20.

[135] Als ich in Berlin auf Du Bois-Reymonds Vorschlag eine Revision der Versuche Eduard Webers über Muskelbewegung vorzunehmen begann, leuchtete mir bald ein, daß hier das Problem der elastischen Eigenschaften der Muskeln im Vordergrund stehe. Aber diese gewissermaßen vorläufige[135] Aufgabe verwickelte mich auch sofort in Schwierigkeiten, die in den bisherigen Arbeiten über das gleiche Thema teils ganz unbeachtet geblieben, teils wenigstens nicht überwunden worden waren. Unbeachtet geblieben war zunächst die sogenannte elastische Nachwirkung, eine Eigenschaft, die in gewissem Grade allen festen Körpern zukommt, mit der aber besonders die feuchten Tier- und Pflanzengewebe und unter ihnen wieder vorzugsweise die Muskeln ausgestattet sind. Beim Anhängen eines Gewichtes erfährt der Muskel momentan eine der Größe desselben entsprechende Dehnung; an diese schließt sich aber eine allmähliche weitere Dehnung in stetigem Verlaufe an, die so lange dauert, daß ihr Ende kaum abgewartet werden kann, da sie sich offenbar nur asymptotisch einer bestimmten Grenze nähert. Nun ist es namentlich bei der Einwirkung größerer Gewichte außerordentlich schwer, die Anfänge der elastischen Nachwirkung von der augenblicklichen Formänderung zu scheiden, und da dies bald mehr, bald weniger geschieht, so können dadurch die Messungen in hohem Grade unsicher werden. Zwar besitzen wir von seiten der Physiker einige Angaben über die elastische Nachwirkung namentlich bei Metalldrähten, zum Teil auch bei Tier- und Pflanzengeweben, aber die Physiologen, die sich mit der Elastizität der Muskeln beschäftigten, haben diesem wichtigen Moment keine Aufmerksamkeit geschenkt. Zu dieser gesellen sich noch andere Schwierigkeiten, die dem Muskelgewebe speziell eigen sind und die gerade mit den Lebenseigenschaften desselben zusammenhängen. Dahin gehört in erster Linie die Totenstarre, offenbar ein Gerinnungsprozeß von Eiweißkörpern im Innern des Muskels, der dessen Gewebe in einen relativ harten Körper verwandelt, also dessen Dehnbarkeit vermindert. Löst sich die Starre, so tritt dann eine fortschreitende Erweichung des Gewebes ein, die mit der zunehmenden[136] Fäulnis allmählich in dessen Zerfall übergeht. Geringere Schwankungen ereignen sich jedoch schon in einem noch lebensfähigen Zustand, wenn der Muskel durch seine Zusammenziehung eine Arbeit leistet, infolge der sogenannten Ermüdung und der ihr folgenden Erholung usw. Diese Umstände bringen es mit sich, daß, wenn man, wie dies zu geschehen pflegte, dem lebenden Tier einen Muskel entnimmt und ihn auf seine Elastizitätseigenschaften etwa durch die Messung der Formänderungen prüft, welche er durch Gewichte von abgestufter Größe erfährt, die in der Richtung der Länge seiner Fasern einwirken, die gewonnenen Messungsergebnisse von sehr schwankender Beschaffenheit sind, wie das die oben erwähnten Momente begreiflich machen. Da ist es die elastische Nachwirkung, die die Dehnbarkeit scheinbar vergrößern, die Totenstarre, die sie vermindern, die Lösung der letzteren, die wieder eine größere Dehnbarkeit herbeiführen kann usw. Handelt es sich vollends um Versuche, die ein dem normalen Lebenszustand möglichst nahestehendes Verhalten des Muskels fordern, so kommen in völlig unberechenbarer Weise die Einflüsse der Ermüdung und Erholung in Betracht, die dann im weiteren Verlauf immer wieder durch die unabwendbaren Erscheinungen des Absterbens in ihrem Wechsel zwischen der Totenstarre und ihrer Lösung gekreuzt werden. Diese Verhältnisse machen es erklärlich, daß bei diesen Versuchen die Muskeln warmblütiger Tiere zunächst überhaupt außer Betracht blieben und man sich auf den Kaltblüter, vor allem auf den Froschmuskel beschränkte, der am ehesten noch nach seiner Entfernung aus dem lebenden Körper in gewissem Grad seine Lebenseigenschaften beibehält. Immerhin zeigt sich auch bei ihm deutlich genug, daß dieser