Allgemeines.

[3] Aus einer uralten Culturwelt unmittelbare Stimmen damals Lebender zu vernehmen, die uns deren Umgebungen und Verhältnisse, Gedanken und Gefühle, Leiden und Freuden in dichterisch erhöhter Stimmung vergegenwärtigen, wird für den Gebildeten immer von großem Interesse sein, um so mehr, wenn diese Äußerungen auch als Gedichte werthvoll und eigenthümlich sind. Beides ist der Fall mit den Liedern des Schī-kīng, des kanonischen Liederbuches der Chinesen.

Die Sammlung, wie sie vorliegt, ist durch Khùng-tsè oder Khùng-fu-tsè, den man als Confucius verlateint hat, um 483 v. Chr. abgeschlossen worden. Von den darin aufbewahrten Gedichten stammen dreihundert und vier aus dem Zeitraume vom zwölften bis siebenten Jahrhundert v. Chr., fünf aus noch höherem Alterthume; sechs sind verloren gegangen.

Ähnliche Sammlungen, ungefähr gleichen Alters und Ansehens, besitzen wir nur noch in den Psalmen der Ebräer und dem Rigvêda der Inder. Sind aber diese beiden, wenn auch auf sehr ungleichen Stufen, von hohem religiösem Geiste erfüllt, so tritt derselbe in den chinesischen Liedern beträchtlich zurück. Sie sind zumeist weltlicher Art. Dafür sind sie auch frei von allem eigentlich mythologischen Wesen, bewegen sich, einiges Sagenhafte abgerechnet, auf dem festen Boden der Wirklichkeit und stehen unserm Verständniß, unserer Gefühlsweise oft näher,[3] als man bei dem großen Abstande der Zeit und der Volksart voraussetzen sollte. Man sieht auch hier, wie das rein Menschliche unter allen Zonen und zu allen Zeiten sich gleich bleibt.

Indeß kann kein Dichter, wer er auch sei, ich dem entziehen, was als Glaube, Gebrauch, Sitte, Lebensordnung und Überlieferung seine Mitlebenden bedingt. Ja, er muß, um zu fassen und gefaßt zu werden, alles dies voraussetzen als ein ihm und seinen Hörern gemeinsames Element, auf das er nur hinzudeuten, nur anzuspielen braucht, um sofort des vollen Verständnisses gewiß zu sein. Eben darin muß er aber dem Leser einer ganz andern Nation nach Jahrtausenden unverständlich sein.

Nun ist zwar nicht versäumt worden, das Besondere und Besonderste dieser Art in den Anmerkungen zu den übersetzten Liedern zu erläutern; das Allgemeine jedoch, aus dem das Besondere erst gleichsam zusammengerinnt, konnte dort keinen Platz finden. Eine einleitende Darstellung desselben, dem sich dann anzuschließen hat, was über das Schī-kīng selbst zu sagen ist, erscheint daher unerläßlich. Dabei kann es nur Absicht sein, unter Vermeidung alles gelehrten Beiwerks den Leser mit jener altchinesischen Welt insoweit bekannt zu machen, daß sie ihn nicht befremdet, ihm nicht unerklärlich ist, wo sie sich nach ihren Eigenthümlichkeiten in den Liedern abspiegelt.

Denn auch wer das gegenwärtige chinesische Wesen und Leben kennt, kennt noch nicht das alte. Es ist zwar herkömmliche Meinung, daß in China von jeher alles unverändert fortbestanden habe, ja, das Festhalten der Sitten und Einrichtungen des Alterthums ist sogar chinesisches Dogma; dennoch hat sich auch dort fast alles umgestaltet. Die völlige Änderung der Reichsverfassung mit ihrem zugeschärften Centralismus und Bureaukratismus und den jedes dritte Jahr stattfindenden Beamtenversetzungen, die Überwucherung der alten Glaubensformen durch den Buddhismus, religiöse Abstumpfung und Gleichgültigkeit bei den Gebildeten, allerlei absurder Aberglaube beim Volke,[4] die weitverbreitete Sittenverderbniß, überdieß die häusliche Einschließung der Frauen und deren künstliche Fußverkrüppelung, die Zöpfe und das Opiumrauchen der Männer, – alles dieß und noch vieles Andere ist jüngeren Datums und zum Theil vom Auslande her eingeführt.

So einfache und anfängliche Zustände jedoch, wie die Vêda der Inder uns zeigen, finden sich weder in dem Zeitraume, in welchem unsere Lieder entstanden sind, noch in dem ganzen chinesischen Alterthume, über das wir zuverlässige Quellen haben. Denn was spätere Zeiten von den Ursprüngen chinesischer Civilisation erzählen, ist ohne geschichtlichen Werth. Im 22. Jahrhundert v. Chr., wo die urkundliche Geschichte beginnt, sehen wir bereits wolgeordnete öffentliche, wirthschaftliche und häusliche Zustände, die nur Ergebniß einer langen Vorentwicklung sein können.

Die Chinesen konnten sich dem Ausbau ihrer weltlichen Verhältnisse um so früher, um so aufmerksamer widmen, als ihnen jene kaum bewußte, aber vom Irdischen abziehende Geistesentwicklung fremd blieb, durch welche die übrigen alten Culturvölker zu ihren Mythologien gelangten. Allein wie das religiöse Bewußtsein der Menschen auch beschaffen sei, immer bleibt es das Grundbedingende ihrer Lebensgestaltung. Nach ihm messen und beurtheilen sie selbst die letztere, wenigstens in Zeiten ernster Einkehr und gesteigerter Selbstbesinnung, und diese werden dadurch bestimmend für das Leben. So dürfte denn auch hier mit diesem Gegenstande zu beginnen sein.

Zuvor aber müssen wir denselben bestimmter abgränzen.

Gegenwärtig nehmlich bestehen in China, außer dem später eingedrungenen Islam, drei Religionen. die der Sjû1 oder der Gelehrten, sodann die Taò-Lehre, endlich der Buddhismus; und der Höfliche sagt dort zu dem Andersgläubigen, der Aufgeklärte, der nichts mehr glaubt, zu Jedem, der es hören[5] will. »Sān kiáo jĭ kiáo«, d.h. die drei Religionen sind Eine Religion. – Der Buddhismus aber ist erst um 65 n. Chr. zur Ausbreitung gekommen, und die Taò-Lehre, obgleich in ihrem Kerne wahrscheinlich uralt, ist eine so tiefsinnige theosophische Speculation, daß ihre Bekenner wol nie zahlreich gewesen sind. Da nun auch keins ihrer Lieder in das Schī-kīng aufgenommen ist, so können wir diese Lehre gleichfalls übergehen und uns auf den Glauben beschränken, den das Liederbuch allein kennt und der im Alterthume allgemein verbreitet war, weßhalb er damals auch noch nicht als Glaube der Gelehrten, als Sjû kiáo, bezeichnet wurde. Das Wort Sjû, sowie das Schriftzeichen dafür, kommt in den klassischen Büchern vor Khùng-tsè nicht vor.

1

Mit Sj wird hier der weiche Zischlaut des französischen j bezeichnet.

Quelle:
Schī-kīng. Heidelberg 1880, S. 3-6.
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