3. Kapitel
Beseitigung der Unordnung / Dschen Luan

[84] Heutzutage ist die allgemeine Verwirrung aufs höchste gestiegen. Die Not der Menschen kann nicht mehr gesteigert werden. Die Weltherrscher haben aufgehört, die Weisen sind zu Mißerfolg verurteilt und halten sich verborgen. Die Herren der Welt wandeln nach ihren Lüsten und sind dem Volk entfremdet und die Menschen haben niemand, dem sie ihr Leid klagen können. Wenn es in unserer Zeit noch einen weisen Herrscher und wirkliche Staatsmänner gibt, die müssen diese Worte prüfen, dann werden sie es lernen ihre Kriegsmacht in gerechter Sache zu verwenden. Die Menschen auf Erden, die schon beinahe dem Tode verfallen sind, werden dann wieder aufleben, solche die schon beinahe der Schmach verfallen sind, werden dann wieder zu Ehren kommen, solche die schon beinahe dem Elend verfallen sind, werden dann wieder zur Ruhe kommen. Da die Herrscher der Welt in ihren Lüsten wandeln, so werden dann selbst durchschnittliche, getreue Untertanen ihren[84] Herrn entfliehen und ihre Eltern verlassen, wievielmehr die unzuverlässigen Elemente. Darum, wenn eine gerechte Kriegsmacht sich erhebt, so werden die Herren dieser Welt ihr Volk nicht mehr zu eigen haben, und die Väter werden ihre Söhne nicht mehr zurückhalten können.

Für jeden, der auf Erden Führer der Menschen werden will, ist es die wichtigste Frage, die Menschen der Ordnung auszuzeichnen und die unordentlichen Elemente auszuschalten, die Pflichttreuen zu belohnen und die Pflichtvergessenen zu bestrafen.

Unter den Gelehrten ist heutzutage eine weitverbreitete Richtung, die den Angriffskrieg verurteilt. Während sie den Angriffskrieg verurteilen, billigen sie den Verteidigungskrieg. Wollte man sich aber auf Verteidigungskriege beschränken, so würde sich die eben erwähnte Methode, die Menschen der Ordnung auszuzeichnen, die unordentlichen Elemente auszuschalten, die Pflichttreuen zu belohnen und die Pflichtvergessenen zu bestrafen, nicht durchführen lassen. Das Wohl und Wehe der Fürsten und Völker auf Erden hängt davon ab, daß man diese Ausführungen versteht.

Angriffskriege und Verteidigungskriege sind im Prinzip dasselbe. Der Unterschied liegt nur in der Wirkung. Wenn man sie durch gewandte Reden beseitigen wollte, so lassen sich unter keinen Umständen triftige Gründe beibringen. Merkt man das nicht, daß man sich dabei in einen Widerspruch verwickelt, so ist man töricht. Merkt man es aber und betrügt sich selbst, so ist man ein Heuchler. Heuchler und Toren aber sind trotz aller Beredsamkeit unbrauchbar. Auf diese Weise verurteilt man, was man zu billigen vorgibt. Auf diese Weise will man den Nutzen und bringt den Schaden, man erstrebt den Frieden und vermehrt die Gefahr. Unter allen Dingen, die den Fürsten auf Erden Not verursachen und den Völkern das größte Leid zufügen, stehen diese Redereien obenan. Darum, wessen Arbeit es ist, den Menschen auf Erden wirklich zu nützen, der darf nicht anders: er muß diese Ausführungen sorgfältig prüfen. Unter dem Angriffskrieg ist natürlich immer zu verstehen, daß man die ordnungswidrigen Elemente angreift und Pflichtvergessene straft. Die Ordnungswidrigen anzugreifen und die Pflichtvergessenen zu[85] bestrafen, ist aber das größte Glück und bringt dem Volk den reichsten Gewinn. Wer dies verhindern wollte, der würde die Ordnungsliebenden ausschalten und die Pflichtgetreuen bekämpfen, er würde die Grundsätze der großen Herrscher Tang und Wu verletzen und die Verbrechen der Tyrannen Giä und Dschou Sin befördern. Das einzige Mittel, wodurch man die unordentlichen und pflichtvergessenen Elemente in Schranken halten kann, ist, sie zu bestrafen. Das einzige Mittel, wodurch man die ordnungsliebenden Elemente und die Pflichttreuen befördern kann, ist, sie zu belohnen. Läßt man nun die Ordnungswidrigen und Pflichtvergessenen gewähren, so liegt in diesem Gewährenlassen eine Belohnung. Läßt man die Ordnungsliebenden und Pflichttreuen in untergeordneter Stellung, so bestraft man sie eben durch diese Nichtbeachtung. Wenn man aber die Schlechten belohnt und die Guten bestraft, so dürfte es schwer fallen, die Leute zur Ordnung zu bringen. Darum ist unter allen Dingen, die die Welt verwirren und den Menschen schaden, diese Theorie am schlimmsten.

Quelle:
Chunqiu: Frühling und Herbst des Lü Bu We. Düsseldorf/Köln 1971, S. 84-86.
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