XII. Von dem vornehmsten Tastorgane.

[130] 1. Die Einzelheiten in den vorausgehenden Kapiteln weisen genugsam nach, dass die Hand das vornehmste Organ des Getastes ist. Sie ist in der That dasjenige, das sich am besten jeder Art Oberfläche anpasst. Die Leichtigkeit, mit der sie die Finger ausstreckt, verkürzt, biegt, auseinander macht, zusammen legt, lässt die Hand sehr viele verschiedene Formen annehmen. Wäre dieses[130] Organ nicht so beweglich und biegsam, so würde unsere Statue viel mehr Zeit brauchen, um die Vorstellungen der Figuren zu erwerben, und wie beschränkt würde sie nicht in ihren Erkenntnissen sein, wenn sie es entbehren müsste!

Wenn ihre Arme z.B. beim Handgelenk endigten, so würde sie wohl entdecken können, dass sie einen Körper hat und dass es andere ausser ihr giebt; sie könnte, indem sie dieselben umfasst, sich eine Vorstellung von ihrer Grösse und Form machen, allein sie würde über die Regelmässigkeit oder Unregelmässigkeit ihrer Figuren nur unvollkommen urtheilen.

Noch beschränkter wird sie sein, wenn wir ihr alle Gliedergelenke nehmen. Blos auf das Grundgefühl angewiesen, wird sie sich wie in einem Punkte empfinden, wenn es einartig ist, und ist es mannigfaltig, so wird sie sich nur auf mehrere Weisen auf einmal empfinden.

2. Könnte man daraus, dass die Tastorgane in dem Maasse weniger vollkommen, weniger geeignet sind, Vorstellungen zu übermitteln, als sie weniger beweglich und biegsam sind, nicht schliessen, die Hand werde noch grössere Dienste leisten, wenn sie aus zwanzig Fingern, die alle eine grosse Anzahl Gelenke haben, zusammengesetzt wäre? Und würde nicht, wenn sie in eine Unzahl von lauter gleich beweglichen und biegsamen Theilen eingetheilt wäre, ein derartiges Organ eine Art Universal-Geometrie sein?19[131]

Es genügt nicht, dass die Theile der Hand biegsam und beweglich sind, die Statue muss sie auch nach einander bemerken und sich von ihnen genaue Vorstellungen machen können. Welche Kenntniss würde sie durch das Getagt von den Körpern bekommen, wenn sie das Organ, mit dem sie diese berührt, nur unvollkommen kennen lernen könnte? Und welche Vorstellung würde sie sich von diesem Organe bilden, wenn die Zahl seiner Theile endlos wäre? Sie würde die Hand auf eine Unzahl kleiner Oberflächen legen. Allein was würde sich daraus ergeben? Eine so zusammengesetzte Empfindung, dass sie daran nichts unterscheiden könnte. Das Studium ihrer Hände würde zu ausgedehnt für sie sein; sie würde sich ihrer bedienen, ohne sie jemals recht kennen lernen zu können, und würde nur verworrene Begriffe erwerben.

Ich sage noch mehr: Zwanzig Finger würden ihr vielleicht nicht so bequem sein, als fünf. Das Organ, welches ihr von den zusammengesetztesten Figuren Kenntniss geben soll, musste selbst wenig zusammengesetzt sein, sonst wäre es ihr schwer gefallen, sich von ihm einen deutlichen Begriff zu bilden, und dies wäre folglich ein Hinderniss für die Fortschritte ihrer Kenntnisse gewesen; es würde ihr alsdann ein einfacheres Organ vonnöthen gewesen sein, das sie, weil es leichter kennen zu lernen ist, in den Stand setzt, sich eine Vorstellung von dem Zusammengesetzteren zu bilden.

3. Ich glaube also, dass ihr in dieser Hinsicht nichts zu wünschen bleibt. Was mangelt eigentlich ihren Händen? Sollte es Vorstellungen geben, die sie ihr nicht unmittelbar verschaffen, so zeigen sie ihr doch den Weg, wie sie diese erlangt. Wollte man annehmen, was nicht möglich ist, dass sie, mit einer grossen Anzahl[132] sehr zarter und feiner Fingerversehen, alle Eindrücke unterscheiden würde, die sie ihr auf einmal übermitteln, so würde sie darum die Grössen, welche den Gegenstand der Mathematik ausmachen, nicht besser kennen. Sie würde nur auf der Oberfläche der Körper Ungleichheiten bemerken, die ihr jetzt noch entgehen, die ihr aber nicht mehr entgehen werden, wenn sie sich des Gesichtsinnes erfreut.[133]

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 130-134.
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