ausgeschnittene Muskel ein fortwährend wandelbares Gebilde ist, so daß von ihm kaum gesagt werden kann, es sei möglich, an einem und demselben[137] Muskel die gleichen Bedingungen des Versuchs genau in derselben Weise zu wiederholen. Wie schon bei dem »Zuckungsgesetz« verschiedene Beobachter anfänglich zu abweichenden Resultaten gelangt waren, so, ja in noch höherem Grade, geschah dies daher auch bei den Problemen der Muskelelastizität. Insbesondere war es hier die wichtige physiologische Frage nach dem Zusammenhange der elastischen Eigenschaften mit dem Kontraktionszustand des Muskels bei seiner Reizung von dem in ihm sich verbreitenden Nerven aus oder bei seiner direkten Reizung durch elektrische Ströme, über welche entgegengesetzte Angaben vorlagen. Schwann, Harleß, A. W. Volkmann, Ed. Weber fanden bald Verminderung, bald Zunahme der Elastizität, das heißt bald geringere, bald größere Dehnbarkeit im Kontraktionszustand. Auch hatte man sich meist auf die in diesem Fall vielleicht ungünstigste Methode der Elastizitätsbestimmung, nämlich auf die der Dehnbarkeit durch angehängte Gewichte beschränkt. Sie führt nämlich nicht nur am ehesten Störungen durch die mit der Größe des Gewichtes wachsende elastische Nachwirkung mit sich, sondern größere Gewichte lösen unmittelbar die Phänomene der Totenstarre aus.

Als ich meine Untersuchungen über diese Fragen begann, schwebte daher die Antwort auf dieselben noch ganz im ungewissen. So war denn, nachdem ich in Voruntersuchungen die Einflüsse der elastischen Nachwirkung, der Totenstarre und ihrer Lösung geprüft hatte, mein Bemühen darauf gerichtet, diese störenden Nebenwirkungen überhaupt zu eliminieren. Hier erwies sich nun schließlich als einziges Mittel einer solchen Elimination die Untersuchung der Erscheinungen an dem noch dem lebenden Organismus angehörenden Muskel und Nerven. Der ganze lebende Frosch wurde an einem zweckmäßigen Stativ befestigt, die zu untersuchende Muskelgruppe des Oberschenkels (Adductor magnus und Semimembranosus)[138] wurde bloßgelegt, während sie in dem Blutkreislauf eingeschlossen und mit ihren Nerven verbunden blieb. Außerdem wurde die Muskelgruppe in einen feuchten Raum eingeschlossen, so daß sie vollkommen gegen Eintrocknen geschützt war. In diesem Zustand konnte nun an ihr stundenlang experimentiert werden, ohne daß, wenn man nur die nötigen Erholungspausen zur Vermeidung der Ermüdungseinflüsse einschaltete, eine Veränderung ihres Zustandes eintrat, wie die Konstanz der Erscheinungen erwies. Dies zeigte sich zunächst bei der Prüfung der Zugelastizität durch angehängte Gewichte bei ruhendem Zustand und ebenso dann bei der Wiederholung der Wirkungen von Reizen, welche Kontraktionen des Muskels herbeiführten. Um von verschiedenen Seiten her mittels der gangbaren physikalischen Hilfsmittel eine Antwort auf die Frage der Veränderungen der Elastizität bei der Kontraktion zu gewinnen, bediente ich mich jedoch in gesonderten Untersuchungen vier verschiedener Methoden: der Überlastung, der Torsionsschwingungen, der Ablenkungen, der Erhebungshöhen. Besonders kennzeichnend waren dabei die beiden ersten Methoden. Indem die Überlastung darin bestand, daß an den Muskel ein Gewicht gehängt wurde, das er überhaupt nicht mehr zu heben vermochte, war bei einer etwaigen Abnahme der Elastizität im Moment der Erregung eine Verlängerung, bei einer Zunahme umgekehrt eine Verkürzung zu erwarten. In anderer Weise entscheidend schien die Methode der Torsionsschwingungen: die drehenden Schwingungen, in die der Muskel versetzt wurde, mußten in ihrer Geschwindigkeit zunehmen bei wachsender, abnehmen bei verringerter Elastizität. Die übrigen Methoden konnten dann diesen beiden immerhin als mehr oder weniger bestätigende hinzugefügt werden. Diese Erwartung erfüllte sich nun, dank hauptsächlich dem Experiment am lebenden Tier, in der denkbar vollkommensten Weise. Es