IX (Adhyâya 33).

Vers 1170-1204 (B. 1-34).

[61] Der Heilige sprach:


1. (1170.) Dieses aber will ich als Geheimnisvollstes dir, der du mich willig anhörst, verkündigen, eine Erkenntnis, von Wissen begleitet, welche erkannt habend, du erlöst werden wirst von dem Übel.

2. (1171.) Ein Königswissen, ein Königsgeheimnis ist dieses höchste Läuterungsmittel, unmittelbar verständlich, heilig, leicht auszuführen und unvergänglich.

3. (1172.) Menschen, welche an diese Satzung nicht glauben, o Feindbezwinger, gelangen nicht zu mir und kehren zurück auf dem Wege des Todes und der Seelenwanderung.

4. (1173.) Von mir in der Gestalt des Unentfalteten ist diese ganze Welt ausgebreitet worden. Alle Wesen werden von mir, nicht aber werde ich von ihnen befasst.

5. (1174.) Und doch werden auch wieder die Wesen nicht von mir befasst, da siehst du meine göttliche Zauberkunst: Ich trage die[62] Wesen und bin doch nicht in den Wesen befasst, mein Selbst ist der Bildner der Wesen.

6. (1175.) Wie, von dem Raume befasst, der grosse Wind immerfort nach allen Seiten streicht, so werden alle Wesen von mir befasst, das sollst du merken.

7. (1176.) Alle Wesen, o Sohn der Kuntî, gehen zurück in meine Natur (prakṛiti), wenn ein Kalpa (Weltperiode) zu Ende geht, und wiederum bin ich es, der sie am Anfang des nächsten Kalpa erschafft.

8. (1177.) Immer wieder und wieder schaffe ich, auf meine eigene Natur (prakṛiti) mich stützend, diese ganze Schar der Wesen auch gegen ihren Willen (oben, Vers 1160) kraft meiner Prakṛiti.

9. (1178.) Und doch binden mich diese Werke nicht, o Beutemacher, sondern ich sitze da wie einer, der müssig ist, und bin nicht in diesen Werken befangen.

10. (1179.) Durch mich als Ausseher [getrieben] gebiert die Prakṛiti das Bewegliche und Unbewegliche [Menschen, Tiere und Pflanzen], und dies ist die Ursache, o Kuntîsohn, durch welche die Welt der Lebenden in Umlauf bleibt.

11. (1180.) Gering achten mich, wenn ich in einen menschlichen Leib eingehe, die Toren, welche mein höchstes Sein als grosser Gott der Wesen nicht kennen.

12. (1181.) Ihr Hoffen ist eitel, ihre Werke[63] sind eitel, ihr Wissen ist eitel; unbesonnen vertrauen sie auf meine dämonische, widergöttliche, verblendende Prakṛiti.

13. (1182.) Aber edelgesinnte Menschen vertrauen auf mich, o Pṛithâsohn, auf meine göttliche Prakṛiti, und verehren unentwegten Geistes das, was sie als den ewigen Ursprung der Wesen erkannt haben.

14. (1183.) Ohne Unterlass preisen sie mich und streben zu mir festen Gelübdes, und indem sie mir gläubig huldigen, verehren sie mich in beständiger Hingebung.

15. (1184 vacat. 1185.) Andere verehren mich, indem sie mir ihre Erkenntnis als Opfer darbringen, mich, der ich als Einheit bestehe und vielfach als Besonderheit nach allen Seiten mich erstrecke.

16. (1186.) Ich bin die Opferhandlung, bin das Götteropfer und Manenopfer, ich bin der Pflanzensaft, der Spruch, die Opferbutter, das Opferfeuer und zugleich das Geopferte.

17. (1187.) Ich bin der Vater dieser Welt und die Mutter, der Schöpfer, der Allvater, ich bin des Wissens Inbegriff, das Läuterungsmittel, die Silbe Om, bin Ṛic, Sâman und zu gleich Yajus.

18. (1188.) Ich bin das Ziel, der Erhalter, der Herr, der Zeuge, die Wohnstätte, die Zuflucht, der Freund, ich bin Entstehen und Vergehen, der Standort, der Hort, der ewige Same.[64]

19. (1189.) Ich brenne [als Sonne], ich halte den Regen zurück und lasse ihn strömen, ich bin das Unsterbliche und der Tod [Götter und Menschen], bin das Seiende und das Nicht-Seiende, o Arjuna.

