[668] Diese Upanishad, die ihren Namen Yogatattva »die Wesenheit des Yoga« entweder nach dem Anfangsworte oder nach dem Hauptinhalte trägt, besteht in unserer Rezension aus fünfzehn Çloka's, während sie im Telugudruck in bedeutend erweiterter Gestalt vorliegt. Die beiden Anfangsverse sind dort dieselben, dann aber folgen etwa hundert andere Çloka's, hierauf (p. 394) nochmals Vers 2 und als Schluss der Upanishad v. 3-13 und v. 15, teilweise mit sehr abweichenden Lesarten. Ob diese auf einer ursprünglicheren Tradition oder nur auf späterer Zurechtlegung beruhen, unternehmen wir zur Zeit noch nicht zu entscheiden. In unserer Rezension ist der Text so korrupt und der Kommentar so mangelhaft, dass die Übersetzung nur als ein Versuch gelten kann, den Inhalt einigermassen verständlich wiederzugeben.
Nach den Eingangsversen (v. 1-2), welche, weniger passend, auch den Eingang von Dhyânabindu bilden, folgt v. 3-5 eine sehr drastische Schilderung von dem unaufhörlichen Kreislauf der Neugeburten und v. 6-8 eine Darlegung, wie die 31/2 Moren des Lautes Om alles in sich befassen, wobei wiederum v. 8 derselbe ist wie Dhyânabindu 7, diesmal aber dort passender steht; – hiernach scheint es, dass Yogatattva und Dhyânabindu, nicht die eine von der andern, sondern beide von einer gemeinsamen Quelle abhängig sind, welche jedoch wahrscheinlich nur in einzelnen Sprüchen zu suchen ist, die in Yogakreisen mündlich umliefen und, vielfach variiert, schliesslich in diesen Yoga-Upanishad's Aufnahme fanden. Dies gilt auch von den folgenden Versen (v. 9-11), welche, nach dem Vorgange von Mahânâr. 11,8 (oben S. 251) und unter mehrfachen Anklängen an Dhyânabindu 12-14, das Herz, den Sitz des Manas, als eine abwärts gerichtete Lotosblume schildern, die sich bei der Meditation entfaltet, dann aber mit der Beruhigung des Manas regungslos wird, worauf die Seele das höchste Wesen so in sich widerspiegelt, wie der Bergkristall den Sonnenstrahl (v. 11). Vers 12 bezieht sich wohl auf den Pratyâhâra, das Einziehen der Organe, während die Atmung noch fortbesteht, v. 13 auf den Prâṇâyâma, die Atmungsregelung, welche ihren Höhepunkt im kumbhaka (Amṛitabindu 13. Dhyânabindu 12) hat, v. 14 auf den Auszug der Seele durch die Sushumnâ[669] und das Brahmarandhram (vgl. Yogaçikhâ 7), v. 15 endlich betrifft die Wahl des richtigen Ortes für die Meditation und die Schonung alles Lebenden von seiten des Yogin.
Vers 1-2. Wert des Yoga.1
1. Des Yoga Wesenheit kund tun
Zum Heil der Yogin's will ich hier,
Wer dieses anhört und hersagt,
Der wird von allen Sünden frei.
2. Ein grosser Yogin heisst Vishṇu,
An Zauberkraft und Busse gross,
Als Leuchte auf dem Wahrheitsweg
Glänzt er, der höchste Purusha.
Vers 3-5. Der Kreislauf der Seelenwanderung.
3. Die Brust, an der er trank vormals,
Drückt später er in Lüsternheit2,
Am Schoss, der ihn gebar vormals,
Sättigt später er seine Lust.
4. Die ihm Mutter war, wird Gattin,
Die Gattin war, zur Mutter ihm,
Sein Vater wird ihm zum Sohne,
Sein Sohn wieder zum Vater ihm.
5. So im Kreislauf des Samsâra,
Wie Schöpfeimer am Wasserrad3
Umlaufen, kommt er stets wieder
Im Mutterschosse zur Geburt.4
Vers 6-8. Allbefassung des Lautes Om.
6. Drei Welten gibt es, drei Veden,
Drei Tagzeiten, drei Götter sind,[670]
Drei Opferfeuer, drei Guṇa's,
Der Dreilaut, alles dies befasst.
7. Doch wer am Ende des Dreilauts
Auch die Halbsilbe überdenkt,
Der hat dies alles durchdrungen
Und geht zur höchsten Stätte ein.
8. Wie der Duft ist in der Blume,
Wie die Butter ist in der Milch,
Wie das Öl ist in dem Sesam,
Wie das Gold in den Erzen ist5, ...
Vers 9-11. Frucht der Meditation des Lautes Om.
9. Die Lotosblüte, die einnimmt
Des Herzens Kaum, gesenkt den Kelch,
Hoch den Stiel, niederwärts tauend,
Darin das Manas hat den Sitz,
10. Beim a-Laute wird sie leuchtend,
Beim u-Laute erschliesst sie sich,
Erklingt leise beim m-Laute, –
Regungslos ist der halbe Laut, –
11. Dann, wie im Bergkristall etwa
Sich abspiegelt der Sonne Licht6,
Scheint in der Seele beim Yoga
Der höchste Geist, der sie beseelt.
Vers 12-13. Pratyâhâra und Prâṇâyâma (vgl. S. 650).
12. Er zieht ein gleich der Schildkröte
In sich nebst Hand und Fuss das Haupt7,
Indes der Wind noch die Pforten
Umspielt. Dann heisst's: »füllt ein! füllt ein!«
[671]
13. Doch wenn nach Schluss der neun Pforten
Er aus- und einzuatmen sucht,
Wie eine Fackel im Kruge
Windlos, das heisst der »Einbehalt«.
Vers 14. Auszug durch das Brahmarandhram.
14. Bis, wie durch Lotosblatt brechend,
Auftriebwind zur Befreiung führt
Ihn, den man als den Truglosen
Zwischen Brauen und Stirne weiss.8
Vers 15. Verhalten des Yogin zur Aussenwelt.
15. An unverbotnem, windstillem,
Entlegnem, störungsfreiem Ort
Der Yogin Schutz gewährleistet
Allen Wesen als seinem Selbst.9
1 v. 1-2 = Dhyânabindu v. 1-2.
2 yaḥ stanaḥ pûrvapîtas tam nishpîḍya mudam açnute (Telugudruck).
3 Noch heute sieht man in Indien sehr häufig dieses ringsum mit Eimern versehene Schöpfrad. Während dasselbe durch einen unter ihm herlaufenden Bach gedreht wird, füllen sich die in denselben eintauchenden Eimer und ergiessen, nach oben gelangt, ihren Inhalt in eine Rinne, die ihn den Feldern zuführt.
4 yonijanmâni çritvâ (Telugudruck).
5 Dieser Çloka lässt sich nur künstlich (vermöge der Alldurchdringung des Lautes Om) mit dem Vorhergehenden verknüpfen und ist vielleicht aus dem Zusammenhange, der Dhyânabindu 7 fg. S. 660 vorliegt, herübergenommen.
6 âtmâ labhate sphaṭika-samkâçam, sûrya-marîci-vat, »die Seele nimmt den Glanz des Bergkristalls an, wie [wenn ihn trifft] ein Sonnenstrahl«.
7 Wir lesen mit dem Telugudruck çiraç ca.
8 Vgl. Dhyânabindu 23. Jâbâla 2, S. 662. 708.
9 Wörtlich: »durch den Yogadienst ist die Unverletzlichkeit der das Selbst (des Yogin) bildenden Wesen gesichert«.
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