ergab sich[139] eine mit der Größe der Kontraktion zunehmende Verminderung der elastischen Kraft; diese Änderung trat aber nur dann ein, wenn der Muskel sich wirklich zusammenzog, sie blieb aus, wenn er in irgendeiner Weise, z.B. bei der Zugelastizität durch Überlastung, daran verhindert wurde. Mit diesem letzteren Ergebnis war zugleich das Problem mit Rücksicht auf den kausalen Zusammenhang der Erscheinungen seiner Lösung um einen wesentlichen Schritt näher gerückt: es war nicht etwa eine unter allen Umständen eintretende Molekularänderung im Muskel, welche die Elastizitätsänderung herbeiführte, sondern diese war offenbar eine Wirkung der Zusammendrückung, die der Muskel bei der wirklichen Kontraktion auf sich ausübte.

Zu diesem allgemeinen Ergebnis trat endlich noch ein anderes, das speziell an die Wirkungen der elektrischen Reizung geknüpft war und das auf das Wesen der im Muskel tätigen Kräfte Licht zu werfen versprach. Es bestand in den eigentümlichen Verschiedenheiten, die sich bei der Reizung des Muskels und des Nerven mit dem konstanten Strom ergaben. Der Muskelnerv beantwortet, wenn er in seinem Verlauf außerhalb des Muskels durch einen konstanten Strom erregt wird, im allgemeinen bloß die Schließung und bei stärkeren Strömen auch die Öffnung der Kette mit einer Zuckung; während der dauernden Schließung beobachtet man höchstens bei starken Strömen gelegentlich schwache tetanische Erregungen. Der Sinnennerv befindet sich stets bei irgend erheblichen Stromstärkes während der ganzen Dauer der Stromeinwirkung in einer in der andauernden Empfindung sich verratenden Erregung, nur pflegt bei der Schließung und im Fall starker Ströme auch bei der Öffnung eine momentan intensivere Empfindung beobachtet zu werden. Ganz anders verhält es sich, wenn man die Reaktion des Muskels bei seiner[140] direkten galvanischen Reizung, während die Nervenreizung ausgeschaltet ist, beobachtet. Dann erfolgt keine rasch vorübergehende Zuckung, sondern eine langsam verlaufende Zusammenziehung des Muskels, die so lange andauert, als der Strom geschlossen ist, und die, wenn man diesen einige Zeit geschlossen hält, vom Moment der Öffnung an in eine Bewegung in umgekehrter Richtung übergeht. Dabei sind die Kontraktionen während der Dauer des Stroms von der positiven zur negativen Elektrode gerichtet, und nur bei der Öffnung des Stroms pflegt ein kurzer Rückstoß zu erfolgen. Diese früher unterschiedslos zusammengeworfenen Effekte der Nerven- und Muskelreizung durch den konstanten Strom sind daher, wie ich zuerst bei der Messung durch das Mikroskop und dann bei der Aufzeichnung der Bewegungen am Kymographion beobachtete, völlig voneinander verschiedene Phänomene. Wenn wir beide mit den in der gegenwärtigen Elektrophysik die entscheidende Rolle spielenden Begriffen vergleichen, so erinnert die direkte Muskelkontraktion durch den konstanten Strom so unmittelbar an die Bewegung der Ionen bei der Leitung des selben durch eine elektrolytische Flüssigkeit, daß man das Phänomen dieser von der Anode zur Kathode gerichteten Bewegung mutmaßlich als einen Spezialfall eines elektrolytischen Stromes betrachten darf, an welchem die elektrisch geladenen Muskelmoleküle selbst als wandernde Ionen beteiligt sind. Wesentlich anders verhält sich dagegen die Reizung einer Nervenstrecke. Sie ist vor allem dadurch ausgezeichnet, daß die Reizung durch einen konstanten Strom nur eine der Formen ist, in welchen auch noch die verschiedensten anderen Einwirkungen, z.B. eine mechanische Erregung, ein kurz dauernder elektrischer Stromstoß, eine chemische Reizung, auf den Muskel übertragen, eine kurz dauernde Kontraktion auslösen können. Man würde daher vom Standpunkt der heutigen Elektrizitätstheorie[141] vielleicht vermuten dürfen, daß, wie die Muskelphänomene dem Gebiet der Wanderung der Ionen, so die Nervenerregungen dem der Elektronenbewegung zugehören.