20. (1190.) Von mir erflehen die Drei-Veda- Kenner, die Somatrinker, vom Bösen geläutert und das Opfer darbringend, den Weg zum Himmel, und sie gelangen zu der heiligen Welt des Fürsten der Götter und geniessen im Himmel himmlische Götterfreuden.

21. (1191.) Und nachdem sie die weite Himmelswelt genossen haben, kehren sie nach Verbrauch ihrer guten Werke zur Welt der Sterblichen zurück. In dieser Weise, der Satzung der drei Veden folgend und nach Wünschen verlangend, erlangen sie Hingehen und Wiederkommen.

22. (1192.) Die Menschen aber, welche, ihr Denken auf nichts anderes richtend, mich verehren, diesen allezeit Beflissenen bereite ich Erwerb und Besitz [des Ewigen].

23. (1193.) Diejenigen aber, welche, anderen Göttern anhängend, dieselben gläubig verehren, auch diese verehren in Wahrheit mich, o Kuntîsohn, auch ohne dass eine Vorschrift dafür vorherginge.

24. (1194.) Denn ich bin der Geniesser und der Herr aller Opfer; aber sie erkennen mich[65] nicht in Wahrheit, und darum sinken sie herab [im Samsâra].

25. (1195.) Zu den Göttern gehen die, welche den Göttern anhängen, zu den Vätern die, welche den Vätern anhängen, zu den Dämonen die, welche die Dämonen (bhûta) verehren, – wer mich verehrt, der geht zu mir.

26. (1196.) Wer auch nur ein Blatt, eine Blume, eine Frucht, ein Wasser mir verehrungsvoll darbringt, das geniesse ich, wenn es mir in Verehrung mit hingegebenem Geiste dargebracht worden ist.

27. (1197.) Was du tust, was du isst, was du opferst und was du schenkst und was du dir als Kasteiung auferlegst, o Sohn der Kuntî, das mache zu einer Gabe an mich.

28. (1198.) Auf diese Weise, wirst du erlöst werden von den an die Werke geknüpften guten und schlimmen Früchten, und, magst du dich der Entsagung oder der Hingebung [an die Werke] widmen, erlöst zu mir eingehen.

29. (1199.) Für alle Wesen bin ich der Gleiche, ich habe keinen, den ich hasse, und keinen Günstling, die aber in Verehrung mir anhängen, die sind in mir und ich bin in ihnen (vgl. Ev. Joh. 14, Vers 20).

30. (1200.) Und wäre einer gewesen von sehr bösem Wandel, der mich und nichts ausser mir verehrte, der muss als ein Guter gelten, weil er sich zur rechten Gesinnung entschlossen hat.

31. (1201.) Er wird bald ein Rechtschaffener[66] und geht ein zum ewigen Frieden; o Kuntîsohn, das lass dir gesagt sein, wer mir anhängt, der geht nicht verloren.

32. (1202.) Denn die, welche auf mich vertrauen, o Pṛithâsohn, auch wenn sie von schlechter Geburt sind, auch wenn sie Weiber oder Vaiçya's oder Çûdra's sind, auch solche gehen den höchsten Gang (Galater 3,28),

33. (1203.) um wieviel mehr heilige Brahmanen und fromme Königsweise! Da du geraten bist in diese vergängliche, freudlose Welt, so verehre mich.

34. (1204.) Auf mich richte deinen Geist, mir huldige, mir opfere, mich verehre, so wirst du, in dieser Weise dich mir hingebend und mich über alles schätzend, zu mir eingehen.


So lautet in der Bhagavadgîtâ die Hingebung an das Königswissen und Königsgeheimnis (râjavidyâ-râjaguhya-yoga).

Quelle:
Der Gesang des Heiligen. Eine philosophische Episode des Mahâbhâratam. Leipzig 1911, S. 61-67.
Lizenz:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Die Sängerin Marie Ladenbauer erblindet nach einer Krankheit. Ihr Freund Karl Breiteneder scheitert mit dem Versuch einer Wiederannäherung nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit der Erblindung. »Das neue Lied« und vier weitere Erzählungen aus den Jahren 1905 bis 1911. »Geschichte eines Genies«, »Der Tod des Junggesellen«, »Der tote Gabriel«, und »Das Tagebuch der Redegonda«.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon