen Inhalt der gewählten Lektüre. Jakob Burckhardt klagt in seinen »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« über die unnütze und zeitraubende Romanlektüre, gegenüber der die Vertiefung in die wirkliche Geschichte viel zu kurz komme. Darin hat er gewiß im allgemeinen recht. Aber es ist dabei doch nicht zu übersehen, daß der moderne Roman immerhin ein Surrogat der Geschichte sein kann, das selbst für den Historiker durch die phantasievolle Vergegenwärtigung der Zustände und Ereignisse einen gewissen Wert hat, eine Eigenschaft, vermöge deren das Werk des Historikers selbst teilweise einen romanhaften Charakter annimmt oder durch diesen auf einen Romandichter wirkt, wie z.B. Thomas Carlyles »Geschichte der französischen Revolution« auf Dickens' bekannten Roman »Zwei Städte«. Nun ist es der gewöhnliche Verlauf, daß eine aus eigener Wahl entspringende Jugendlektüre, wie die meinige war, zunächst mit einem ungeordneten Durcheinander beginnt, das dann aber doch allmählich infolge der Wirkungen der Neigung und Abneigung eine gewisse Ordnung gewinnt. Diese Ordnung wird wahrscheinlich[50] bei verschiedenen von einem solchen Lesetrieb geleiteten Kindern individuell sehr verschieden sein. Erziehung und Bildung, möglicherweise auch eine gewisse natürliche Anlage oder der Zufall mögen auf diese Wahl und sogar auf ihre weiteren Folgen von Einfluß sein. So halte ich es nicht für unmöglich, daß einige Bände der alten Wielandschen Shakespeare- Übersetzung, die ich als etwa 10jähriger Knabe in der Bibliothek meines Vaters fand, teilweise mit der Tatsache im Zusammenhange stehen, daß Shakespeare wohl in der poetischen Literatur der Dichter ist, den ich am häufigsten gelesen habe, wenn auch in jenem Zufall höchstens ein begünstigendes Motiv dafür liegen mag, daß ich in einer viel späteren Zeit meines Lebens kaum eine Reise antrat, auf der mich nicht ein paar Bände Shakespeare als Lektüre begleiteten. Was jedoch die gewöhnliche Romanlektüre früh aus meinem Interesse verdrängte, das war die Beziehung zu den eigenen Zeiterlebnissen und zu Ereignissen, die mit diesen in irgendeiner Verbindung standen. Das ließ mich mit Vorliebe zu historischen Romanen und dann allmählich zu historischen Werken greifen. Daran schloß sich erst in einer etwas späteren Gymnasialzeit die im übrigen ziemlich wahllose, fast, wie es schien, nur von dem Trieb womöglich die gesamte deutsche Literatur zu bewältigen, beherrschte poetische Lektüre. An die schöne Literatur schlossen sich die Werke über Literaturgeschichte, an die Dichter der Revolutionszeit, Freiligrath, Anastasius Grün, Herwegh, Heine und andere, dann Klopstock, Wieland, die Dichter von Sturm und Drang in so bunter Reihenfolge, daß mir eine Lokalisation in der Zeit nicht geblieben ist.
Nur ein einziges Erlebnis steht festgewurzelt in meinem Gedächtnis, das freilich nicht meiner Lektüre, sondern, fast könnte ich sagen, meiner eigenen Schriftstellerei angehört, und das seine zeitliche Orientierung in sich[51] selbst trägt: das ist das Unternehmen, ein Tagebuch zu schreiben, das die Ereignisse der deutschen Märzrevolution von 1848 begleitete. Noch glaube ich das längst untergegangene Manuskript vor mir zu sehen, in welchem ich den Wiener Aufruhr, den Tod von Robert Blum und seinen Genossen in gewaltiger Aufregung niederschrieb. Etwa in dieselbe Zeit fallen einige Auszüge aus Werken, von denen die Lektüre des einen nach der Verwandtschaft des Themas hierher gehört: Zimmermanns Geschichte des Bauernkriegs; und ungefähr gleichzeitig, nach seinem Inhalt weit abliegend, ein Exzerpt aus Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, bei dem ich freilich über die allgemeinen, mehr naturphilosophischen Teile nicht hinausgelangte. Von allen diesen Dingen ist ebensowenig wie von mancherlei poetischen Versuchen irgend etwas erhalten geblieben. Das meiste ist durch Zufall spurlos verschwunden, manches hat wohl auch seinen Untergang im Feuer gefunden, um später der Kontrolle neugieriger Augen zu entgehen, obgleich diese Dinge an sich höchst harmloser Natur waren.
Die Leihbibliotheken, mit denen damals Heidelberg namentlich in der älteren Literatur vielleicht besser als jetzt ausgestattet war, boten dem Lesetrieb in vielen Gebieten der Vergangenheit, von denen in den neueren in der Regel nichts zu finden ist, reiche Nahrung. In ihnen, namentlich in der ältesten derselben, hatten sich zu jener Zeit noch viele aus der Literatur des 18. Jahrhunderts von dem größeren Lesepublikum meist unbenutzt bleibende Schätze erhalten, die weit über die gewöhnliche Romanlektüre hinausgingen. Hier machte sich eben die alte Gelehrtenschule geltend, die manche ansehnliche Reste aus ihrer Vergangenheit in die Gegenwart gerettet hatte. Dies war ein Punkt, der übrigens neben vielen sonstigen Eigentümlichkeiten bei den Gymnasien der Universitätsstädte überhaupt eine bedeutsame Stellung einnahm.[52]
Ausgewählte Ausgaben von
Erlebtes und Erkanntes
|