Als ich im Jahre 1857 meine vergleichenden Versuche über Nerven- und Muskelreizung ausführte, lagen die Elektronen noch in einer fernen Zukunft; aber die Erscheinungen, die sich hier aufdrängten, wiesen bereits auf ein Verhältnis der Funktionen von Muskel und Nero hin, das analoge Beziehungen anzudeuten schien. Verriet sich doch die direkte Muskelkontraktion durch den konstanten Strom in analogem Sinne als ein elektrisches Massenphänomen gegenüber der Nervenreizung als einem elektrischen Molekularphänomen; womit denn auch wohl die Tatsache zusammenhing, daß der Muskel nur auf den elektrischen Strom mit Kontraktion reagiert, während der Nero jede beliebige Reizung zunächst in eine elektrische Molekularbewegung überzuführen schien, worauf dann diese durch ihren Kontakt mit dem elektrisch empfindlichen Muskelgewebe die Kontraktion als einen rasch vorübergehenden Vorgang, das heißt als eine Zuckung, auslöst. Das waren die freilich noch etwas unbestimmten Vorstellungen, zu denen ich durch meine Versuche geführt wurde. Immerhin erhob sich aus ihnen als ein verhältnismäßig festliegender Punkt das Ergebnis, daß Nerv und Muskel nicht im wesentlichen gleiche, sondern einander funktionell ergänzende Gebilde seien. Von ihnen konnte der Nerv als der Träger einer die mannigfachen Formen der Reize in eine elektrische Bewegung umwandelnde Vorrichtung betrachtet werden; der Muskel stellte sich ihm als ein Behälter elektrischer Kräfte gegenüber, aus dem durch die vom Nerven ausgehenden Stromstöße Teile dieses elektrischen Vorrats in mechanische Kräfte umgewandelt werden. Mag der Impuls, der auf den Nerven einwirkt, ein spezifischer Sinnesreiz, eine chemische Substanz, ein mechanischer[142] Stoß sein, zunächst führt der Nero ihn in einen elektrischen Stromstoß über, der dann eine der Dauer der Reizung entsprechende Ionenbewegung auslöst. Daraus ließ sich begreifen, daß die elektrische Reizung des Nerven selbst eine bevorzugte Stellung gegenüber der Mannigfaltigkeit der ihm zugänglichen Reize einnimmt, so daß sie als die allgemeinste jeder anderen substituiert werden kann. Auch im Hinblick auf die relativ verschiedene Dauer der elektrischen Vorgänge in Nerv und Muskel würde also, vom gegenwärtigen Standpunkt der Physik, der elektrische Nervenprozeß als eine Elektronenbewegung, der elektrische Muskelvorgang als eine Ionenbewegung betrachtet werden können. Die Bilder eines solchen Zusammenhangs elektrischer Vorrichtungen konnten freilich dem Auge des Beobachters bei der Ausführung dieser Versuche, wo die Elektronen noch unbekannt waren, nur in ungefähren Umrissen vorschweben, und noch heute ist vorläufig dieser Zusammenhang ein hypothetischer, der zu seiner Bestätigung oder Widerlegung die Wiederaufnahme dieser Probleme verlangen würde. Dennoch darf wohl gesagt werden, daß hier, wie bei so manchen neueren Ergebnissen, die Elektrophysiologie auf dem Gebiet der verwickelten organischen Strukturen und Funktionen zuerst Beziehungen vermuten ließ, die erst viel später in die Sphäre der allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Naturerscheinungen eingetreten sind, darum aber auch erst aus dieser ihre exakte Erklärung finden können.

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Wundt, Wilhelm: Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart 1921, S. 135-143.
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